Peter Wißmann: »Demenz gehört in die Literatur« - demenzjournal.com

Interview zum Buch

Peter Wißmann: »Demenz gehört in die Literatur«

Buchcover Überschattet Peter Wißmann

Das Coverfoto von Peter Wißmanns neuem Buch. Bild pd

Der Demenz-Experte Peter Wißmann spricht über sein neues Buch „Überschattet“ und die Notwendigkeit, Jugendträume zu verwirklichen.

Von Elisabeth Schönberger

Wenn es um das Thema Demenz geht, ist Peter Wißmann kein Unbekannter. Der Autor zahlreicher Sachbücher, Dozent, Moderator und Redner hat sich beruflich wie privat jahrzehntelang kritisch mit Vergesslichkeit und kognitiven Beeinträchtigungen auseinandergesetzt. Bis heute plädiert er für mehr Achtsamkeit, Verständnis und Menschlichkeit im Umgang mit Betroffenen und ihren Angehörigen.

Mit dem Eintritt in den Ruhestand war es für den Wahl-Innsbrucker an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Das Ergebnis dieser »Umorientierung« ist im Juli 2024 im Mabuse-Verlag erschienen: Peter Wißmanns neuste Veröffentlichung »Überschattet – Erzählungen über Demenz«. Im Interview mit Journalistin Elisabeth Schönberger verrät der Autor, wie das Buch entstanden ist, wen er damit erreichen will und warum es für ihn ein erster Schritt in eine ganz andere Richtung ist.

Bevor wir zu neuen Welten aufbrechen, springen wir nochmal zurück an den Anfang: Wie kamst du zum ersten Mal mit Demenz in Berührung?

Nach meiner Ausbildung zum Sozialarbeiter habe ich Anfang der 80er Jahre ein Berufspraktikum in einer Sozialstation gemacht. Damals war das noch keine Pflegestation wie heute, sondern eher Quartier- und Betreuungsarbeit, soziale Arbeit und alles Mögliche an Unterstützung. Älteren Menschen, die allein nicht mehr klarkamen, wurde eine sogenannte Hauspflegerin zur Seite gestellt, die mit ihnen erledigte, was eben anstand: einkaufen gehen, schnacken, Rommee spielen, kochen.

Irgendwann habe ich mitbekommen, dass mehrere dieser Pflegerinnen sich bei der Einsatzleitung beschwert haben, sie müssten zu solch ‚bekloppten‘, ‚verrückten‘ Alten gehen und die eine würde sie immer beschuldigen, etwas zu stehlen. Heute würde man sagen, die Dame hatte Alzheimer, Demenz oder eine psychische Erkrankung, aber damals war all das noch kein Thema. Das Personal wollte sich einen derartigen Umgang nicht gefallen lassen, also wurde die Frau einer anderen Station untergejubelt mit der Begründung, man hätte keine Kapazitäten mehr für sie.

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Da meldete sich mein Gerechtigkeitssinn und ich dachte mir, das kann ja wohl nicht wahr sein! Also habe ich begonnen, mich damit auseinanderzusetzen. Mir ist schnell bewusst geworden, dass es sich nicht um irgendwelche bösen alten Männer oder Weiber handelt, sondern um erkrankte Menschen, bei denen wir in der Bringschuld sind. Das Thema hat mich von da an nie wieder losgelassen.

Wie der Untertitel verrät, beschäftig sich auch dein neues Buch mit Demenz. Wann kam dir zum ersten Mal der Gedanke zu diesem Projekt?

Als erstes stand die im Buch zweite Erzählung »Der Stempel« im Raum. Diese ist aus der Realität inspiriert. Damals hatte ich die Idee, aus dem Erlebten eine freie Erzählung zu entwickeln. Damit diese als Buch erscheinen konnte, brauchte es aber etwas mehr. Darin sah ich die Chance, eine unerledigte Geschichte, die ich noch mit mir herumgetragen habe, in adäquater Form anzugehen. Das war der Auslöser für »Freunde«.

Darin geht es darum, welche Beziehung Christian, der mit einer Alzheimerdiagnose lebte, und ich hatten, wie wir versucht haben, mit unserem Projekt etwas auf die Beine zu stellen und wie sich ein Schatten auf unsere Beziehung geworfen hat. Das Ende kam abrupt, ohne dass noch etwas geklärt werden konnte. Das Geschehene aufzugreifen war mir ein großes Anliegen, auch wenn ich lange Zeit nicht wusste, wie dies geschehen sollte. Jetzt bin ich sehr froh darüber, dass ich es getan habe.

Peter Wißmann
Peter Wißmann.Bild pd

Inwiefern unterscheidet sich dein neues Buch von den bisherigen Veröffentlichungen?

Bisher habe ich Sachbücher geschrieben. Nicht unbedingt im engeren Sinne, denn meine Bücher waren schon immer erzählerisch und biografisch orientiert. Meine zwei Erzählungen sind diesmal jedoch literarisch. Sie haben keinen Sachbuch-Charakter, sie wollen nicht aufklären, es geht einfach um ein bestimmtes Thema. Das ist hier zufällig – oder eben weniger zufällig – Demenz. Aber jetzt bewegen wir uns im Bereich literarisches Schreiben und nicht mehr im Genre Sachbuch. Der Schreibprozess unterscheidet sich sehr. Ich weiß nicht, ob ich gute Sachbücher geschrieben habe, aber gute Sachbuchautoren müssen noch lange keine guten Romanautoren sein oder andersrum. Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.

Auch die literarische Sprache unterscheidet sich sehr von der eines Sachbuchs. Was ist dir an deiner literarischen Sprache wichtig?

Ich habe nicht aktiv beschlossen, eine bestimmte Sprache zu benutzen, damit sie literarisch klingt. Es ist mir wichtig, dass sie nicht zu kompliziert wird und verständlich bleibt. Die Sprache muss zur Erzählung passen. Angesichts meines beruflichen Hintergrunds habe ich darauf geachtet, dass sich keine Fachwörter in meinen Text schleichen. Vieles habe ich beim Lesen wieder rausgestrichen, weil genau das dann schnell passiert war: ich hatte jahrelang antrainierte Redeweisen ins Schriftliche mitgenommen.

Wie bist du beim Schreiben vorgegangen?

Eigentlich wie immer. Mir kommt irgendwann eine Idee, die in mir gärt. Dann sammle ich. Sammeln heißt für mich, dass ich – meistens, wenn ich draußen bin oder unterwegs bin – mit meinem Diktiergerät aufnehme, was mir dazu einfällt: zu der Story, Formulierungen, Gröberes, Details, alles Mögliche, vollkommen assoziativ. Das ist mein Material, was ich habe. Irgendwann setze ich mich hin, sichte das Ganze, ordne es, versuche den Kern der Geschichte, die Struktur und auch die Details herauszufiltern. Dann fange ich an zu arbeiten und es nimmt seinen Gang: der Text wird ständig überarbeitet, lektoriert, verworfen, nochmal neu geschrieben. Aber am Anfang steht immer diese Gärungsphase. Diese ist für mich sehr zentral.

Von der Idee bis zur Umsetzung: Wie lange hat dieser Prozess gedauert?

Die Stempel-Erzählung habe ich im Sommer 2023 angefertigt. Das Material zur Freunde-Erzählung hatte ich bereits gesammelt und im November letzten Jahres die ersten Zeilen dazu geschrieben – wenn auch als nicht ganz ernst gemeinter Versuch. Im Februar 2024 war ich damit fertig. Und der Rest der Zeit waren Lektorat, Überarbeitung und alles dazwischen bis zum Druck.

Das klingt sehr fix. Schreibblockaden gab es wohl keine?

Nicht in dem Ausmaß, dass ich die Lust am Schreiben verloren hätte, nein. Aber »Der Stempel« hatte sich zwischenzeitlich stark verändert und mir kamen Zweifel, ob ich richtig liege und das Thema noch zu fassen bekomme. Auch habe ich viel darüber gegrübelt, ob ich mich übernehme, wenn ich aus der Perspektive eines 13-jährigen Mädchens schreibe. Lange habe ich nach alternativen Zugangswegen gesucht, mich jedoch für den jetzigen entschlossen, in der Hoffnung, dass er so trägt.

Ein Videoporträt über Christian Zimmermann

Quelle KuKuK-TV/Youtube

Wie war es für dich, den letzten Satz geschrieben zu haben?

Ich war zufrieden. Das Ende stand nicht sofort, an den Formulierungen habe ich noch herumgearbeitet. Aber ich war insgesamt zufrieden mit dem Schluss und das war für mich dann auch der Punkt, an dem die Geschichten enden mussten.

Wie beschreibst du die Zielgruppe für dein neues Buch?

Menschen, die gerne Erzählungen als Literaturform lesen, in denen allgemeine, menschliche und gesellschaftlich relevante Themen verhandelt werden. Ich denke, es gibt auch einen Kreis von Literaturinteressierten, die zum Thema Demenz einen persönlichen, beruflichen oder sonstigen Bezug haben und sich literarisch damit auseinandersetzen wollen. Vielleicht greifen sie gerade deshalb zu dem Buch, weil sie sich denken »Ich mag Literatur und dieses Thema hat auch etwas mit mir zu tun.«

Stichwort »zum Buch greifen«: Titel und Cover sind oft ausschlaggebend, ob gekauft wird oder nicht. Wie zufrieden bist du mit dem Titel »Überschattet« und dem Baummotiv?

Meine Idee für den Titel war »Schwankender Grund«, aber das ging aus rechtlichen Gründen nicht, da er schon vergeben war. »Überschattet« war ein Vorschlag des Mabuse-Verlags und trifft es meiner Meinung nach gut. Demenz überschattet Beziehungen, Familien, Konstellationen, Sichtweisen, Freundschaften – das kommt in beiden Geschichten zum Ausdruck: es wird etwas in Bewegung gesetzt, wirft seinen Schatten und löst Dynamiken aus, die oft negativer Natur sind. Von daher bin ich damit sehr zufrieden. Auch das Cover hat mich sofort angesprochen, denn das von unten abgebildete Baummotiv habe ich selbst oft als Foto produziert.

Wie geht es für dich als Autor weiter? Wird es weitere Sachbücher geben?

Nein, es soll literarisch weitergehen. Neben einem Prosastudium habe ich viele weitere Kurse absolviert und auch schon Diverses geschrieben. Seit meiner Jugend war literarisches Schreiben mein Traum, aber dafür gab es aus beruflichen Gründen keinen Platz in meinem Leben. Es gab mal Ansätze, die jedoch immer im Sande verlaufen sind. Jetzt will ich die Zeit nutzen und ich habe noch viele Ideen, literarisch zu arbeiten.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Welche Idee gärt aktuell in dir?

Ich sitze bereits an einem größeren Schreibprojekt, eine umfangreiche Erzählung oder ein Roman. Dazu habe ich auch schon das meiste an Material gesammelt. Es wird sich mit dem Zustand der Welt befassen: Wie Leben wir zusammen? Was passiert in der menschlichen Gemeinschaft, aber auch in der Umwelt um uns herum? Alles erodiert. Diese Veränderungen und Erosionsprozesse möchte ich wieder autobiografisch damit verknüpfen, was in meinem privaten und familiären Umfeld geschieht. Diese Mischung wird es sein. Aber mehr sei an dieser Stelle noch nicht verraten.

Es wird also nicht mehr um Demenz gehen?

Nein, von diesem Thema möchte ich langsam, aber sicher wegkommen. Das meiste ist eigentlich schon gesagt worden.

Hast du denn zu Demenz generell noch etwas zu sagen?

Nur noch eins: Wir bauen um bestimmte Bereiche in der Gesellschaft komische Fachsysteme auf, die ihre eigene Logik, Vorgehensweise und Terminologie schaffen, aber nicht unbedingt gut sind. Darum geht es auch in meinen beiden Erzählungen. Letztlich handelt sich um konkrete Menschen, auf die gilt es zu schauen und dabei den ganzen technokratischen Fachkram vielleicht mal zur Seite zu stellen. Gelingt dies, ist Demenz einfach ein normales, weitverbreitetes gesellschaftliches Thema, mit dem wir uns alle auseinandersetzen müssen. Deshalb gehört Demenz auch in die Literatur. Ich glaube sogar, dass Literatur eine gute Möglichkeit ist, diese normale, menschlichere Perspektive einzubringen. Wir müssen aufhören, Unangenehmes in Systeme abzuschieben, die das dann bearbeiten sollen und unseren Fokus wieder finden: Es zählt die Person, das Zusammenleben und die Achtung voreinander.

Eine letzte, private Frage: Wenn du selbst die Diagnose Demenz bekommen würdest, dann…

…hoffe ich wirklich, die Früchte meiner Arbeit zu ernten und von Menschen umgeben zu sein, die gecheckt haben, was für mich immer zentrale Botschaften waren: Lasst diesen Technik- und Profikram bitte beiseite! Stellt euch unbekümmert auf mich ein, indem ihr annehmt, dass ich heute so bin und morgen anders. Benutzt euren Hausverstand und schaut, wie ihr mit mir in der aktuellen Situation umgehen müsst. Sollte dies geschehen, hätte ich auch überhaupt keine Angst und dank meiner Arbeit weiß ich, dass ich dann ein super Leben haben könnte. Doch diese Chance hat man eben nur, wenn das Umfeld stimmt. Das hängt nicht vom Erkrankten, sondern vom Drumherum ab. Aber in meinem Fall schreckt mich das nicht mehr.