Wir können wieder ein halbwegs normales Leben führen, aber die Angst bleibt: Werde ich mich doch irgendwann anstecken? Werden sich meine Eltern infizieren, mein Partner, meine Angehörigen? Manchen bereitet das Virus noch aus einem anderen Grunde Sorge. Sie nehmen regelmässig Medikamente und fragen sich: Werde ich die weiterhin bekommen? Denn ein Grossteil der Arzneien wird in China produziert.
Dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Deutschland liegen derzeit keine belastbaren Hinweise vor, die auf eine Einschränkung der Arzneimittelversorgung aufgrund von Produktionsausfällen in Regionen schliessen lassen, die von der Ausbreitung des Coronavirus besonders betroffen sind. Man stehe im engen Austausch mit dem Bundesministerium für Gesundheit und weiteren Akteuren, heisst es im BfArM, um den grenzübergreifenden Verkehr mit Wirkstoffen und Arzneimitteln weiterhin sicherzustellen.
Das Problem von Lieferengpässen gibt es seit Jahren mit steigernder Tendenz. Betroffen sind unter anderem Blutdrucksenker, Magensäureblocker, Schilddrüsenmedikamente und Antidepressiva. «Besonders heftig waren die Engpässe zu Beginn der Covid-19-Pandemie im März 2020», sagt Reiner Kern, Pressesprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA).
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«Die Verunsicherung der Bevölkerung hat zu einem hohen Andrang in den Apotheken und einer verstärkten Nachfrage bei bestimmten Präparaten geführt. Das hat die Liefersituation akut verschärft.» Mittlerweile habe sich die Lage wieder entspannt. Ein Grund dafür sei, dass seit April deutlich weniger Patienten in die Apotheken kommen als im März 2020 und in den Vergleichsmonaten der Vorjahre. Das dürfte teilweise ein Ausgleich der Vorzieheffekte im März sein, so Kern. «Andererseits ist zu befürchten, dass etliche Patienten aufgrund der Pandemie Arztbesuche aufschieben oder ihre medikamentöse Therapie schleifen lassen.»
Ein zweiter Grund ist, dass Apotheken durch eine zeitlich befristete Verordnung für die Zeit der Pandemie mehr Freiheiten haben, von Rabattverträgen der Krankenkassen abzuweichen und fehlende Präparate durch andere auszutauschen, damit die Patienten nicht auf ihre Versorgung warten müssen. In Deutschland sind rund 103 000 Arzneimittel zugelassen. Zurzeit besteht für rund 358 davon ein Lieferengpass.
«Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass dies für die Patienten problematisch ist», sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. «Denn oft gibt es Alternativpräparate mit dem gleichen oder einem ähnlichen Wirkstoff, den die Patienten stattdessen bekommen können.» Schwierig wird es, wenn keine Alternativen zur Verfügungstehen oder wenn bei der Umstellung gesundheitliche Probleme auftreten. In so einem Fall spricht man von «versorgungsrelevanten» Arzneimitteln.
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Betrafen im Jahr 2017 Lieferengpässe «nur» 108 Medikamente, waren es im September 2019 doppelt so viele, nämlich 216. Damals bestand ein Engpass für 57 versorgungsrelevante Medikamente, heute für 127. Er komme sich oft vor wie damals in der DDR, sagt Friedemann Schmidt, der seit 1990 eine Apotheke in Leipzig betreibt. «Lieferengpässe waren vor der Wende die Regel», sagt er. «Deshalb reagieren ältere Patienten gelassener als die Jüngeren.»
Einer von zehn Kunden, schätzt der Apotheker, waren im März 2020 von einem Lieferengpass betroffen. «Unter den Top 10 sind Schmerzmittel, Blutdrucksenker, Säureblocker und Antidepressiva», erzählt Schmidt. Patienten mit einer chronischen Krankheit hätten oft noch einige Packungen zu Hause gehabt, aber wenn das Medikament nach einer Woche nicht geliefert war, musste eine Alternative her.
Zwar hat sich die Situation entspannt, aber das Problem der Lieferengpässe besteht nach wie vor. Als Alternative sucht der Apotheker ein Generikum. Schwierig wird es, wenn es das nicht gibt. Dann bittet Schmidt den Arzt, die Therapie umzustellen. «All das dem Patienten zu erklären, kostet Zeit und ist frustrierend», sagt der Apotheker. Vor allem jüngere Kunden zeigten oftmals kein Verständnis. «Sie schiebendie Schuld auf uns Apotheker und können nicht verstehen, warum in einem so reichen Land wie Deutschland Medikamente fehlen.»
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Manche würden sich verbal aggressiv verhalten. Für neun von zehn Apothekern, so eine Umfrage der ABDA, gehören Lieferengpässe zu den grössten Ärgernissen im Berufsalltag – 2016 sagten das lediglich drei von zehn. Fast zwei von drei Apothekern wendet inzwischen mehr als 10 Prozent der Arbeitszeit dafür auf, bei Engpässen nach einer Lösung zu suchen.
Es gibt nicht immer eine einfache Alternative.
So Wolfgang Blank, Allgemeinmediziner im bayerischen Kirchberg. «Vor allem bei schwerem Asthma, Diabetes oder Rheuma ist es schwierig, die Therapie umzustellen. Das kann für einen Teil meiner Patienten problematisch werden.» Lieferengpässe seien ein Missstand, der nicht mehr hinnehmbar sei, sagt Jürgen Schulz, der in einer psychiatrisch-neurologischen Praxis in Siegen arbeitet.
Gerade bei psychisch erkrankten Patienten ist es schwierig, ein Vetrauensverhältnis aufzubauen. «Ich bin jedes Mal heilfroh, wenn wir uns gefunden haben und der Patient versteht, warum er das Medikament regelmässig nehmen sollte.» Schizophreniepatienten seien aufgrund ihrer Krankheit oft misstrauisch und ängstlich. Depressive seien überzeugt, sie wären an allem schuld. «Was meinen Sie, wie die Betroffenen reagieren, wenn ich ihnen sage, dass es ihr Medikament nicht mehr gibt? Das Vertrauen ist dahin.»
Muss Schulz das Medikament für einen Patienten mit Epilepsie umstellen, wie das in letzter Zeit häufiger notwendig war, erhöht sich dessen Risiko für epileptische Anfälle. Ein Patient mit Multipler Sklerose riskiert einen Schub, wenn er sein gewohntes Präparat nicht bekommt. «Als Arzt möchte man manchmal darüber verzweifeln, dass das in einem angeblich perfekten Gesundheitssystem passiert.»
Gründe für Lieferengpässe gibt es viele.
Ein Wirkstoff oder ein anderer Grundstoff wird zu spät geliefert oder die Produktion stockt, weil es an einem Hilfsstoff oder an Packmitteln mangelt. Manchmal fällt eine gesamte Produktionsstätte aus, so wie 2016 in China. Dort explodierte eine Fabrik, in der ein Grossteil des Antibiotikums Piperacillin hergestellt wurde.
Weil die Ärzte dann Alternativ-Medikamente verschreiben, besteht die Gefahr, dass es auch bei diesen zu Engpässen kommt. Eine andere chinesische Firma hatte 2018 ihren Produktionsprozess umgestellt. Dabei wurde der Blutdrucksenker Valsartan mit einem potentiell krebserregenden Stoff verunreinigt. Die Charge musste zurückgerufen werden und Valsartan war monatelang nicht lieferbar.
Auch kaputte Maschinen oder die vorübergehende Stilllegung eines Werks können die Produktion stoppen. Für Wolf-Dieter Ludwig zählen die Monopolisierung auf wenige Hersteller und die Verlagerung der Wirkstoffproduktion nach China und Indien – weil das billiger ist – zu den wesentlichen Gründen.
«Es gibt dort aber oft nur einen oder zwei Hersteller für das betreffende Arzneimittel», sagt Ludwig. «Kommt es dann zu Problemen bei der Produktion oder in der Lieferkette, ist sofort das ganze Arzneimittel nicht mehr verfügbar.»
Ein weiterer Grund ist der Re-Export von Arzneimitteln aus Deutschland in Länder, in denen die Pharmafirma höhere Preise erzielen kann.
In den Krankenhäusern sei man bisher «haarscharf am Abgrund vorbeigekommen», sagt Frank Dörje, Leiter der Krankenhausapotheke an der Uniklinik Erlangen und Präsident des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker ADKA. Fast täglich standen er und seine Kollegen in anderen Kliniken in der Hochzeit der Pandemie vor dem Problem, ein Medikament nicht zu bekommen.
Die Spanne reicht von Infusionen gegen Krebs oder Infektionen über Allergie-Notfallsets bis zu Kortison für Neugeborene oder lebenswichtige Hormone. «Glücklicherweise haben wir bisher immer noch eine Lösung gefunden», sagt er. «Aber das kostet enorm Zeit und stresst die Mitarbeiter. Denn wir müssen immer im Voraus einschätzen, was vielleicht morgen fehlen könnte.»
Auch wenn Lieferengpässe bisher selten bedrohlich waren: Finanziell sind sie schon jetzt ein Problem. Zwischen 1126 und 14 512 Euro kostet es, eine Behandlung umzustellen, wie eine Studie mit 13 Krankenhäusern zeigte. «Wir haben jetzt einen Mitarbeiter, der sich nur um die Engpässe kümmert», erzählt Dörje – «und zwar Vollzeit.»
Man müsse sich in Europa grundlegende Gedanken machen über die Arzneimittel-Versorgung der Zukunft, sagt er. «Muss alles immer billiger werden? Eigentlich sollten Medikamente mehr kosten, damit die Lieferketten stabiler werden und Patienten sich sicher sein können, dass sie ihr Medikament bekommen.» Für ihn sei die Konsequenz klar: Die Produktion von versorgungsrelevanten Wirkstoffen möglichst rasch wieder nach Europa zu holen. «So, wie es jetzt ist, müssen wir täglich damit rechnen, dass jedes Medikament jederzeit knapp werden kann.»
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