Dass ich immer erschöpfter wurde, merkte ich nicht. 2019 öffnete neben uns eine Tagespflege-Einrichtung. Mein Vater war erst dagegen, aber ich setzte mich durch. Jetzt haben wir einen klaren Tagesplan.
Ich bringe meine Mutter morgens hin, koche, mache den Haushalt, hole meine Mutter um 15.00 ab und unternehme etwas mit ihr.
Ab 17.30 Uhr habe ich frei. Jetzt bin ich bei meinem Vater angestellt für 15 Euro die Stunde. Dass ich mal als Haushaltshilfe enden würde, hätte ich nie gedacht.
Barbara (56): «In die Pflegesituation kommt man schleichend»
Mein Vater bekam 1969 die Diagnose Schizophrenie. Er war Landwirt, ich bin auf dem Bauernhof aufgewachsen und wurde auch Landwirtin. Ich ging nie von zuhause weg. Als ich meinen Mann kennenlernte, zogen wir hier ein, bekamen drei Kinder und führen seitdem den Hof gemeinsam.
Bis zur Rente arbeitete mein Vater in einer Behindertenwerkstatt. Lange Zeit verhielt er sich recht normal, aber dann musste ständig jemand da sein. Fühlte er sich alleingelassen, wurde er unruhig und wütend, rastete aus. Meine Mutter und ich versorgten ihn gemeinsam.
Bis zum dritten Kind arbeitete ich zusätzlich noch einige Stunden pro Woche in einem Büro einer Landmaschinenfirma, später organisierte ich Kindergeburtstage auf dem Bauernhof. Meine anderen Jobs halfen mir sehr, mich von der Pflege meines Vaters abzulenken.
Man erfährt Anerkennung, während das Helfen in der Familie oft als Selbstverständlichkeit angesehen wird.
Ich absolvierte damals einen Pflegekurs für Angehörige in einem Krankenhaus, den zahlte die Kasse. Das hat mir enorm geholfen. Denn in die Pflegesituation kommt man schleichend und muss sich durchwurschteln.
Ich musste aber meinen Bürojob aufgeben, weil die Versorgung meines Vaters mehr Zeit in Anspruch nahm. 2011 wurde mein Vater immer unberechenbarer. Einen Tag war er ruhig und lieb, am anderen wütend, unruhig und aggressiv.
Meine ältere Tochter – damals erst 17 – wurde zudem schwanger. Ich wollte ihr ermöglichen, dass sie weiter zur Schule gehen kann und ich mich um das Baby kümmere. Sie und ihr Freund zogen bei uns ein. Ich hätte es zeitlich mit dem Kind nicht mehr geschafft, mich um meinen Vater zu kümmern. Auch meiner Mutter fiel es zunehmend schwerer.
Bekannte fragten entsetzt: Wie könnt ihr Euren Vater in ein Pflegeheim abschieben?
Natürlich war die Entscheidung nicht leicht. Ich habe mit einem Pastor über meine Zweifel gesprochen. Er sagte zu mir: «Ihren Vater haben Sie schon viel unterstützt. Jetzt müssen Sie die unterstützen, die das meiste Leben noch vor sich haben.» Im Nachhinein weiss ich, dass das die beste Lösung war.
Ich besuchte meinen Vater abwechselnd mit meiner Mutter und blieb anderthalb Stunden. Ich habe mir gesagt: Wenn ich hinfahre, mache ich etwas Schönes mit ihm. Und wenn er dazu keine Lust hat, gehe ich wieder und überlasse ihn den professionellen Pflegenden.
Endlich war ich nicht mehr dem Druck ausgesetzt, den ich zu Hause mitunter gespürt habe. Je öfter man als Angehöriger den Betroffenen besucht, desto besser. Denn dann ist man präsenter und mir schien, die Pflegenden haben sich dann auch mehr um ihn gekümmert. So ging das bis 2014, dann ist mein Vater gestorben.
In unserer Gesellschaft sollte viel offener über das Thema gesprochen werden.
Wir alle haben nur ein Leben. Früher war die Lebenserwartung nicht so hoch wie heute. Die Generation, die sich heute um ihre Eltern kümmert, ist daher zeitlich viel länger eingespannt, wenn sie sich um ihre Eltern kümmert. Das kann enorm belasten.
Ich arbeite nach wie vor auf unserem Hof und nebenbei 14 Stunden die Woche in einem Altenheim. Die Arbeit mit den Senioren macht mir unglaublich Freude. Ich würde gerne mehr, schaffe das aber zeitlich nicht.
Auch meine Mutter benötigt jetzt Pflege, weil sie körperlich geschwächt ist. Ich sage ihr aber: Wir schauen, wie lange ich und wie viel ich Dich unterstützen kann. Es ist keinem geholfen, wenn man ein Pflege-Burnout bekommt.
Karrierecoach (49): «Das Verheimlichen kostet Energie»
Als mein Mann vor drei Jahren die Diagnose Alzheimer bekam, war das natürlich ein Schock. Mit 53 war er ja noch so jung! Ich hatte mich neun Jahre zuvor mit einer kleinen Agentur selbstständig gemacht.
Mein Job war meine Rettung und er ist das, was mir immer wieder Kraft gibt. Ich war froh, dass ich selbstständig war. So konnte ich meine Termine besser an den neuen Alltag anpassen. Hart war der finanzielle Druck.
Wir haben drei Kinder und wussten nicht, was auf uns noch zukommt.
Eine Finanzberaterin sagte mir: Geben Sie mir Ihre Kontoauszüge und die von Ihrem Mann und ich sage Ihnen, wie viel Sie pro Monat abheben dürfen. Das waren 200 Euro pro Woche. Zu wissen, wie viel ich ausgeben darf, ohne in die Miesen zu rutschen, beruhigte mich.
Ich erzählte sofort meinen Mitarbeitern von der Diagnose, den Lehrern meiner Kinder, Freunden und Bekannten. Das Verheimlichen kostet Energie, die man dringend an anderer Stelle braucht.
Ich überwand meinen Stolz und lernte, konkrete Hilfe einzufordern.
Zum Beispiel die Söhne meines Mannes aus erster Ehe zu bitten, ihren Papa zwei Wochen zu betreuen. Oder die Mutter der Mitschülerin meiner Tochter zu fragen, ob die beiden zusammen Englisch lernen können.
Ich suchte mir einen Therapeuten. Er sagte: «Sehr gerne. Aber nur unter der Voraussetzung, dass Sie weiterarbeiten.» Er wusste genau, wie viel Kraft das einem geben kann. Nicht nur, weil es einen ablenkt, sondern weil es die Psyche unglaublich stärken kann, wenn man selbst Geld verdient.
Ich arbeite 45 Stunden die Woche. Das klappt gut, weil ich als Selbstständige meine Termine frei legen kann. Zwei Tage bin ich zu Hause, drei Tage in der Agentur.
Ich baute ein Netzwerk aus «Alltagshelfern» auf.
Ich fand sie, wie ich überall nachfragte: An der Supermarktkasse, im Freundeskreis, bei den Nachbarn, über das Internet, etwa Wohnen gegen Hilfe. Eine Medizinstudentin wohnt kostenlos bei uns, bekommt Verpflegung und arbeitet dafür zehn Stunden pro Woche. Hausaufgaben mit den Kindern, Kochen, sich um meinen Mann kümmern.
In meinen Beratungen in der Agentur bin ich ungeduldiger und vielleicht sogar zynischer geworden, wenn ich meinem Kunden «Luxusprobleme» unterstelle. Manchmal werde ich dann wütend, erst auf die Kunden, dann auf mich. Die anderen haben ja auch Probleme, auch wenn sie kleiner erscheinen mögen. Ich muss aufpassen, dass ich mich selbst nicht zu wichtig nehme, trotz der Leistung, die ich stemme.