Johanna Constantini: «Menschen brauchen Menschen»

Didi Constantini

Johanna Constantini: »Menschen brauchen Menschen«

Johanna und Didi Constantini Porträt

»Er ist zufrieden, ich spüre kaum mehr Nervosität, Wut oder Trauer, die es früher mehr gegeben hat«, sagt Johanna Constantini über ihren Vater Didi. Bild privat

Johanna Constantini hat ein zweites Buch über die Alzheimer-Erkrankung ihres Vaters Didi geschrieben. demenzjournal sprach mit ihr über geforderte Angehörige, echte Wertschätzung und unterdrückte Emotionen.

demenzjournal: Kannst du dir vorstellen, welche Frage ich dir zuerst stellen werde?

Johanna Constantini: Ja, du willst wissen, wie es meinem Papa geht.

Stört dich das? Fragt dich auch mal einer, wie es dir geht?

Mir wird die Frage, wie es mir geht, oft gestellt, auch von Journalisten. Ich denke, es geht im Bewusstsein der Öffentlichkeit immer mehr in die Richtung: Es geht nicht nur um die Betroffenen, sondern auch um ihre Angehörigen.

Du bist kürzlich zum zweiten Mal Mutter geworden! Wie geht es dir?

Mama zu sein ist wunderbar, mal besser und mal schlechter. Der ganz normale Wahnsinn eben. Bei meinem Papa gibt es jetzt mehr Normalität als Wahnsinn, weil er so gut aufgehoben ist im Heim. Wir sind als Familienmitglieder entbehrlicher geworden, was es leichter macht. Papa freut sich, wenn wir bei ihm sind, aber er fragt nicht nach uns, wenn wir nicht da sind.

Als wir uns das letzte Mal unterhielten, war dein Vater gerade ins Heim gezogen und fing an, sich dort wohlzufühlen. Wie geht es ihm heute?

Er ist zufrieden, ich spüre kaum mehr Nervosität, Wut oder Trauer, die es früher mehr gegeben hat. Er ist in einer Welt angekommen, in die wir zum Teil nicht mehr hinkommen. Er reagiert aber noch stark auf uns und die Pflegenden, einfach mehr über die Körpersprache. Er schläft viel, ist aber im Umfeld des Heims gut orientiert und mobil. In den letzten Tagen war er etwas angeschlagen, weil er einen Infekt hatte.

Jetzt sind wir schon wieder bei deinem Papa. Wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt, bekommt es sehr viel Aufmerksamkeit…

Ja, das erlebe ich oft – vor allem in der Begleitung von Menschen mit Demenz gehen die Angehörigen über ihre Grenzen und weit darüber hinaus. Oft entwickeln sie selbst gravierende Krankheitssymptome. Das Spektrum reicht von Rückenschmerzen über Schlaflosigkeit bis zu Herzrasen. Es ist nichts Verwerfliches, wenn der Schwerkranke mehr Aufmerksamkeit bekommt. Aber irgendwo muss man sich immer wieder sich in Erinnerung zu rufen, dass die Angehörigen entsprechende Kräfte brauchen, um den Kranken zu unterstützen. Wenn der Angehörige zugrunde geht, nützt es niemandem.

Didi und Johanna Constantini

Dietmar «Didi» Constantini begann seine Karriere beim FC Wacker Innsbruck, mit dem er 1978 und 1979 Meister wurde. Später spielte der Innenverteidiger bei LASK Linz, AO Kavala (Griechenland) und dem Wiener Sport-Club. Ab 1987 betreute er als Trainer unter anderem den FC Tirol Innsbruck, den FSV Mainz, Austria Wien und die Nationalmannschaft Österreichs (bis 2011). 2019, nach einem Unfall auf der Brenner-Autobahn, machten er und seine Familie seine Demenzerkrankung öffentlich.

Seine Tochter Johanna berichtete 2020 im Buch «Abseits – aus der Sicht einer Tochter» über das Leben und die Erkrankung ihres Vaters. Als klinische Psychologin forscht und engagiert sie sich für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Im Winter ist ihr zweites Buch »Abseits 2 – Von Lern- und Verlernerfahrungen« erschienen.

Es geht ja nicht nur um die Hauptbetreuungsperson, sondern oftmals um das ganze Familiengefüge, das aus dem Lot gerät. Was rätst du deinen Klienten: Auf welche Weise kann es wieder in den grünen Bereich kommen?

Man muss davon ausgehen, dass es in den orangen Bereich geht – wahrscheinlich jahrelang. Man kann dafür sorgen, vielleicht stunden- oder tageweise in den grünen Bereich zu kommen. Genau deshalb ist es so wichtig, externe Unterstützungsmöglichkeiten zu nutzen, damit man freie Zeiten bekommt. Leider gibt es – zumindest in Österreich – nicht genug finanzierbare Unterstützungsmöglichkeiten.

Was bringt es meinem Papa, wenn ich erschöpft und garstig bin?

Es geht also nicht ohne Nachbarschaftshilfe, ohne die Hilfe von Freunden und Bekannten. Wir waren uns nicht zu schade, Papas Freunde zu bitten, etwas mit ihm zu unternehmen. Wir mussten das zum Glück nicht so sehr forcieren, weil Papas Freunde sehr zuvorkommend sind und ganz viele Ideen haben, was sie mit ihm unternehmen konnten.

Du beschreibst in deinem Buch, wie du im Herbst 2022 selbst ausgelaugt und entkräftet warst. Wie bist du wieder in die Spur gekommen?

Indem ich mich weniger intensiv um Papa kümmerte. Ich war damals hochschwanger und habe tageweise Abstand genommen von ihm. Man blendet gerne aus, dass diese Krankheit sehr lange dauern kann. Deshalb sollte man sich in der Familie absprechen und sagen, wenn man nicht in der Lage ist, jeden Tag auf der Matte zu stehen.

Vielen betreuenden Angehörigen fällt dieser Schritt schwer, weil sie mit ihrem schlechten Gewissen zu kämpfen haben…

Ich habe oft ein schlechtes Gewissen. Aber es ist wichtig, dass ich auch Entscheidungen für mich treffen kann. Was bringt es meinem Papa, wenn ich erschöpft und garstig bin? Ich bin jetzt eine junge Mama, und meine beiden Kinder brauchen meine Energie und Kraft. Und ich weiß, dass mein Papa niemals gewollt hätte, dass wir an seiner Pflege zugrunde gehen.

Papa hat das zwar nie ausgesprochen oder aufgeschrieben. Ich plädiere dafür, dass man mit seinem Ehepartner oder anderen Familienmitgliedern darüber spricht, solange man noch gesund ist oder am Anfang einer Erkrankung steht. Wenn das Gegenüber einmal ausgesprochen hat: »Gebe mich in professionelle Hände«, oder »nimm dir genug Zeit für dich«. Wenn man offen darüber spricht, wird viel wegfallen an schlechtem Gewissen.

Didi Constantini mit Arnautovic, Alaba und Baumgartinger.
Sie gehörten zu den »jungen Wilden«, als Didi Constantini Trainer der österreichischen Nationalmannschaft war: Julian Baumgartlinger (u.a. Leverkusen, Augsburg), David Alaba (Bayern München, Real Madrid) und Marko Arnautovic (West Ham, Inter Mailand).Bilder Markus Kindl

Du siehst jetzt zwei Kleinkinder aufwachsen, während sich dein Papa langsam verabschiedet. Die Parallelen dieser Lebensphasen, die du im Buch aufzeigst, haben mich berührt. Bei vielen Demenz-Experten wird das aber nicht gut ankommen, weil sie finden, dass man Kinder und Menschen mit Demenz unter keinen Umständen vergleichen darf.

Ich weiß, dass dieser Vergleich nicht gewünscht ist. Aber es finden sich viele Parallelen: Beide brauchen Verständnis, Liebe und die Sicherheit, dass ihr Tun in Ordnung ist. Trotzdem setze ich in meinem Buch Menschen mit Demenz sind keinesfalls mit Kindern gleich. Sie eine ganz andere Lebensspanne hinter sich, sie bringen andere Erfahrungswerte und Fähigkeiten mit.

»Es ist erschreckend, wie Kinder von ihren Eltern vorgeführt werden«

In deinem Buch sprichst du das Kinderlied »Poppele« des Duos Bluatschink an. Es nimmt die verniedlichende Sprache aufs Korn, die viele Menschen Kindern gegenüber verwenden. Ist der Vergleich von Menschen mit Demenz und Kindern vielleicht deshalb nicht gewünscht, weil wir auch Kindern nicht auf Augenhöhe begegnen?

So ist es. Das Lied von Bluatschink hat mir dies schon als Kind vor Augen geführt: Dieses Blablabla, sei jetzt brav, dann kriegst den Schnulli! Ich bin jetzt oft auf Spielplätzen, und es ist erschreckend, wie dort Kinder vorgeführt werden. Zum Beispiel die Aussage: »Du bist so schüchtern, schämst du dich denn nicht dafür?« Das Gefühl zu vermitteln, dass jemand sich seiner selbst schämen muss, ist das Schlimmste, was man in diesen ersten Kindesjahren machen kann. Sehr viele Eltern machen es trotzdem. Da braucht man später viel Zeit, um das wieder hinzubiegen.

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Man hört Eltern und auch Pflegende immer wieder sagen: »Du brauchst keine Angst zu haben!« Viele Menschen denken sich nicht viel dabei, aber diese Art von Kommunikation ist respektlos. Sie zeigt auf, dass ich den anderen nicht ernst nehme. 

Sie ist das das Gegenteil von Wertschätzung. Deshalb ist die Begleitung von Kindern eine ebenso spannende Reise wie die Begleitung von Menschen mit Demenz. Sie führt uns vor Augen, womit ich selber Probleme habe. Ich verharmlose etwas, weil ich zum Beispiel nicht damit umgehen kann, dass mein Gegenüber Angst hat.

»Die Gesellschaft neigt momentan dazu, in Extreme zu gehen.«

Du bist nicht nur Mutter und Angehörige eines Menschen mit Demenz. Du hast dich als Psychologin und Autorin vertieft mit solchen Fragen auseinandergesetzt. Welches sind deine wichtigsten Erkenntnisse?

Menschen brauchen Menschen. Diese Erkenntnis kommt auch aus der Entwicklungspsychologie und wird durch die Resilienzforschung bestätigt. Der wichtigste Faktor der psychischen Gesundheit ist, dass Menschen mindestens eine Bezugsperson an ihrer Seite haben. Es kann alles fehlen, aber wenn Menschen liebende Menschen haben, wird viel kompensiert.

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Früher gab es mehr Autorität und Hierarchie. Wir verwenden auf unseren Plattformen gerne den Begriff »Begegnung auf Augenhöhe«. Wie hat sich dies in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich entwickelt? Sind wir heute mehr auf Augenhöhe als früher? 

Ich glaube, es gibt immer mehr Aufklärung. Die alteingesessenen Benimmregeln und Dinge, die vor zwei Generationen noch Normalität waren, sind aber nicht förderlich. Aber es geht in die richtige Richtung. Wir müssen fast ein bisschen aufpassen, dass nicht wieder ein anderes Extrem kommt, und dass man Kindern Entscheidungen überlässt, die sie noch nicht verantworten können. Richard David Precht schreibt in einem seiner Bücher, dass wir heute in jedem Ton einer Flöte Hochbegabung hören. Die Gesellschaft neigt momentan dazu, in Extreme zu gehen. Wir sollten da ein gesundes Mittelmass finden. Mein Papa hat immer gesagt: «Tun wir einfach ein bisschen normal!»

Wie können wir es unterstützen, dass man Menschen mit Demenz vermehrt auf Augenhöhe begegnet?

Wir sollten nicht die Krankheit, sondern den Menschen sehen. Diesen Blick müssen wir schulen. Mein Papa hat auf seinem Weg einen grossen Vorteil: Er stand viel in der Öffentlichkeit und wird immer noch als die Person gesehen, die er war – viel mehr als der kranke Mann, der »komisch« geworden ist.

Du schreibst in deinem Buch auch über die Wut, die wir meist unterdrücken. Dein Vater und deine Töchter können sie ungefiltert herauslassen. Bei vielen Betroffenen und Angehörigen staut sich viel Wut an. Die Wut auf das Schicksal, auf die fehlende Unterstützung, auf die Bürokratie, auf die Stigmatisierung. Wie können wir diese Wut herauslassen und verarbeiten, ohne unsere Mitmenschen zu brüskieren?

Ganz viele Menschen haben primär gefühlte Emotionen, die sie nicht verarbeiten können. Sie legen dann andere Emotionen darüber und wissen nicht mehr, was mit ihnen los ist. Sie sind zum Beispiel traurig und werden aggressiv, weil sie ihre primären Gefühle nicht reflektieren. Wir haben die Chance, mit diesen Emotionen einen Umgang zu finden, wenn wir sie aussprechen. Wenn wir Angehörige und Freunde haben, denen wir uns wirklich öffnen können.

Quelle Krone Sport/YouTube