Wer nach Bildern zu Demenz sucht, findet oft Darstellungen, in denen sich Köpfe ins Nichts auflösen, oder Menschen verzweifelt die Hände vors Gesicht halten. Dass Demenz keine leichte Krankheit ist, bleibt unbestritten. Doch muss dieser Fokus auf Verlust und Schrecken wirklich sein?

Nein, findet Desideria Care. Der rührige Müncher Verein begleitet seit 2017 Angehörige von Menschen mit Demenz mit einem vielfältigen Angebot. Auf der (vergeblichen) Suche nach Bildmaterial für einen Flyer entstand die Idee, per Wettbewerb Fotos mit positiver Bildsprache zu sammeln. «Wir wollen nicht nur das Drama zeigen», erklärt Desirée von Bohlen und Halbach, Gründerin von Desideria Care.

«Denn so schlimm die Krankheit ist, es gibt auch schöne Momente.»

Diese Momente festzuhalten ist für die Angehörigen wichtig. Aber auch für die Gesellschaft, in der noch immer die Meinung vorherrscht, der Tod sei besser als ein Leben mit Demenz. Diese Vorstellung von Demenz muss sich ändern. Demenz hat trotz aller Schwere auch «ein freundliches Gesicht», so von Bohlen. «Es kann voll Liebe und Freude sein.»

Davon zeugen die Siegerbilder des Fotowettbewerbs «Demenz neu sehen». 57 Teilnehmende haben über 450 Fotografien eingesandt und die Jury vor eine schwere Wahl gestellt. So schwer, dass zu den ursprünglichen Kategorien «Profi», «Nachwuchs» und «Amateur» noch ein Sonderpreis und «besondere Erwähnungen» dazukamen.

Botschafter des Wettbewerbs war der Fotograf Hauke Dressler, der 2017 mit seinem an Alzheimer erkrankten Vater Skandinavien bereiste und die Reise fotografisch festhielt. Am 18. Oktober 2022 fand vor hochkarätigem Publikum – unter anderem Staatsminister Klaus Holetschek – die Preisverleihung statt. Wir stellen Ihnen die Gewinner:innen vor.

Umarmung gegen das Vergessen – Ingrid Hagenhenrich (Profi)

«MaRia und Hans-Jürgen Wertens sah ich das erste Mal in der Cafeteria des Memory Centers in Neuss. Beide mit schneeweissem Haar, Händchen haltend. MaRia sang und tanzte durch die Flure, verteilte Küsse und Umarmungen und fragte immer wieder: Jürgenchen, es wird doch alles gut, oder?»

Inge Hagenhenrich fühlt sich geehrt, dass sie zwei ganze Tage bei dem Paar Wertens verbringen darf, eingelassen wird in diesen intimen Raum, eine winzige Wohnung. Sie ist beeindruckt von der Hingabe, mit der sich «Jürgenchen» um MaRia kümmert: «Er nimmt seine Frau überallhin mit. Auf Konzerte, Ausstellungen, Reisen. Er mag die Demenz nicht verstecken, er möchte, dass hingeschaut wird. Und dass gesehen wird, was aufrichtige Zuneigung bewirken kann.»

Die Profi-Fotografin lernt eine sanfte Armee von Helfer:innen kennen, die MaRia und Hans-Jürgen umgeben: Familie, Freunde, Hilfen, liebevoll «Engel» genannt. «Und ich fotografiere», erzählt sie, «koche, flechte MaRia die Haare, singe mit, begleite. Und versinke in MaRias Umarmungen, wenn sie sich auf meinen Schoss setzt. Hans-Jürgen zeigt mir Filmaufnahmen, die eine starke, talentierte und witzige Frau zeigen. Diese Frau ist immer noch da. Und ich hoffe, ich konnte sie in meinen Bildern für einen Augenblick sichtbar machen.»

«Was ich unbedingt vermeiden wollte war, etwas zu fotografieren, das leer und traurig ist. Doch was ich fand, war Hülle und Fülle!», erzählt Inge Hagenhenrich.Inge Hagenhenrich

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«cursare», umherwandern – Lilli Nass (Nachwuchs)

2017 erhält der Vater von Lilli Nass die Diagnose Alzheimer. Sie ist damals 19 Jahre alt, der Vater 54. Er gehört damit zu den Jungerkrankten, zu den Demenzbetroffenen unter 65 Jahren.

Ein langsamer Abschied beginnt. Was bedeutet es, um jemanden zu trauern, der eigentlich noch am Leben ist? Wie kann man die Hoffnung bewahren? Wie nimmt der Vater die Welt und die häusliche Umgebung wahr? Durch die Kameralinse untersucht Lilli Nass verschiedene Gegenstände, die in der Wohnung und unterwegs gefunden, verlegt und ertastet werden. Die Spuren dieses Nestelns, eine der typischen Handlungsweisen von Menschen mit Demenz, werden zum Symbol einer Suche nach Halt, neuer Sicherheit und Verletzlichkeit.

«Ich hoffe, dass diese Bilder eine neue Sicht auf Demenz in unserer Gesellschaft ermöglichen», sagt Lilli Nass, «und dass sie neue Diskussionen über die Situation von beruflich und privat Pflegenden auslösen.»

Lilli Nass erkundet, wie ihr Vater die Welt wahrnimmt.Lilli Nass

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Ferien auf Teneriffa – Barbara Lange (Amateur)

Es beginnt mit einem Scherz. 2021 begleitet Barbara Lange ihre Mutter und den demenzkranken Vater auf eine Reise nach Teneriffa. Als sie mit ihrem Vater durch Puerto de la Cruz spaziert, fällt ihr ein Papierflieger-Graffito an der Wand auf. Spontan animiert sie ihren Vater, sich in Pose zu werfen. «Ich wollte Instagram veräppeln», erzählt sie. «Diese Fotos, auf denen immer alles perfekt ist und man sich inszeniert. Die wollte ich mit einem demenzkranken Menschen machen.»

Was Instagram ist, weiss ihr Vater nicht. «Also habe ich ihm gesagt, dass es ein schönes Foto sein soll, das ich Freunden zeigen werde und dann freuen die sich. Dass andere sich freuen, hat ihn überzeugt. Ansonsten ist es gar nicht mehr so sein Anspruch, zu verstehen, warum wir etwas tun. Hauptsache, es fühlt sich nett und nach Spass an.»

Gepostet hat Barbara Lange die Fotos übrigens nicht. Aber sie hat sie für den Wettbewerb eingereicht und die Aktion «Demenz neu sehen» durch ihre lebensfrohen, leichten Bilder bereichert.

Alles, was Spass macht: Barbara Langes Vater ist durchaus «instagrammable».Barbara Lange

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Bettschuhe – Stephanie Harke (Sonderpreis)

Erst auf den zweiten Blick erschliesst sich, was Stephanie Harke da fotografiert hat: «Das waren Schuhe aus Wolle, die meine Oma regelmässig für sich und die Familie häkelte. Für warme Füsse im Bett. Mit fortschreitender Demenz entstanden neue Formen.»

Auch wenn die Häkeleien die kognitive Veränderung verdeutlichen: «Diese kleinen bunten Kunstwerke erinnern die ganze Familie an die sehr lebenswerten und fröhlichen Zeiten auch während der Demenzkrankheit.» Und da gibt es durchaus lustige Momente: «Meine Oma konnte herzhaft mit uns lachen, wenn wir sie gefragt haben: Und für welches Körperteil sollen wir das benutzen?»

Oma Helenes BettschuheStephanie Harke

Mut haben und das Leben zeigen

Der Fotowettbewerb «Demenz neu sehen» hat eindrucksvoll vor Augen geführt, dass Demenz nicht nur aus Verlust und Niedergang besteht. Dazwischen gibt es Augenblicke der Zufriedenheit, Verbundenheit, des Glücks.

Dieses andere Gesicht der Demenz muss sichtbarer werden.

«Was wir brauchen, sind positive, stärkende Bilder von Demenz», sagt Desirée von Bohlen und Halbach. Menschen, gar eigene Familienmitglieder in ihrer Verletzbarkeit zu fotografieren braucht Mut. Doch dieser Mut lohnt sich. Er hilft, ein differenziertes Bild vom Leben mit Demenz aufzubauen. Und sei es nur für das eigene Fotoalbum.

→ Hier kommen Sie zur Seite des Fotowettbewerbs «Demenz neu sehen»

→ Hier kommen Sie zu den Gewinner:innen der Kategorie «Besondere Erwähnungen» – stöbern lohnt sich!

Sie haben neue Perspektiven auf Demenz eröffnet: die stolzen Gewinner:innen des Wettbewerbs.www.demenzneusehen.de: People Picture/Willi Schneider