»Wir können den Stress umarmen« - demenzjournal.com

Resilienz und Achtsamkeit

»Wir können den Stress umarmen«

Achtsamkeit Meditation Pflegen Pflegefachperson

Pflegende von Menschen mit Demenz sind oft grossem Druck ausgesetzt. Umso mehr sollten sie für ihren Körper und ihr Bewusstsein sorgen. Bild Shutterstock

Bei der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz ist Achtsamkeit gefragt. Doch wie gelingt es uns, in schwierigen Situationen die Ruhe zu bewahren und angemessen zu handeln? Der Achtsamkeits- und Glücksforscher Alexander Hunziker zeigt, wie es gelingen kann.

demenzjournal: Haben Sie heute schon Ihre Achtsamkeit geübt?

Alexander Hunziker: Ja, ich habe Yoga gemacht. Weil ich nicht mehr der Allerjüngste bin, wird die Auseinandersetzung mit dem Körper mehr und mehr zum Thema. So wie man die Zähne putzt, sollte man den ganzen Körper und das Bewusstsein pflegen. Dazu gehört auch, dass man es geniesst, wenn man einen Körper hat, der funktioniert.

Viele Menschen würden gerne jeden Morgen Yoga machen. Sie sagen aber, ihnen fehle die Disziplin dazu. Was raten Sie diesen Menschen?

Dafür habe ich Verständnis. Anfangs war es auch für mich nicht einfach. Ich vermute, ein Schlüssel dazu ist der liebevolle Umgang mit dem Scheitern. Man nimmt sich etwas vor, dann macht man es nicht und ist enttäuscht von sich selbst. Wenn es dreimal nicht gelungen ist, klebt man eine Etikette darauf: »Ich bin untauglich für tägliches Yoga.«  Man bringt sich selbst dazu, dass es nicht geht.

Es wäre eine bessere Idee, freundlich zu sich zu sein und sich darüber zu freuen, wenn es gelingt. Die Leute nehmen sich oft zu viel vor. Es muss keine halbe Stunde Yoga sein, man kann auch mit drei Minuten anfangen. Mir hat es geholfen, dass ich mir vorgenommen habe, morgens keinen Löffel anzurühren, bevor ich nicht mindestens eine Übung gemacht habe. Ich habe gemerkt, dass ich jeden Tag entscheiden kann, wie ich mein Leben gestalten will.

In unserem Kulturkreis ist das Scheitern stigmatisiert. Wir sind von klein auf darauf getrimmt worden, keine Fehler zu machen. Wie können wir besser damit umgehen?

Es ist sehr wichtig, dass wir Fehler verzeihen und kleine Erfolge wertschätzen können. Man kann damit bei anderen anfangen, um es dann auch bei sich anwenden zu können.

Keith Richards, Gitarrist der Rolling Stones, sagte einmal: »Wenn du einen Fehler gemacht hast, solltest du ihn wiederholen.« Wir verhindern Kreativität, wenn wir alles richtig machen wollen…

Ja, wenn wir entspannt mit Fehlern umgehen, kommt Spiel und Neugierde dazu. Es klingt so richtig schräg, das ist doch wunderbar! Genau diese Haltung wäre toll: »Ja, ich wollte heute Morgen Yogaübungen machen. Jetzt sitze ich im Zug und habe sie nicht gemacht. Habe ich denn überhaupt so viel Kontrolle über mein Leben, wie ich das denke? Funktioniere ich nach dem Prinzip Autopilot, kann ich denn gar nicht so viel selbst steuern?«

Sie forschen und dozieren im Themenkreis »Positive Psychologie und Achtsamkeit im Businesskontext«. Wie sind Sie in dieses interessante und exotische Gebiet gekommen?

Ich hatte eine Hirnerschütterung, die permanent Schmerzen verursachte. Sie gingen auch mit stärksten Medikamenten nicht ganz weg. Diese Erfahrung öffnete mich für das Thema. Ich bin dann in Kontakt gekommen mit einem Achtsamkeitstraining, das in der westlichen Welt nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt worden ist. Dieses Training hat mir gutgetan, und ich absolvierte eine Lehrerausbildung darauf. Ich gelangte zur Überzeugung, dass wir das Achtsamkeitstraining unseren Studierenden beibringen müssen, und ebenso Managerinnen und Managern.

Alexander Hunziker Glücksforscher Professor für Achtsamkeit und Resilienz
Alexander Hunziker.Bild PD

Ich kann mir vorstellen, dass es da Berührungsängste gibt bei Führungskräften in der Wirtschaft. Vielen von ihnen finden wohl Atemübungen und Ohms nicht so toll, sie sind ein Teil des okkulten Esoterik-Kirmes…

Ich erlebe die jüngeren Leute als sehr offen. Zurückhaltung sehe ich bei den Babyboomern. Als ich vor einer Leadership-Klasse referierte und fragte, ob jemand regelmässig meditiere, streckte niemand auf. Erst in der Pause kamen die Leute zu mir und sagten, sie würden Yoga oder ähnliche Sachen praktizieren. Es ist ziemlich viel Schweigedruck vorhanden, der aber in den letzten zehn Jahren massiv abgenommen hat. Es wächst eine junge Generation nach, die total offen ist. Vielleicht nicht nur aus Freude oder Neugierde, sondern auch aus einem Leidensdruck heraus. An der Fachhochschule Bern konnte ich vor drei Jahren das erste Mal für alle Bachelors den Kurs »Achtsamkeit und Positive Psychologe« anbieten. Er war sofort voll. Wir öffneten und füllten eine Parallelklasse. Heute könnten wir drei Klassen füllen.

Können Sie die Skeptiker mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überzeugen?

Ich will niemanden überzeugen, sondern ich glaube, die Leute möchten Lösungen für ihre Herausforderungen. Wenn es ihnen hilft, geht die Geschichte weiter – sonst eben nicht. Die Führungskräfte sehen es auf verschiedenen Ebenen. Da ist die persönliche Ebene, vielleicht der persönliche Leidensdruck. Sie stehen unter Druck, sie führen ein Team oder eine gesamte Organisation.

Je nachdem gibt unterschiedliche Dinge, die für sie relevant sind. Manche interessiert es nur, ob es Kosten spart. Dann könnte ich die Geschichte von einem US-amerikanischen Spital erzählen, wo man Trainings gemacht hat mit den Mitarbeitenden. Der Personalwechsel nahm massiv ab, was viel Kosten sparte. Die Stürze der Patienten und die Fehlmedikationen gingen auch zurück.

Hat Sie die Anfrage, am Demenzkongress zu referieren, überrascht?

Ein bisschen überrascht war ich – der erste Gedanke war: Kann ich etwas beitragen? Ist der Zusammenhang stark genug, oder wollen die jetzt einfach jemanden, der über Achtsamkeit spricht, weil das cool ist? Mittlerweile weiß ich, dass es hervorragend passt. Es geht um die Herausforderungen, die Pflegefachperson erleben mit demenzkranken Menschen. Es geht um die Fähigkeit, im Moment zu leben – und um die moralischen Schwierigkeiten, die es in der Pflege auszuhalten gibt. Dass man in Frieden kommt mit schwierigen Dingen, die sich nicht ändern lassen.

Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema Demenz?

Ich kenne niemanden direkt, der diese Krankheit hat. Ich habe aber erlebt, wie mein krebskranker Vater manchmal nicht mehr bei Sinnen war. Ich konnte zwar mit ihm sprechen, aber er war in diesem Zustand ein anderer Mensch. Er erholte sich zum Glück nach ein paar Tagen wieder und konnte mit klarem Geist Abschied nehmen. 

In der Pflege herrscht grosse Personalnot, und die Kosten laufen aus dem Ruder. Pflegende, von denen die meisten ihren Beruf auch aus Idealismus gewählt haben, kommen in grosse Konflikte. Sie können die Patienten oft nicht mehr angemessen betreuen und pflegen. Was raten Sie diesen Pflegenden?

Zunächst können sie vielleicht erkennen, dass es eine schwierige Lage ist und Selbstmitgefühl praktizieren. Als nächstes können sie hinschauen, wo sie Mitverursachende sind. Wenn man unter Stress steht, nimmt man die Welt oft nicht mehr so wahr, wie sie ist.

Man ist nicht mehr achtsam.

Ja. Aber wenn ich jetzt sage, ihr müsst jetzt einfach achtsam sein und ein paar Mal tief durchatmen, ist es nicht hilfreich. Wenn es so einfach wäre, würde man es ja längst machen. Man könnte aber den Weg der Reflektion beschreiten. Vielleicht beantworte ich die Frage besser mit einer Analogie: Als Jon Kabat-Zinn sein Programm der Achtsamkeit entwickelte, kamen austherapierte Schmerzpatienten zu ihm. Die Schulmedizin bot ihnen keine Möglichkeit mehr, die Schmerzen zu lindern. Er sagte zu ihnen: »Die Schmerzen werden bleiben, und ich kann euch nur damit helfen, dass ihr besser damit klarkommt.« Bei den Leuten, die sich auf sein Achtsamkeitstraining eingelassen haben, gingen die Schmerzen um 30 bis 70 Prozent zurück. Ich glaube, dass es sich mit dem Stress gleich verhält.

Jon Kabat-Zinn im Gespräch mit der Philosophin Barbara Bleisch

Quelle SRF/YouTube

Es ist also nicht hilfreich, wenn wir den Stress und das schwierige Umfeld als Feinde wahrnehmen, die wir vertreiben müssen…

Wir können den Stress nicht wegmachen, wir sollten ihn umarmen. Das ist ein vielversprechendes Tor, durch das wir gehen können. Das schliesst aber nicht aus, dass es für jemanden auch besser sein kann, den Job zu wechseln.

Wie soll eine Institution oder eine Firma vorgehen, wenn sie eine Kultur der Achtsamkeit einführen will?   

Man kann dem Personal die Möglichkeit zu geben, eine Nase voll zu nehmen. Es ist so, wie wenn man das erste Mal ins Schwimmbad geht. Man taucht die Füsse ins Wasser, später geht man mit Schwimmhilfen weiter hinein. Man merkt, was Wasser ist, kann aber noch nicht richtig schwimmen.  Ähnlich ist es mit den Achtsamkeits-Übungen. Man kann ein bisschen Kontakt aufnehmen, wenn man es ernsthaft betreibt, wird es tiefer und umfassender.

Achtsamkeit ist eine Haltung und lässt sich nur beschränkt vermitteln. Sie muss in der Institution und von den Vorgesetzten gelebt werden. Sonst funktioniert es wohl nicht.

Ja, es besteht die Gefahr, dass man dem Personal das Meditieren beibringt, damit sie produktiver sind und man noch ein paar Leute mehr wegsparen kann. Meine Erfahrung ist aber eine andere: Wenn die Leute wirklich mit sich selbst in Verbindung kommen, sehen und respektieren sie auch ihre Grenzen.

Die Herausforderung besteht darin, sich trotz Druck so zu verhalten, als ob man nicht unter Druck wäre.

Sie sagen dann auch zu ihren Vorgesetzten: »Für mich ist das und das wichtig, wir sollten es jetzt so machen – und wenn wir das nicht machen können, dann muss ich mir etwas anderes suchen. Mein Leben ist mir zu wichtig, um mich hier kaputt zu machen.« Natürlich müssen die Führungskräfte auch diese Klarheit haben – die braucht es, um in einen konstruktiven Dialog zu kommen.

Die Führungskräfte sind auch unter Druck. Die Pandemie und die Energiekrise haben die Kosten in die Höhe getrieben. Den Stress, den sie haben, überträgt sich dann wohl auf die Mitarbeitenden.

Wenn man unter Druck ist, geht die Kreativität zuerst von Bord. Die Herausforderung besteht darin, sich trotz Druck so zu verhalten, als ob man nicht unter Druck wäre. Es braucht die Fähigkeit, Dinge und Situationen freundlich zu betrachten, die unangenehm sind. Wenn man Achtsamkeit praktiziert, übt man das täglich. Nach ein paar Wochen und Monaten macht es einen grossen Unterschied.

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Ich habe den Eindruck, dass die Probleme des Gesundheitswesens und der Pflege teilweise hausgemacht sind. Neue Ansätze und mehr Kreativität bei der Personalplanung könnten zum Beispiel die Attraktivität des Pflegeberufes verbessern. Haben Sie Ideen, wie die Institutionen dies angehen könnten?

Solche Konzepte gehören weniger in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich sehe aber Beispiele, wo gute Entwicklungen möglich wurden, weil die Leute anders mit Herausforderungen umgingen und eine neue Kultur entwickelten. Wir untersuchten zum Beispiel die Einführung von Agilität in Unternehmen. Wir stellten fest, dass der psychologische Aspekt total unterschätzt worden war. Jene, die herausgefunden hatten, dass es eine Frage der Kultur ist und sich Zeit gaben, waren erfolgreich. Wenn radikaler Wandel gelingen soll, muss man die psychologischen Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Leute sich tatsächlich darauf einlassen können.


Der Ökonom und Psychologe Alexander Hunziker ist Professor für Wirtschaft an der Berner Fachhochschule. Er unterrichtet und forscht im Themenfeld Positive Psychologie, Achtsamkeit, Resilienz und Glücksforschung.