»Wenn Sie mit Pillen Ihre Konzentrationsfähigkeit, Ihre Kreativität und Ihr Gedächtnis verbessern könnten, würden Sie es tun? Oder stellen Sie sich vor, Sie brauchen nur noch vier Stunden Schlaf und sind die restlichen zwanzig Stunden topfit. Diese Pillen gibt es und auch einen Begriff dazu, neuronales Enhancement (Deutsch: Erweiterung), und sie werden natürlich auch eingesetzt — von denen, die Zugang dazu haben und skrupellos genug sind im Umgang mit sich selbst, weil sie einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bieten.
Heutzutage soll ein Mensch doch immer glücklich sein, immer leistungsfähig, dazu potent bis fünfundneunzig.
Das Menschenbild hat sich gewandelt. Medikamente, die ursprünglich für Kranke entwickelt wurden, werden zunehmend von Gesunden verwendet, die Grenzen haben sich längst verwischt. Daran hat natürlich auch die Pharmaindustrie ein großes Interesse. Vom Standpunkt der Gesellschaft aus zählt nur, wer ihr von Nutzen ist; wer ihr zur Last fällt, wird schnell fallen gelassen. Ich bin überzeugt:
Wüssten wir, wann die drei letzten, statistisch gesehen teuersten Lebenswochen eines Menschen beginnen, wir würden zu diesem Zeitpunkt alle medizinische Versorgung kappen.
Dagegen würde die Pharmaindustrie wiederum Sturm laufen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns täglich. Die Problematik zeigt sich gerade bei Alzheimerpatienten besonders drastisch, ist doch jede medizinische Maßnahme letztlich nur krankheitsverlängernd. So können Cholinesterasehernmer den Verlauf für ein bis zwei Jahre stoppen. Geheilt werden aber kann — bis heute — niemand.«
Die Sekretärin serviert Kaffee und Mineralwasser. Der Mann, der mir gegenübersitzt, ist Mitte fünfzig, Familienvater, Dozent und Leiter einer psychiatrischen Klinik — allein dies ein 60-Stunden-Job, mindestens. Dynamisch, belastbar, jovial; diese drei Adjektive würde ich ihm bedenkenlos als Gütesiegel verpassen, womit er ziemlich genau den Menschentyp verkörpert, den er zuvor mit spürbarer Besorgnis skizziert hat.
»Ich habe ein optimistisches Naturell«, sagt er fast entschuldigend, »sonst würde ich das hier gar nicht aushalten. Wir sind ständig überbelegt, müssen die Leute zu früh entlassen. Allein heute Morgen hatten wir acht Notaufnahmen; es reicht ja, wenn einer seine Stelle verliert, schon bricht er zusammen.«
Ende des 19. Jahrhunderts, als die Klinik erbaut wurde, gab es noch keine Krankheit namens Alzheimer — 1906 stellte Alois Alzheimer seine Untersuchungen vor, die er am Gehirn seiner früh verstorbenen dementen Patientin Auguste Deter vorgenommen hatte —, und die Klinik lag außerhalb der Stadt, in der freien Natur, die die Kranken beruhigen und die Bevölkerung vor ihrem Anblick schützen sollte, vor dem doppelten Spiegel, in den man als einigermaßen Gesunder im sogenannt besten Alter blickt, wenn man alten oder kranken Menschen gegenübertritt.
»Du bist dort, wo ich einst war«, lese ich in den müden Augen der Alzheimerpatientin, die mit fahrigen Strichen die schematisierten Blätter eines vorgedruckten Baums ausmalt, »und ich bin da angekommen, wo du dereinst stranden wirst, im Niemandsland zwischen Leben und Sterben.« Ausdrücken kann sie sich nur noch mit einzelnen Wörtern, grün, grau, Baum, ja, nein.
Wenn die Ergotherapie für heute vorbei ist, wird man die vollgekritzelten Blätter wohl zum Altpapier legen; die kaum siebzigjährige Frau wird ihre Zeichnung nicht vermissen.
Sie wird morgen nicht nur vergessen haben, was sie heute gemalt hat, sie wird vergessen haben, dass sie überhaupt etwas gemalt hat, dass sie in diesem freundlichen hellen Raum gesessen und mit einer Fremden gesprochen hat, die einen Text über ihre Krankheit schreibt. Das hat man ihr brav ausgerichtet, damit der Form Genüge getan ist, auch wenn wir alle wissen, dass diese Information hinfällig ist. Das Kurzzeitgedächtnis ist die erste Hirnfunktion, die ausfällt; im Hippocampus beginnt verborgen, was, wenn es offensichtlich wird, (bis heute) unumkehrbar fortschreitet: die Zerstörung des Gehirns bei Morbus Alzheimer.
Beitrag zur Demenz-Anthologie »Es schneit in meinem Kopf«
Ruth Schweikert wurde 1965 in Lörrach geboren und ist in der Schweiz aufgewachsen. 1994 debütierte sie mit dem Erzählungsband »Erdnüsse. Totschlagen«. Es folgten die Romane »Augen zu« (1998), »Ohio« (2005) und »Wie wir älter werden« (2015). 2019 erschien die literarische Recherche »Tage wie Hunde«, in der sich Ruth Schweikert mit ihrer eigenen Brustkrebserkrankung auseinandersetzte. Sie starb am 4. Juni 2023 in Zürich.
2006 schrieb Ruth Schweikert auf Anregung der Stiftung Sonnweid und des Verlages Nagel & Kimche den hier veröffentlichten Beitrag mit dem Originaltitel »Gesten der Umarmung«. Er erschien in der Anthologie »Es schneit in meinem Kopf«; Herausgeberin des mittlerweile vergriffenen Buches war Klara Obermüller.
»Meine Großmutter hat bis drei Tage vor ihrem Tod zu Hause gewohnt. Sie war neunzig, als sie starb, und brachte keinen richtigen Satz mehr zustande. Oft ließ sie die Herdplatten angedreht, einmal brannte die halbe Wohnung aus deswegen. Bunte Plastikschüsseln, die sie auf die Platten gestellt hatte, schmolzen und hingen dann wie eigenartige Skulpturen am Herd herunter.
Der geschmolzene Plastik hatte tatsächlich etwas von einem Kunstwerk.
Da fällt mir ein amerikanischer Künstler ein, abstrakter Expressionist, der dank Alzheimer, zumindest für eine gewisse Zeit, zu seiner Schaffenskraft zurückfand, nachdem er sich als Gesunder darüber beklagt hatte, seine Art zu arbeiten sei fast zu sehr eine Gewohnheit geworden. Im frühen Stadium wird das Bewusstsein sogar geschärft, weil jede Erfahrung neu ist, indem man sich nicht an gleiche oder ähnliche Erfahrungen erinnert. Neue Erfahrungen aber schärfen das Bewusstsein, sie lassen einen die Dinge intensiver erleben.
Seine Bilder wurden heller, lichter, fröhlicher, aber auch unvorhersehbarer, überraschender, als hätte er bestimmte kognitive Fesseln abgelegt, die der künstlerischen Geste im Weg standen — tatsächlich bleibt das motorische Gedächtnis sehr lange erhalten —, wobei die Kunstkritik sich naturgemäß schwertat, die Bilder eines Mannes, der an keinem Gespräch mehr teilnehmen konnte, der sich mittags nicht mehr daran erinnerte, was er morgens gegessen hatte, noch als Kunstwerke zu betrachten. Wo war das handelnde, entscheidungsfähige Subjekt, der Künstler als Seismograph der Gesellschaft geblieben?
Doch zurück zu meiner Großmutter: Der geschmolzene Plastik hat furchtbar gestunken, ich habe den Geruch noch heute in der Nase.
Wir alle — meine Mutter, meine Schwester und ich — waren oft am Ende mit unseren Nerven und Kräften, und dennoch, ich möchte diese Erfahrung nicht missen.
Was ist der Mensch, wenn alles Menschliche wegbricht?»
Robert lacht, als ich ihm spätabends am Telefon von meinem Gespräch mit dem Klinikdirektor erzähle. »So ein Unsinn! Niemals kann in einem Menschen alles Menschliche wegbrechen. Das wäre grotesk; das Menschliche ist ja eben gerade das Vergängliche.«
»Vergiss mich nicht«, hatte er vor zehn Tagen gesagt und sogleich den Erinnerungszwang beschworen, dem Liebende so bereitwillig erliegen, »alle Gesten haben ihre Schatten«, sagte er, »den Blick, mit dem du mich ansiehst, werde ich in mir tragen, allerdings wird er sich verwandeln, nichts anderes besagt das Wort erinnern, was jetzt von außen auf mich fällt, wird morgen in mir drinnen sein.«