Interview mit dem Demenz-Fotografen Michael Hagedorn

Neuer Fotoblog

»Es entsteht ein wundervolles Miteinander«

Foto von Michael Hagedorn. Frau mit Demenz singt zu Gitarre

Michael Hagedorns Fotoarchiv zum Thema Demenz umfasst mittlerweie über 100'000 Aufnahmen – darunter auch das eindrückliche Bild dieser singenden Frau. Bild Michael Hagedorn

Michael Hagedorn fotografiert am liebsten Menschen mit Demenz, weil sie unverstellt und natürlich sind. Im demenzjournal-Blog »KONFETTI IM KOPF« erzählt er künftig die Geschichten hinter seinen Fotos.

demenzjournal: Du bespielst ab diesem Frühjahr im demenzjournal den Fotoblog »KONFETTI IM KOPF«. Was wirst du uns zeigen?

Michael Hagedorn: Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass die Menschen meine Fotos mehr als nur anschauen wollen. Sie möchten wissen, in welcher Konstellation sie entstanden sind, wer darauf zu sehen ist, und wie ich diese Menschen kennengelernt habe. Es ist wichtig, dass wir Demenz nicht nur von der medizinischen, sondern auch von der persönlichen, sozialen Seite her betrachten. Leider wird viel über einen Kamm geschoren, und da möchte ich gegensteuern. Wir müssen davon abkommen, die Menschen in Schubladen zu stecken. Wir müssen genauer hinschauen und uns fragen: Was ist das für ein Mensch? Wie ist er in diesem Moment?

Manche Betroffene und ihre Familien begleitest du über mehrere Jahre. Wie gehst du vor, wenn du sie zum ersten Mal besuchst?

Es ist sehr individuell. Ich versuche, mit Präsenz und Gesprächen eine Vertrauensebene zu schaffen. So lernen sie mich kennen, und irgendwann packe ich die Kamera aus. Später bin ich immer wieder zu Gast bei ihnen, und sie wissen, dass ich mit der Kamera komme. Ich werde zu einem natürlichen Teil des Ganzen.

Es fing mit dem Konfirmationsgeld und Fischen an

Michael Hagedorn (58) kaufte sich vom Konfirmationsgeld die erste Kamera und fotografierte damit die Fische in seinem Aquarium. Mit 15 verkaufte er seine ersten Fotos an Lokalzeitungen. Er fotografiert für internationale Magazine und für Firmen, Stiftungen und Ministerien. Seit 2005 beschäftigt er sich zwischen diesen Auftragsarbeiten intensiv mit dem Thema Demenz. Sein Archiv umfasst mittlerweile über 100’000 Aufnahmen, einige davon sind auf den Plattformen demenzwiki und demenzjournal zu sehen. 2007 gründete er die Initiative »KONFETTI IM KOPF«, die in Hamburg einige Angebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen geschaffen hat – unter anderem das KONFETTI-Café und die KONFETTI-Parade. Hagedorn lebt in Tornesch bei Hamburg.

Im späteren Stadium realisieren Menschen mit Demenz nicht mehr, wozu eine Kamera da ist. Entstehen so authentischere Bilder als bei uns Gesunden? Wir versuchen ja meist ein Bild von uns zu vermitteln und verstellen uns…

Die Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind unverstellt und natürlich. Wenn die Kommunikation eingeschränkt ist, liegt es an mir, dass ich ihre Würde wahre und die Würde des Augenblicks einfange. Eine Person, die im Bett liegt und sich nicht mehr selbstständig versorgen und bewegen kann, mag für manchen ein Horrorbild sein, weil viele Ängste projiziert werden. Aber dieser Zustand kann auch sehr würdevoll sein und von einer fast übernatürlichen Ruhe.

Michael Hagedorn Fotograf
Michael Hagedorn.

Die Menschen, die du fotografierst, können dir oft nicht mehr selbst ihr Einverständnis geben, dass du diese Bilder veröffentlichen darfst. Wie gehst du mit dieser ethischen Frage um?

Während ich fotografiere, bekomme ich sehr viel positives Feedback von den Menschen mit Demenz. Oft fordern sie mich zum Fotografieren auf, und es entsteht ein wundervolles Miteinander. Aber sie erkennen den Kontext nicht, wie die Fotos später veröffentlicht werden sollen. Diese Ebene kläre ich dann mit den Angehörigen. Aber über allem steht mir in dem Moment das Einverständnis der Person, dass sie gerade gesehen werden möchte. Mein Kernanliegen ist es, das Thema Demenz auf eine menschliche und liebenswerte Art mit neuen Bildern zu besetzen.

Die meisten Menschen finden Demenz die schlimmste aller Krankheiten. Sie denken, Menschen mit Demenz seien fremdbestimmt, inkontinent und hätten keine Lebensqualität. Wir von demenzworld kämpfen gegen diese Vorurteile, weil sie in den allermeisten Fällen nicht der Realität entsprechen. Deswegen schätzen wir deine Bilder und verwenden sie gerne auf unseren Plattformen…

Die allermeisten Menschen – auch solche mit einer Demenz-Diagnose – wissen nicht, dass es einen anderen Blick auf das Thema geben kann. Sie sind vorkonditioniert, und die Neurologen, die ihnen die Diagnose an den Kopf knallen, sagen: »Wir sehen uns wieder in einem halben Jahr.«

Für Menschen mit Demenz ist es unglaublich wichtig, dass sie in einem liebevollen Setting sind, wo sie nicht ständig auf ihre Defizite zurückgeworfen werden.

Sehr oft leisten sie keine große Hilfe, sondern verbreiten eher noch Schrecken. Zum Beispiel, indem sie über den Kopf des Betroffenen hinweg mit dem Angehörigen reden und ihn schon mal entmündigen. Ich höre immer wieder solche Geschichten.

Wir auch. Auf unseren Foren berichteten Menschen, ihnen sei die Diagnose zwischen Tür und Angel mitgeteilt worden. Ein Mann erzählte, er habe während seines Urlaubs eine E-Mail erhalten. Darin stand, dass er Alzheimer habe…

Darum ist es wichtig, den Menschen früh etwas in die Hand zu geben, das sie auf andere Ideen bringt und zeigt, wie sie damit umgehen können – auch für die Angehörigen. Für Menschen mit Demenz ist es unglaublich wichtig, dass sie in einem liebevollen Setting sind, wo sie nicht ständig auf ihre Defizite zurückgeworfen werden.

Du fotografierst seit vielen Jahren Menschen mit Demenz. Wie bist du zu diesem Thema gekommen?

Als ich zum ersten Mal Menschen mit Demenz fotografierte, erkannte ich nicht, dass sie eine Demenz hatten. Es war in einem Altersheim, und es gab Bewohner, die im positiven Sinne auffällig waren. Sie waren lebensfroh, kommunikativ und offen. Im Nachhinein erfuhr ich, dass sie eine Demenz-Diagnose hatten. Das machte mich neugierig. Ich habe ein lebenslanges Faible für alte Menschen. Mein Bruder und ich wuchsen in einem Viergenerationenhaus auf, zusammen mit Großeltern und Urgroßeltern. Der Urgroßvater – er war damals Mitte 70 – prägte mich sehr.

Wir kommen unserem Kern näher, wenn wir gesellschaftliche Konventionen vergessen.

Was hat er mit euch unternommen?

Wir verbrachten viel Zeit zusammen – wir spielten Karten, gingen spazieren und unternahmen alles Mögliche. Er brachte mir das das Lesen und Schreiben bei. Er war für mich eine männliche Identifikationsfigur. Dies prägte mein Verhältnis zu älteren Menschen und weckte meine Neugier.

Film «Dear Memories»

«Die Kamera hält Thomas auf der Welt»

Thomas Hoepker (86) hat durch Alzheimer viele Erinnerungen und Worte verloren. Dies hindert ihn nicht daran, weiterhin täglich hunderte von Fotos zu machen. … weiterlesen

Du hattest diesen Auftrag im Altersheim, und deine Neugier am Thema Demenz war geweckt. Wie ist es weitergegangen?

Ich beantragte ein Stipendium für ein Projekt mit dem aus meiner Sicht damals sehr passenden Titel »Fremder im eigenen Leben«. Später merkte ich, dass das Gegenteil der Fall ist. Der Mensch verändert sich durch die einsetzende Demenz. Aber ich bin der vollen Überzeugung, dass wir uns unserem Kern näherkommen, wenn wir gesellschaftliche Konventionen vergessen und uns nicht mehr über unsere Erfahrungen und Erinnerungen definieren. Das ist ein spiritueller und philosophischer Zugang, den ich immer wieder bestätigt bekomme.

Mit der Initiative »Konfetti im Kopf« engagierst du dich auch neben der Fotografie für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Wie ist es dazu gekommen?

Das Stipendium ermöglichte mir 2006 Reisen durch Deutschland und die Nachbarländer. Ich wollte sehen und fotografieren, was es gibt an Betreuung, Versorgung, Entlastung, Wohnformen und so weiter. Ich wollte aber nicht, dass die ganzen Fotos zwischen Buchdeckeln im Regal verschwinden. Es entstand die Idee zu einer Öffentlichkeitskampagne.

In der Zeit ging ich mit einem Mann mit Demenz auf die Basler Fastnacht. Als wir zurückkamen, waren wir voller Konfetti. Er wischte das Konfetti von meiner Schulter und sagte, er habe Konfetti im Kopf. Dieser Begriff blieb haften, und es gab so viele positive Rückmeldungen auf diesen Namen, dass wir unsere Initiative so nannten. Wir entwickelten dann Formate wie die KONFETTI-Parade, die dieses Jahr nach langer, coronabedingter Pause zum Weltalzheimertag am 21. September in Hamburg wieder stattfinden wird.

Konfetti im Kopf

Für einen Moment Königin sein

Das Konfetti-Café in Hamburg ist offen für jeden – für Menschen mit und ohne Demenz. Die fröhliche Stimmung wirkt auf alle ansteckend. weiterlesen

Viele Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen nehmen kaum noch teil am gesellschaftlichen Leben. Obwohl es im deutschen Sprachraum über zwei Millionen Betroffene gibt, nimmt man sie in der Öffentlichkeit nicht wahr. Deshalb finden wir die KONFETTI-Parade ein sehr schönes Format. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen gehen auf die Strasse und zeigen, dass es sie gibt!

Es ist bewusst ein bisschen provokativ, dass wir ein Fest feiern zu einem Thema, das für viele so düster und traurig ist. Aber es soll wachrütteln. Das Medieninteresse ist groß, und das ist echt eine tolle Sache. Wir definieren uns aber nicht nur über Spaß und Krawall, sondern auch mit seriösen Begegnungsangeboten wie dem KONFETTI-Café oder anderen.