Von Christina Pletzer und Peter Wissmann

Greti Burgerländer und ihr Mann Thomas sind in den fünfzig Jahren ihrer Ehe viel gereist. «Wir haben die halbe Welt und noch mehr gesehen», sagt Greti. Auch in diesem Jahr soll es wieder einen Urlaub geben. In ferne Länder zieht es die beiden nicht mehr, seit sie älter sind und Greti Probleme mit ihrem Gedächtnis und mit der Orientierung hat.

Am Wochenende erhält das Paar Besuch von alten Freundinnen. Als sie in dem Gespräch auf die diesjährige Urlaubsplanung kommen, berichtet Thomas, dass er zwei Tage zuvor eine einwöchige Reise für sich und Greti in die Schweiz gebucht hat. «Da passt alles und es ist auch nicht so weit weg von hier», sagt er.

Warum hat Thomas nicht mit ihr darüber gesprochen?

Greti wird unruhig. Wieso weiß sie nichts davon? Sie wollte doch mit Thomas schon seit Längerem über den Urlaub sprechen, sie hatte sogar schon einen Vorschlag. Leider hatte sie immer nur vergessen, ihn darauf anzusprechen.

«In die Schweiz?», fragt sie etwas verstört? «Ja, antwortet Thomas, «da werden wir ein ganz schönes Hotel haben und das wird dir sehr gut gefallen! Da ist alles genau so, wie du es magst.» Die Gäste finden die Idee gut. Sie selbst hatten auch schon über eine Reise in die Schweiz nachgedacht.

Es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch zwischen Thomas und den Gästen. Greti macht mehrfach vergeblich einen Versuch, sich in das Gespräch einzuschalten. Entweder beachtet sie aber niemand  oder Thomas legt beruhigend seine Hand auf die ihre und sagt: «Ja, ja, ich weiß. Du wirst schon sehen, das wird ein toller Urlaub.»

Das ist eine typische Situation, wie sie betroffene Menschen immer wieder berichten. Irgendwann erleben sie, dass jemand anderes – meist die nahestehende Person – Entscheidungen trifft, ohne die andere zuvor darüber zu informieren oder mit ihr darüber zu sprechen. Und so wie Greti wären auch sie durchaus gut in der Lage, an solchen Entscheidungen mitzuwirken – so wie es vermutlich jahre- oder jahrzehntelang ganz normal gewesen ist.

Thomas hat es nicht böse gemeint. Sein Anliegen war nur, einen Urlaub zu buchen, der für beide passt. Vielleicht ist es ihm einfach zu anstrengend gewesen, den Urlaub gemeinsam mit seiner Frau zu planen. Vielleicht dauert so etwas heute deutlich länger als früher und er fühlt sich ohnehin schon ziemlich gestresst.  Wer könnte das nicht verstehen! 

Wenn Menschen mit Demenz aus dem Gespräch fallen 

Aber für Greti ist das eine von vermutlich immer öfter auftretenden Erfahrungen der schleichenden Entmündigung. Und das tut weh! An dem Gespräch über Urlaubsplanungen am Wohnzimmertisch kann sie nicht mehr wie früher teilnehmen. Aber nicht, weil sie nichts zu sagen hätte oder keine Sätze mehr hervorbringen könnte. 

Doch niemand achtet darauf, dass sie langsamer im Sprechen geworden ist und oft erst nach Wörtern suchen muss. Da hat sie kaum noch Chancen, sich aktiv in eine Unterhaltung einzubringen. Ihr Mann ist so vertieft in das angeregte Gespräch mit den Besucherinnen, dass er nicht auf die Idee kommt, seine Frau immer wieder anzusprechen und ihr die Möglichkeit zu geben, Anschluss zu finden. So bleibt Greti nur das Erleben, nicht mehr für voll genommen, ausgeschlossen, überrollt und entmündigt  zu werden. 

Ich würde nie etwas entscheiden, einen Autokauf, eine Urlaubsbuchung oder was auch immer, ohne Yasemin einzubeziehen. Das ist immer noch unsere gemeinsame Angelegenheit. Wir hatten es gerade mit dem Thema Wohnen. Ich könnte mir vorstellen, später einmal etwas weiter südlich als jetzt zu wohnen. Yasemin hat damit aber Probleme. Also werden, wir nicht in den Süden ziehen, sondern gemeinsam eine andere Lösung finden. 
– Frank Aicher 

Oft verstummen Menschen, die dergleichen erleben, irgendwann. Dieses Verstummen wird von anderen als Zeichen eines fortschreitenden Abbaus von Fähigkeiten interpretiert. Das führt dazu, dass noch stärker anstelle der betroffenen Person gesprochen und diese immer weniger in Gespräche und Entscheidungen einbezogen wird. Dabei verstummt die Person nur deshalb, weil sie resigniert hat. 

Person mit Vergesslichkeit & Co.: Widerspruch einlegen!

  • Wir haben es hier nicht mit bösem Willen zu tun. Solche Situationen entstehen meistens aus Unaufmerksamkeit. Aber es ist wichtig, solche Dinge nicht einfach mit sich geschehen zu lassen, sondern frühzeitig Widerspruch einzulegen.
  • Suchen Sie das Gespräch mit Ihrer oder mit Ihren Zugehörigen – nicht nur, wenn Sie eine Erfahrung wie Greti machen, sondern auch vorher, sozusagen präventiv. Sagen Sie Ihrer Gesprächspartnerin, dass Sie Angst vor schleichender und unbewusst erfolgender Entmündigung haben und dem vorbeugen möchten.
  • Tauschen Sie sich über Ihre jeweiligen Ängste und Gefühle aus und versuchen Sie, zu einer Vereinbarung für die Zukunft zu kommen. Denken Sie gemeinsam über ein Frühwarnsystem nach, das anzeigt, wenn sich etwas in eine nicht erwünschte Richtung zu entwickeln scheint. Regelmäßige Gespräche und Statusabfragen (»Wie war das für dich in den letzten Wochen?») können dabei helfen.
  • Sprechen Sie mit den für Sie wichtigen Personen über Ihr Tempo und Ihre sprachlichen Beeinträchtigungen. Machen Sie deutlich, dass Sie ihretwegen keinesfalls in Gesprächen übergangen oder davon ausgeschlossen werden möchten. Machen Sie klar, dass Sie weiterhin aktiv daran teilhaben wollen. Sie sind kein anderer Mensch als zuvor! 
  • Fordern Sie dafür Unterstützung von Ihren Zugehörigen ein. Das könnte bedeuten, Sie in Gesprächen immer wieder direkt darauf anzusprechen, Ihnen die Zeit einzuräumen, die Sie brauchen, wenn sie etwas sagen und beitragen wollen – oder regelmäßig in Gesprächsrunden nachfragen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist. 
  • Es kann sinnvoll sein, ein Zeichensystem zu vereinbaren. So könnten Sie beispielsweise immer auf den Tisch klopfen oder sich laut räuspern, wenn Sie etwas sagen möchten.
  • Vermutlich wird es Ihnen nicht nur um die Teilnahme an Gesprächen,  sondern auch um die Einbeziehung in Entscheidungen gehen. Hier gilt ebenfalls: Machen Sie Ihren Willen deutlich, weiterhin an Entscheidungen beteiligt zu sein. Auch hier muss auf Ihr Tempo eingegangen und in Kauf genommen werden, dass bestimmte Entscheidungsprozesse etwas länger als früher dauern.
  • Falls Sie nur in bestimmte Entscheidungen einbezogen sein möchten, klären Sie mit Ihrer Zugehörigen, welche das sind und welche nicht. So gewinnen Sie beide an Sicherheit.
  • Gehört werden, in Gespräche und Austausch eingebunden sein, an Entscheidungen mitwirken: Das sollte nicht nur für Ihr engeres Umfeld gelten. Machen Sie das auch in anderen Zusammenhängen klar – sei es der Ärztin gegenüber, im Einkaufsladen oder am Serviceschalter Ihrer Krankenkasse.

Zugehörige: Liebevolle Fürsorge kann zu schleichender Entmündigung werden

  • Als zugehörige Person ist es normal, dass Sie sich Sorgen machen, wenn die Ihnen nahestehenden Person vergesslicher wird, nicht immer gut orientiert ist oder sprachlich nicht mehr mit Ihnen mithalten kann. Es ist verständlich, wenn Sie sich ihr gegenüber deshalb fürsorglicher verhalten als zuvor. 
  • Machen Sie sich aber die Gefahren bewusst, die daraus erwachsen können. Was für Sie liebevolle Fürsorge ist, kann von der anderen Person auch als schleichende Entmündigung empfunden werden. Das wird vermutlich über kurz oder lang zu Konflikten führen und Auswirkungen auf Ihre Beziehung  haben.
  • Stellen Sie sich vor, wie es Ihnen gehen würde, wenn Sie die betroffene Person wären.
  • Machen Sie sich klar, dass der Rückgang kognitiver oder sprachlicher Fähigkeiten nicht bedeutet, dass diese verschwinden. Die andere Person kann beispielsweise immer noch sprechen, nun aber vielleicht langsamer, lückenhafter oder mit größerer Anstrengung als zuvor. Das kann für Sie als Zugehörige anstrengend sein. Versuchen Sie sich dennoch dem verständlichen Impuls zu  widersetzen, immer öfter für die andere oder an ihrer Stelle zu sprechen. Vermeiden Sie es auch, Entscheidungen allein zu treffen oder der anderen Person Handlungen abzunehmen, weil das schneller geht.
  • Beobachten Sie aufmerksam Ihr Verhalten. Schleichen sich unbemerkt Verhaltensweisen ein, die von der anderen Person als entmündigend empfunden werden könnten? 
  • Suchen Sie das Gespräch mit der Ihnen nahestehenden Person. Fragen Sie nach, wie diese die Situation empfindet, was ihr auffällt und was sie sich wünscht. Machen Sie deutlich, wie Ihr Erleben und Ihre Gefühle ausschauen. Versuchen Sie, für beide Seiten passende Vereinbarungen für Alltagssituationen zu finden.
  • Sie werden manchmal erleben, dass andere Personen sich dem Ihnen nahestehenden Menschen gegenüber respektlos, achtlos und entmündigend verhalten. Wenn beispielsweise die Ärztin oder eine Beraterin oder Ihre Abendgäste die andere Person ignorieren und nur mit Ihnen sprechen: Schreiten  Sie ein und machen Sie gemeinsam deutlich, dass Sie ein solches Verhalten nicht akzeptieren! 

Bauchschmerzen führten zu einem Rollentausch

Richard Taylor, der mit einer Alzheimerdiagnose lebte, berichtete die folgende Geschichte: Eines Tages hatte seine Frau Linda unerträgliche Bauchschmerzen, die lange anhielten. Richard und Linda waren allein zuhause, also rief Richard den Krankenwagen und begleitete seine Frau in die Klinik. Während sie untersucht wurde, kamen Klinikmitarbeiterinnen zu ihm und befragten ihn ausführlich zu  den Beschwerden seiner Frau und zu allem, was ansonsten in diesem Moment wichtig war.

Als er später mit seiner Frau die Klinik wieder verlassen durfte, besprach das Personal mit ihm den Befund und alles, was zuhause zu tun war. Lassen wir dazu Richard sprechen:

Erst als wir wieder zuhause waren, wo mich alle kennen und alle von meiner Erkrankung wissen, erfasste ich die volle Bedeutung dieses Erlebnisses. Daheim wurde ich behandelt, als hätte ich den Termin im OP-Zentrum verschlafen und wäre überhaupt nicht mit dabei gewesen. Was war dort gemacht worden? Wie war es gelaufen? Meine Schwiegertochter wurde zur bevorzugten Informationsquelle. Die Leute riefen sie an und redeten mit ihr. Sie kamen zu  Besuch und blickten ihr in die Augen. Niemand zweifelte ihre Worte an.
– Richard Taylor 

Eine Person, die mit Vergesslichkeit & Co. lebt, läuft Gefahr, von ihrer Umwelt nicht mehr als vollwertige Kommunikationspartnerin betrachtet zu werden. Weil die Mitarbeiterinnen des Rettungsdienstes und der Klinik nichts von einem Label «Alzheimer» wussten, sondern vor sich einen kompetenten Menschen und Ehemann sahen, ist alles so gut verlaufen, wie es im Fall von Richard und seiner Frau der Fall war.

Darum: Frühzeitig und kontinuierlich gegensteuern!

Auf der Website www.demenz-ratgeber.at können Sie das Arbeitsblatt «Vorbereitung auf Gespräche Betroffene – Zugehörige» herunterladen.

Dieser Text stammt aus dem 2022 erschienenen Buch «Das Leben meistern mit Vergesslichkeit, ‘Demenz’ & Co.» von Christina Pletzer und Peter Wissmann. Wir bedanken uns bei den Autor:innen für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.