Von Thomas Fuchs
«Ich habe mich sozusagen selbst verloren», klagte die erste Patientin Auguste Deter, bei der Alois Alzheimer 1901 die später nach ihm benannte Krankheit diagnostizierte. Demenz wirkt besonders bedrohlich, denn sie stellt das infrage, was wir als Grundlage unseres Selbst ansehen: die kognitiven und reflexiven Fähigkeiten.
Eine Person «im vollen Sinn» zu sein ist in westlichen Kulturen gebunden an die Intaktheit dieser Funktionen, also an Rationalität, Gedächtnis und die darauf gegründete Autonomie. Wer seine Kognition verliert, gerät in Konflikt mit zentralen Werten dieser Kulturen. Diese Sicht muss sich auf Menschen mit Demenz stigmatisierend auswirken. Was ist die Alternative zu diesem Menschenbild?
Unser Körper – nur eine Hülle?
Dass wir uns so mit dem Verstand identifizieren, beruht letztlich auf einem dualistischen Konzept von «Person»: Der Körper ist nur der Trägerapparat des Geistes, die Persönlichkeit ist im Denken verankert. «Cogito ergo sum», sagte René Descartes im 17. Jahrhundert – «ich denke, also bin ich».
Doch was tut das denkende Wesen, wenn es einmal nicht mehr denkt?
Wenn es sich dem Schlaf, dem Körper oder dem Vergessen überlässt? Aufklärer John Locke schrieb hierzu:
«Was Schwierigkeiten zu bereiten scheint, ist die Tatsache, dass dieses Bewusstsein stets durch Zustände des Vergessens unterbrochen wird. (…) In allen diesen Fällen, in denen (…) wir unser vergangenes Ich aus den Augen verlieren, erheben sich Zweifel, ob wir dasselbe denkende Ding, (…) dieselbe Substanz sind oder nicht.» (Locke 2006, 420)
Locke löste das Dilemma, indem er erklärte: Die Identität eines Menschen reicht soweit zurück, wie er sich an sein vorangegangenes Ich erinnern kann. Diese Ansicht ist bis heute vorherrschend.
Das wirft jedoch Fragen auf. Was sind wir, wenn wir schlafen, wenn wir noch Säuglinge sind oder demenziell verändert? Wäre unser Selbstsein allein an Gedächtnis und autobiografisches Wissen gebunden, dann wäre dessen Abwesenheit ein Angriff auf den Kern unseres Selbst.
Doch das explizite oder Erinnerungsgedächtnis, auf das sich John Locke bezog, ist nicht die einzige Möglichkeit, Kontinuität und Selbst herzustellen.
Wir sind – auch ohne zu denken
Die meiste Zeit des Tages machen wir uns nicht bewusst, wer wir sind. Wir sind mit uns selbst vertraut, und diese Vertrautheit ist etwas leiblich Gespürtes. Daher ist in jeder Tätigkeit immer auch ein implizites Bewusstsein davon mitenthalten, wer wir sind. Und mehr noch:
Auch unser leibliches Können und Handeln ist Teil unseres Selbst.
Bestimmte Bewegungsabläufe – gehen, sprechen, Klavierspielen – sind uns «in Fleisch und Blut» übergegangen, und sie machen uns mit aus, ohne dass wir dazu über uns reflektieren müssen.
Diese sedimentierten Erfahrungen bilden das implizite Gedächtnis, das Leib- oder Körpergedächtnis, das als gelebte Vergangenheit dem kognitiven Erinnern vorgelagert ist. Wir greifen auf sie zurück, ohne dass wir uns aktiv an entsprechende Situationen erinnern müssen.
Das Körpergedächtnis besteht unter anderem aus diesen Facetten:
- Das prozedurale Gedächtnis bezeichnet sensomotorische Fähigkeiten: eingespielte Gewohnheiten und Bewegungen, den Umgang mit einem Instrument, aber auch vertraute Wahrnehmungsmuster. Zum Beispiel merken wir uns beim Erlernen eines Klavierstücks nicht die einzelnen Bewegungen der Finger, sondern die Melodie.
- Das situative Gedächtnis ermöglicht es uns, räumliche Situationen wiederzuerkennen und uns in ihnen zurechtzufinden, etwa in der Wohnung oder dem Quartier. Dabei verbinden sich leibliche Erfahrungen auf besondere Weise mit Orten. Je öfter das geschieht, desto mehr wird dieser Raum erfüllt von einer bestimmten Atmosphäre.
- Auch die intuitive, non-verbale Kommunikation mit anderen beruht auf körperlicher Erfahrung, dem zwischenleiblichen Gedächtnis. Interaktionsmuster prägen sich schon im Säuglingsalter ein, lange bevor sich das biografische Gedächtnis im zweiten Lebensjahr entwickelt.
- Schliesslich gehören zum Körpergedächtnis auch die individuellen Haltungen, Ausdrucks- und Verhaltensweisen, die zur leiblichen Persönlichkeitsstruktur eines Menschen geworden sind. Ich spreche hier vom inkorporativen Gedächtnis.
Auf diese Weise erzeugt der Körper mit seinen Gewohnheiten und Erfahrungen eine eigenständige Form des Gedächtnisses.
Bewusstsein und Selbstsein sind kein reines Produkt des Gehirns, sondern Erfahrungen des gesamten Organismus in Beziehung zu seiner Umwelt.
Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty drückte dies so aus: Der Leib ist «geronnene Existenz» – und die Existenz «unaufhörliche Verleiblichung».
Körpergedächtnis und Demenz
Mit diesem neuen Verständnis der verkörperten Personalität ändert sich auch unser Bild der Demenz. An die Stelle einer kognitionszentrierten Perspektive tritt die Sicht des Demenzbetroffenen in seiner individuellen Leiblichkeit.
Wichtiger als die abnehmenden kognitiven Leistungen werden dann die leiblichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen. Denn weite Bereiche des Körpergedächtnisses sind auch in späten Stadien der Erkrankung unbeeinträchtigt. Gerade der Umgang mit Gegenständen wie einer Zahnbürste, Besteck und ähnlichem bleibt lange möglich, auch wenn ihr Name und ihre Funktion nicht mehr genannt werden können.