«Man sollte immer auf die Individualität eingehen» - demenzjournal.com

Persönlichkeitsforschung

«Man sollte immer auf die Individualität eingehen»

«Die emotionale Kompetenz von älteren Menschen ist bemerkenswert», sagt Jule Specht. Bild PD

alzheimer.ch: Immer mehr Menschen erkranken heute an Demenz. Bedeutet die Krankheit aus Ihrer Sicht einen Verlust der Persönlichkeit?

Jule Specht: Natürlich verlieren die Menschen in gewisser Hinsicht ihren roten Faden, sie können sich an viele Dinge ihres Lebens nicht mehr erinnern, ihr Verhalten wird weniger vorhersehbar. Im allgemeinen Sprachgebrauch würde man da von einem Verlust der Persönlichkeit sprechen.

Als Persönlichkeitsforscherin halte ich aber dagegen: Jeder Mensch hat eine ganz individuelle Persönlichkeit. Durch Demenz kann sich die Persönlichkeit verändern, aber man verliert sie nicht, denn jeder Mensch hat eine Persönlichkeit.

Jule Specht

Jule Specht, 32, ist Professorin für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nebenher ist die Mutter von zwei Kindern auch eine fleissige Bloggerin (zum Beispiel lange Zeit für die Zeitschrift «Psychologie heute»). 2014 erschien ihr Buch «Suche kochenden Betthasen. Was wir aus wissenschaftlichen Studien für die Liebe lernen können». Ihr neues Buch heisst «Charakterfrage. Wer wir sind und wie wir uns verändern» (Rowohlt polaris, 256 Seiten).

Haben Sie im Rahmen Ihrer Forschungen Kontakt zu Menschen mit Demenz?

Nicht direkt. Ich habe mit meiner Arbeitsgruppe eine Untersuchung in Pflegeheimen und betreuten Wohneinrichtungen für ältere Menschen gemacht. Wir haben Befragungen zur Persönlichkeit im hohen Alter durchgeführt.

Dabei haben wir auch mit Menschen gesprochen, die sehr krank und bettlägerig waren, um etwas über ihre Persönlichkeit herauszufinden. Die Hälfte der Befragten hatte Probleme, einfache Merkaufgaben zu bewältigen. Unabhängig davon haben wir aber gesehen, dass man auch bei denen, die leichte kognitive Einschränkungen hatten, sehr gut Persönlichkeitsunterschiede ausmachen konnte.

Manche waren sehr zurückgezogen und blieben in ihrem Zimmer, andere liefen ständig mit ihrem Rollator herum, gingen von Zimmertür zu Zimmertür. Man findet auch unter Menschen mit Demenz unterschiedliche Persönlichkeiten.

Bestimmte Veränderungen im Verhalten sind gerade für Angehörige schwer zu ertragen. Manche Menschen mit Demenz werden aggressiv, äussern Suizidgedanken oder laufen ständig herum. Die Angehörigen dann sagen oft: Ich erkenne dich nicht wieder…

Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass das Symptome der Erkrankung sind. Der oder die Erkrankte ist nicht ein Mensch, der mir Böses tun möchte. Viele Patienten leiden ja sehr stark darunter, dass sie in der ersten Phase selbst beobachten, was mit ihnen passiert, und das hat natürlich auch Einfluss auf ihre Verträglichkeit.

Wenn man das weiss, ist es leichter, das Verhalten des erkrankten Angehörigen zu akzeptieren und nicht in der Haltung zu verharren: Da ist jemand, der mich beschimpft, obwohl ich mein Bestes gebe.

Besteht aber nicht die Gefahr, dass man den erkrankten Angehörigen zu sehr in Raster einordnet, nur noch die typischen Krankheitsmuster sieht?

Sicherlich. Einerseits ist es für das Umfeld wichtig, die typischen Symptome zu kennen, andererseits sollte man immer die Individualität sehen und darauf eingehen. Das macht das gegenseitige Verhältnis deutlich reicher, und der erkrankte Angehörige fühlt sich ernst genommen.

Was bedeutet es für eine Beziehung, wenn einer der beiden Partner an Demenz erkrankt?

Viele Beteiligte wünschen sich, dass alles so ist, wie es immer war, aber das geht eben nicht. Wer sich um den erkrankten Partner kümmert, bekommt plötzlich eine neue Rolle zugewiesen. Diese Rolle muss in der Partnerschaft neu ausgehandelt werden, und dadurch verändert sich die Beziehung.

Man ist nicht mehr nur Partner, sondern da entsteht auch ein Spannungs- und Abhängigkeitsverhältnis.

Manche Paare bewältigen diese Herausforderung gut, andere haben mehr Schwierigkeiten. Hilfreich kann sein, die Pflege mehr nach aussen zu verlagern, indem man Pflegedienste in Anspruch nimmt. Dadurch möchten manche verhindern, dass die Pflege zu sehr in die Beziehung eingreift und der gesunde Partner in Rollenkonflikte kommt, also zwischen Pflegekraft und Partner.

Jule Spechts neues Buch.Bild PD

Viele ältere Menschen verändern ihre Persönlichkeit, ohne dement zu sein. Sie haben über diese Veränderungen intensiv geforscht. Stimmt es, dass Menschen mit dem Älterwerden immer unflexibler werden? Ich denke da an das Klischee der grantigen, starrköpfigen Alten.

Sicherlich gibt es diese Menschen, aber normalerweise stimmt das Klischee nicht. In der Persönlichkeitsforschung sprechen wir von fünf Merkmalen, mit denen wir Menschen beschreiben können, die sogenannten Big Five.

Das sind emotionale Stabilität, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Extraversion, also die Neigung zur Geselligkeit. Wir konnten in Untersuchungen zeigen, dass ältere Menschen ab 60 überraschenderweise verträglicher sind als jüngere Menschen.

Woran liegt das?

Bemerkenswert bei den Älteren ist ihre emotionale Kompetenz: Sie wissen, was ihnen guttut, achten auf gute Beziehungen zu anderen Menschen, sie versuchen sich auf positive Erlebnisse zu fokussieren, den schönen Spaziergang, den Kaffee mit der besten Freundin. Viele können ihre eigenen Grenzen besser anerkennen und hinnehmen als früher.

Ältere Menschen haben eine Expertise mit sich selbst, die Jüngere oftmals noch nicht haben. Dadurch kann erfolgreiches Altern gelingen. Erst später, wenn Menschen sehr alt sind und den Tod vor Augen haben, nimmt die Zufriedenheit normalerweise wieder ab.

Bei älteren Menschen häufen sich oft die Schicksalsschläge: Sie verlieren den Partner, die Freunde, werden gebrechlich oder schwer krank. Wie kommen sie mit den Krisen klar?

Es gibt den erstaunlichen Befund, dass sich diese Faktoren im Alter weniger auf das Wohlbefinden auswirken als im jungen und mittleren Alter. Ältere Menschen können mit einer schweren chronischen Erkrankung oftmals besser umgehen als Jüngere.

Eine junge Frau, die schwer erkrankt, ändert ihre Persönlichkeit stärker als ein alter Mensch.

Vielleicht, weil sie von vielen Gesunden umgeben ist, die nicht immer ein Gespür dafür haben, dass sie Ruhepausen braucht und Herausforderungen nicht stemmen kann.

Im Alter von 70 Jahren dagegen haben fast alle im Freundeskreis gesundheitliche Probleme. Ich muss mich dann nicht dafür rechtfertigen, dass ich mich mal ausruhen muss. Die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, ist grösser, und deshalb wächst die Akzeptanz.

Wie verhält es sich aber mit Demenz? Diese Krankheit wird von den Betroffenen ja als grosser Einbruch erlebt.

Das ist richtig. Wer an einer Demenz erkrankt ist, leidet gerade darunter, dass ihm die Kontrolle entgleitet. Wenn die Beine ihren Dienst versagen, ist das oftmals leichter zu akzeptieren, als wenn der Kopf nicht mehr mitmacht. Geistige Einschränkungen bedeuten einen schweren Verlust von Autonomie.