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Sieben Leben – eine Weihnachtsgeschichte

Katze im Schnee

Ohne Katze Nana kann Frau Mendez nicht Weihnachten feiern. Bild Kelly Sikkema | Unsplash

Frau Mendez vergisst das eine oder andere, etwas aber weiß sie ganz genau: Ihre geliebte Katze Nana ist verschwunden. Gemeinsam mit Enkelin Elsa macht sie sich auf die Suche – und erlebt ein Weihnachtswunder.

Katzen, heißt es, haben sieben Leben. Wenn sie von hohen Mauern oder Balkonen springen, ohne sich zu verletzen, landen sie womöglich im nächsten. Frau Mendez, eine alte Frau mit dicken grauen Locken, dachte mitunter, auch sie habe vielleicht sieben Leben. Allerdings sprang sie nicht von Mauern oder Balkonen, obwohl sie für ihr Alter sehr gelenkig war. Der Übergang lief bei ihr anders. Darüber dachte sie derzeit nach – sie erzählte sich gern selbst Geschichten.

Im Moment war sie in ein Leben hineingeraten, in dem sie häufig Dinge durcheinander brachte.

Einmal ließ sie ihren Schlüsselbund in die Gießkanne plumpsen, ein anderes Mal landete der Kalender im Kühlschrank. Frau Mendez fand das nicht so schlimm und dachte, dass sie im nächsten Leben weniger Sachen vergessen und verlegen würde – oder die alten einfach wieder da wären. Vielleicht würde dann auch ihr goldenes Armband wieder auftauchen, nach dem sie schon lange suchte. Oder der rote Schal, den sie für ihre Enkelin strickte und der noch lange nicht fertig war. Das nächste Leben wäre also ein Wiederfinde-Leben.

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Im Moment hatte Frau Mendez allerdings andere Sorgen. Vor Kurzem war Nana, ihre Katze mit dem hellbraunen Fell und den weißen Flecken auf Brust und Nase, verschwunden. Die alte Frau lebte allein in einer Erdgeschoss-Wohnung am Stadtrand, in der Küche gab es eine Klappe zum Garten. Normalerweise kam Nana abends durch die Klappe nach Hause, manchmal mit einer toten Maus im Maul. Eines Abends blieb der Katzenkorb leer.

Hoffentlich ist sie nicht überfahren worden, dachte Frau Mendez beklommen. Nana trug ein Halsband mit ihrem Namen und einer Telefonnummer, doch niemand hatte sich gemeldet.

Dieses Mal gelang es der alten Frau nicht, sich mit einer ihrer Geschichten zu trösten, auch wenn sie sich noch sehr bemühte, Nana in Gedanken in ihre warme Küche zurückzuwünschen. Sie hatte jeden Winkel der Wohnung abgesucht, den Garten, den Schuppen, den Eichenpark um die Ecke. Nichts. In den Straßengräben wollte sie lieber nicht nachsehen.

Frau Mendez war tief betrübt. Im nächsten Jahr würde sie 80 werden, das glaubte sie zumindest, und Nana fünf Jahre alt. Zusammen immerhin 805 Jahre – oder so ähnlich. Vielleicht würde sie Nana in ihrem nächsten Leben wiederfinden, aber das dauerte ihr eindeutig zu lange. Das goldene Armband konnte warten, Nana nicht. In ein paar Tagen war Weihnachten, ihre Tochter und Enkelin Elsa würden sie abholen, um bei ihnen zu feiern. Nana sollte dabei sein, wie immer.

Dreimal sieben Tage war Nana bereits verschwunden, wenn Frau Mendez richtig gezählt hatte.

Eigentlich mochte sie die Zahl, nicht nur wegen der sieben Leben. Es gefiel ihr, dass ihr Kopf insgesamt sieben Öffnungen hatte, um die Welt in sich aufzunehmen. Dann gab es auch noch die sieben Farben des Regenbogens. Die sieben Weltmeere. Die Wolke sieben. Den siebten Sinn. Zu allem fielen Frau Mendez immer neue Geschichten ein. Über die sieben Todsünden in der Bibel dachte sie häufig nach. Völlerei war eigentlich okay, Trägheit ebenfalls – sie selbst fühlte sich manchmal ziemlich müde – , aber Geiz und Neid waren ihr zutiefst unsympathisch, in der Weihnachtszeit erst recht.

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Schließlich, als es immer noch kein Lebenszeichen von Nana gab, beschloss Frau Mendez, nicht länger zu warten. In der Zeitung hatte sie von dem Tierheim am anderen Ende der Stadt gelesen. Vielleicht war Nana dort gelandet, das war zumindest eine Chance.

An einem kalten Tag, als dicke Schneeflocken vom Himmel herabtanzten, machte sie sich mit dem Bus auf den Weg. Elsa, die regelmäßig nach ihrer Oma schaute und stundenlang mit Nana schmuste – zumindest wenn die Katze Lust darauf hatte – , begleitete sie. Elsa trug den kleinen Käfig, in dem ihre Oma Nana gelegentlich zum Tierarzt gebracht hatte.

Als die beiden Frauen das Tierheim betraten, schlug ihnen Lärm entgegen.

Hunde kläfften, Wellensittiche zwitscherten, Katzen miauten, alle durcheinander, und ein Papagei sagte in Endlosschleife: »Ich fasse es nicht, ich fasse es nicht!« In anderen Käfigen waren Kaninchen, Meerschweinchen, Schildkröten und sogar zwei Schlangen. Ein strenger Geruch lag in der Luft.

Frau Mendez stellte sich vor, alle Tiere würden zusammen auf einer Arche Noah über das Meer fahren und auf einer Insel landen, wo jeder genug zu fressen hatte und machen konnte, was er wollte. Da kam eine großgewachsene Frau, offenbar die Chefin, zu ihnen und riss Frau Mendez aus ihren Gedanken: »In der Weihnachtszeit werden leider immer viele Tiere ausgesetzt. Wir wissen gar nicht, wo wir sie alle unterbringen sollen, unsere Käfige sind voll.«

Frau Mendez und Elsa sahen sich um und entdeckten einen Käfig mit einem Kratzbaum. In der Mitte lag eine Katze mit hellbraunem Fell, Brust und Nase waren weiß. Am Käfig war ein Schild angebracht: »Ich heiße Anna, bin temperamentvoll und lasse mich gern streicheln. Wenn ich keine Lust darauf habe, zeige ich das auch.«

»Sie sieht Nana total ähnlich“, meinte Elsa zu ihrer Großmutter.
»Nana ist auch ziemlich eigensinnig«, stimmte Frau Mendez zu.
»Aber Anna ist deutlich runder als Nana«, wandte Elsa ein.
»Sowas kann sich ändern«, sagte ihre Großmutter und lachte.
»Dürfen wir sie mal nehmen?«, fragte Elsa die Leiterin. Kurze Zeit später lag Anna in den Armen von Frau Mendez und ließ sich kraulen.
»Jemand hat sie hier in die Tierklappe gelegt. Allerdings hatte sie kein Halsband, deshalb haben wir sie Anna genannt. Unsere Katze scheint Sie ja zu mögen«, sagte die Chefin freundlich zu Frau Mendez.
»Die nehmen wir mit«, entschied die alte Dame.

Zurück in der Wohnung fand Anna sofort den Weg in die Küche und schnupperte an dem Fressnapf. Kurz streifte sie am Kratzbaum im Wohnzimmer entlang, marschierte in die Speisekammer, wo Frau Mendez das Katzenfutter aufbewahrte. Schließlich leerte sie gierig den Fressnapf, den Frau Mendez gefüllt hatte, und streckte sich in Nanas Korb aus.

»Sie scheint sich hier bestens auszukennen«, sagte die alte Frau. Elsa nickte, beugte sich zu Anna herunter und streichelte ihren Bauch, wie sie das immer mit Nana getan hatte. Nach einer Weile war Anna eingeschlafen.

Am Heiligabend war der Himmel milchig weiß, als habe er große Mengen Schnee geladen.

Frau Mendez hatte sich fein gemacht und trug einen schwarzen Glitzerpulli, dazu einen lila und einen goldenen Ohrring. Am frühen Nachmittag klingelte es, ihre Tochter Petra und Enkelin Elsa standen vor der Tür.
»Bist du fertig?«, fragte Elsa, und ihre Großmutter nickte.
»Wo ist Anna?« Petra runzelte die Stirn. »Es ist ja nicht das erste Mal, dass hier etwas verschwindet.«
»Ich möchte euch etwas zeigen«, sagte Frau Mendez, »kommt mit.«

Gemeinsam gingen die drei Frauen nach draußen. Frau Mendez zeigte auf den Gartenschuppen. »Da ist es.« Vorsichtig öffnete Elsa die Tür, und ein vielstimmiges Maunzen kam ihnen entgegen. Der Deckel des Garten-Grills stand offen, darin saß Anna auf einem alten Kissen, um sie herum lagen sieben Kätzchen. Die Kleinen hatten Asche im Fell, und Anna versuchte vorsichtig, sie mit ihren Krallen zu säubern. »Ich hatte wohl vergessen, den Grill zuzumachen.« Frau Mendez lachte. »Aber umso besser: Anna hat ein schönes Nest gefunden.«

»Da ist ja auch mein Schal«, rief Elsa und zeigte nach oben.
Unter der Decke, an einem Haken, baumelte ein pausbäckiger Weihnachtsengel. Um seinen Hals hing ein roter Schal, am Handgelenk trug er ein goldenes Armband.
»Offenbar bin ich jetzt in meinem Wiederfinde-Leben angekommen«, sagte Frau Mendez zufrieden. »Keine Ahnung, wie das Zeug hierhergekommen ist. Dahinter steckt bestimmt eine Geschichte. Ich werde mal darüber nachdenken.«