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Körpergedächtnis

Wir sind mehr als unser Geist

Wir knüpfen unsere Identität ausschliesslich an den Verstand. Das greift zu kurz. Michael Hagedorn

Der Fokus auf den Verstand stigmatisiert Menschen mit Demenz. Was macht das Selbst eigentlich aus? Und wie kann die Erinnerung des Körpers genutzt werden, um dieses Selbst zu stärken?

Von Thomas Fuchs

«Ich habe mich sozusagen selbst verloren», klagte die erste Patientin Auguste Deter, bei der Alois Alzheimer 1901 die später nach ihm benannte Krankheit diagnostizierte. Demenz wirkt besonders bedrohlich, denn sie stellt das infrage, was wir als Grundlage unseres Selbst ansehen: die kognitiven und reflexiven Fähigkeiten.

Eine Person «im vollen Sinn» zu sein ist in westlichen Kulturen gebunden an die Intaktheit dieser Funktionen, also an Rationalität, Gedächtnis und die darauf gegründete Autonomie. Wer seine Kognition verliert, gerät in Konflikt mit zentralen Werten dieser Kulturen. Diese Sicht muss sich auf Menschen mit Demenz stigmatisierend auswirken. Was ist die Alternative zu diesem Menschenbild?

Unser Körper – nur eine Hülle?

Dass wir uns so mit dem Verstand identifizieren, beruht letztlich auf einem dualistischen Konzept von «Person»: Der Körper ist nur der Trägerapparat des Geistes, die Persönlichkeit ist im Denken verankert. «Cogito ergo sum», sagte René Descartes im 17. Jahrhundert – «ich denke, also bin ich».

Doch was tut das denkende Wesen, wenn es einmal nicht mehr denkt?

Wenn es sich dem Schlaf, dem Körper oder dem Vergessen überlässt? Aufklärer John Locke schrieb hierzu:

«Was Schwierigkeiten zu bereiten scheint, ist die Tatsache, dass dieses Bewusstsein stets durch Zustände des Vergessens unterbrochen wird. (…) In allen diesen Fällen, in denen (…) wir unser vergangenes Ich aus den Augen verlieren, erheben sich Zweifel, ob wir dasselbe denkende Ding, (…) dieselbe Substanz sind oder nicht.» (Locke 2006, 420)

Locke löste das Dilemma, indem er erklärte: Die Identität eines Menschen reicht soweit zurück, wie er sich an sein vorangegangenes Ich erinnern kann. Diese Ansicht ist bis heute vorherrschend.

Das wirft jedoch Fragen auf. Was sind wir, wenn wir schlafen, wenn wir noch Säuglinge sind oder demenziell verändert? Wäre unser Selbstsein allein an Gedächtnis und autobiografisches Wissen gebunden, dann wäre dessen Abwesenheit ein Angriff auf den Kern unseres Selbst.

Doch das explizite oder Erinnerungsgedächtnis, auf das sich John Locke bezog, ist nicht die einzige Möglichkeit, Kontinuität und Selbst herzustellen.

Wikimedia

Wir sind – auch ohne zu denken

Die meiste Zeit des Tages machen wir uns nicht bewusst, wer wir sind. Wir sind mit uns selbst vertraut, und diese Vertrautheit ist etwas leiblich Gespürtes. Daher ist in jeder Tätigkeit immer auch ein implizites Bewusstsein davon mitenthalten, wer wir sind. Und mehr noch:

Auch unser leibliches Können und Handeln ist Teil unseres Selbst.

Bestimmte Bewegungsabläufe – gehen, sprechen, Klavierspielen – sind uns «in Fleisch und Blut» übergegangen, und sie machen uns mit aus, ohne dass wir dazu über uns reflektieren müssen.

Diese sedimentierten Erfahrungen bilden das implizite Gedächtnis, das Leib- oder Körpergedächtnis, das als gelebte Vergangenheit dem kognitiven Erinnern vorgelagert ist. Wir greifen auf sie zurück, ohne dass wir uns aktiv an entsprechende Situationen erinnern müssen.

Das Körpergedächtnis besteht unter anderem aus diesen Facetten:

  • Das prozedurale Gedächtnis bezeichnet sensomotorische Fähigkeiten: eingespielte Gewohnheiten und Bewegungen, den Umgang mit einem Instrument, aber auch vertraute Wahrnehmungsmuster. Zum Beispiel merken wir uns beim Erlernen eines Klavierstücks nicht die einzelnen Bewegungen der Finger, sondern die Melodie.
  • Das situative Gedächtnis ermöglicht es uns, räumliche Situationen wiederzuerkennen und uns in ihnen zurechtzufinden, etwa in der Wohnung oder dem Quartier. Dabei verbinden sich leibliche Erfahrungen auf besondere Weise mit Orten. Je öfter das geschieht, desto mehr wird dieser Raum erfüllt von einer bestimmten Atmosphäre.
  • Auch die intuitive, non-verbale Kommunikation mit anderen beruht auf körperlicher Erfahrung, dem zwischenleiblichen Gedächtnis. Interaktionsmuster prägen sich schon im Säuglingsalter ein, lange bevor sich das biografische Gedächtnis im zweiten Lebensjahr entwickelt.
  • Schliesslich gehören zum Körpergedächtnis auch die individuellen Haltungen, Ausdrucks- und Verhaltensweisen, die zur leiblichen Persönlichkeitsstruktur eines Menschen geworden sind. Ich spreche hier vom inkorporativen Gedächtnis.

Auf diese Weise erzeugt der Körper mit seinen Gewohnheiten und Erfahrungen eine eigenständige Form des Gedächtnisses.

Bewusstsein und Selbstsein sind kein reines Produkt des Gehirns, sondern Erfahrungen des gesamten Organismus in Beziehung zu seiner Umwelt.

Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty drückte dies so aus: Der Leib ist «geronnene Existenz» – und die Existenz «unaufhörliche Verleiblichung».

Körpergedächtnis und Demenz

Mit diesem neuen Verständnis der verkörperten Personalität ändert sich auch unser Bild der Demenz. An die Stelle einer kognitionszentrierten Perspektive tritt die Sicht des Demenzbetroffenen in seiner individuellen Leiblichkeit.

Wichtiger als die abnehmenden kognitiven Leistungen werden dann die leiblichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen. Denn weite Bereiche des Körpergedächtnisses sind auch in späten Stadien der Erkrankung unbeeinträchtigt. Gerade der Umgang mit Gegenständen wie einer Zahnbürste, Besteck und ähnlichem bleibt lange möglich, auch wenn ihr Name und ihre Funktion nicht mehr genannt werden können.

Die Aufrechterhaltung des Selbst ist zentral

Logopädie bei Demenz

«Das Gefühl ist eine uneinnehmbare Burg»

Wer an Logopädie denkt, denkt meistens an Kinder mit Sprachentwicklungsstörung. Dabei kann eine logopädische Begleitung auch Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen helfen. weiterlesen

Menschen mit Demenz erinnern sich oft problemlos an vertraute Umgebungen, Stimmen, Melodien, Gerüche oder Atmosphären, auch wenn sie sie zeitlich nicht mehr genau lokalisieren können. Solche Eindrücke wecken nicht nur damit verbundene Emotionen, sondern oft auch autobiografische Erinnerungen, die sonst nicht zugänglich sind.

So bildet das situative Gedächtnis eine ökologische Nische der Vertrautheit von Dingen und Situationen.

Sie bestätigt zu finden, fördert das Selbst und das Vertrauen in verbliebene Fähigkeiten. Eine zentrale Aufgabe der Betreuung besteht deshalb darin, Wohnräume entsprechend persönlich zu gestalten.

Eine leibliche Orientierung im Umraum ist grundlegender als die abstrakte Orientierung in Raum und Zeit. Denn sie folgt den primären Richtungen, die der Körper von selbst zur Welt herstellt: oben/unten, vorne/hinten, oder Bezügen wie Stuhl/sitzen, Bett/ausruhen, Tür/hindurchgehen.

Vorausschauende Selbstsorge

Oft wird angenommen, dass Menschen mit Demenz nicht mehr in der Lage sind, ihre Bedürfnisse auszudrücken und nur noch passive Objekte von Entscheidungen und Massnahmen sind. Doch gerade das Körpergedächtnis trägt in frühen und mittleren Stadien der Demenz dazu bei, dass Betroffene ihr Leben aktiv gestalten und sogar eine Kultur der Selbstsorge entwickeln können.

Voraussetzung ist, dass Betroffene die Veränderung annehmen und offen damit umgehen. Nur so können sie sich und andere darauf einstellen, ihre Umwelt und ihre Beziehungen so zu gestalten, dass sie den habituellen, körperlich erfahrenen Dispositionen möglichst lange entsprechen.

Eine vorausschauende Selbstsorge kann darin bestehen,

  • die eigenen Ressourcen leiblichen Wahrnehmens und Könnens gezielt zu pflegen, die nur in geringem Mass auf die Kognition angewiesen sind (musizieren, malen, Garten- oder Handarbeit, Spaziergänge, Sport …);
  • kreativen Aktivitäten auch in der Gruppe nachzugehen, um sich als eine gestaltende, schöpferische und kommunizierende Person wahrzunehmen;
  • die eigene Umgebung bereits im Voraus mit Informationen und Hinweisen zu versehen, damit später wegfallende Gedächtnisleistungen aufgefangen werden können;
  • aktiv ein entgegenkommendes soziales Umfeld mit den ergänzenden Ressourcen zu schaffen, die der Betroffene braucht, um weiterhin in seiner «ökologischen Nische» zu leben.

Fallbeispiel

Frau L. informierte ihre Nachbarschaft (Freunde, Nachbarn, Geschäftsinhaber etc.) über ihre beginnende Demenzerkrankung und gab ihnen Anweisungen, was sie im Fall eines Orientierungsverlusts tun sollten. Wenn Frau L. nicht mehr weiterwusste, war stets jemand zur Stelle, der ihr den Weg wies. So gelang es ihr über Jahre hinweg, trotz fortschreitender kognitiver Einbussen in ihrem Quartier selbständig zu wohnen.

Vor allem Musik spricht in besonderer Weise das leibliche und emotionale Gedächtnis an, ohne dass man auf explizite Erinnerung angewiesen ist. Musik löst spontane körperliche Resonanz aus, stimuliert zum gemeinsamen Tanz oder Gesang und weckt über vertraute Melodien und Liedtexte die atmosphärischen Gefühle früherer Lebensabschnitte – und damit ein Stück persönlicher Geschichte.

Musik ist besonders gut in der Erinnerung verankert

Musikspiegel

Klangspuren des Lebens

Musik und Geräusche können viele Erinnerungen wecken. Das Zürcher Zentrum für Gerontologie hat nun eine Anleitung herausgegeben, wie man Menschen mit Demenz zu … weiterlesen

Körpergedächtnis und Lebensgeschichte

Auch für Angehörige und Betreuer:innen ist das Körpergedächtnis wichtig. Kennen sie die Biografie, persönliche Neigungen und Gewohnheiten der Betroffenen, können Betreuer:innen diesbezüglich Kontinuität und Vertrautheit herstellen. Spaziergänge und Urlaube in vertrauter Umgebung wirken auch dann noch stabilisierend, wenn der Betroffene sich nicht mehr erkennbar an entsprechende Erlebnisse erinnert. Bestimmte Sinnesreize können Atmosphären, Gefühle oder sogar Fähigkeiten wecken, selbst wenn die Erinnerung daran verblasst ist:

Fallbeispiel

Der 78-jährige Herr P. erkannte seine Verwandtschaft demenzbedingt kaum noch. Er wirkte lethargisch, zurückgezogen und körperlich hinfällig. Eines Tages besuchten ihn seine beiden Enkel und spielten vor dem Haus Fussball. Herr P. hatte als Jugendlicher selbst lange in einem Verein gespielt. Nun stand er plötzlich auf und spielte mit den beiden Jungen. Im Kontakt mit dem Ball erschien er wie verwandelt und verjüngt, er zeigte den Enkeln seine Dribbelkünste, demonstrierte verschiedene Balltricks und gab dazu fachmännische Erklärungen. Für eine halbe Stunde war von der Erkrankung nichts mehr zu sehen.

Die Fortdauer des basalen körperlichen Selbsterlebens wird durch solche Beispiele eindrucksvoll belegt. Einmal erworbene Fähigkeiten werden durch passende Situationen reaktiviert, ohne dass dies eine biografische Erinnerung oder explizite Koordination erfordert.

Auf Dauer sind prozedurale Fähigkeiten des Körpergedächtnisses aber nicht gegen die Demenz gefeit. Viele Betroffene verlieren im späteren Verlauf nicht nur biografische Erinnerungen, sondern auch alltägliche Fähigkeiten, so dass selbst eine Zahnbürste zum rätselhaften Gegenstand wird. Doch gerade dann bleibt das zwischenmenschliche Gedächtnis weiterhin erhalten.

Die non-verbale, emotionale und leibliche Kommunikation wird umso wichtiger, je stärker verbal-kognitive Leistungen abnehmen.

Selbst in fortgeschrittenen Stadien gibt der mimische und gestische Ausdruck des Menschen mit Demenz Auskunft über seine Wünsche und sein Befinden. Umgekehrt sind diese Menschen besonders empfänglich für Informationen auf der Gefühlsebene. Sie verfügen immer noch über eine differenzierte Gefühlswelt, Humor und eine mitunter überraschende Schlagfertigkeit.

Einmal gelernte Bewegungen bleiben lange erhalten.Véronique Hoegger

Dieses implizite Beziehungswissen bleibt bis zuletzt erhalten. Menschen mit fortgeschrittener Demenz interagieren nicht durch bewusste Überlegung, sondern auf der Grundlage eines präreflexiven Verhaltensrepertoires.

Zu Unrecht wird das oft als «Aufrechterhalten der Fassade» diskreditiert. Die vertrauten zwischenmenschlichen Umgangsformen erlauben es den Betroffenen vielmehr, Beziehungen zu anderen herzustellen und sich dadurch in ihrer Existenz als Personen zu bestätigen.

Sie erleben ihr körperliches Hier-und-jetzt-Sein ebenso wie ihr Mitsein mit anderen, und zwar vor allem in emotionaler Hinsicht. Sie empfinden Freude und Stolz bei Anerkennung, und selbst Konflikte zeigen, dass sie ihre Eigensphäre von anderen abgrenzen und eigene Bedürfnisse auch mit Heftigkeit artikulieren können. Dieses durchaus persönliche Selbsterleben widerspricht dem Bild, Demenz bedeute den vollständigen Verlust des Selbst.

Wenn wir Selbstsein als primär körperlich verstehen, gelangen wir zu einer anderen Wahrnehmung des Demenzbetroffenen: Er büsst zwar seine Rationalität ein, realisiert sein Personsein aber auf der leiblichen-zwischenleiblichen Ebene, solange er in einer zu ihm passenden räumlichen, atmosphärischen und sozialen Umgebung leben kann.

Orientieren wir unseren Personenbegriff also nicht an der Rationalität und Reflexionsfähigkeit, sondern an der Zwischenleiblichkeit, dann vermeiden wir die Stigmatisierung, die das heute dominierende kognitive Personenbild erzeugen muss.


Quellen
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966.
Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 2006 [1690].