Das Wundliegen und die flehenden Blicke der alten Menschen - demenzjournal.com

Roman »Vernichten«

Das Wundliegen und die flehenden Blicke der alten Menschen

Michel Houellebecq Vernichten

Michel Houellebecq hat ein gutes Gespür für den Zeitgeist und gesellschaftliche Entwicklungen. Bild Philippe Matsas

Der Schriftsteller Michel Houellebecq hat Terroranschläge und Aufstände vorausgesagt. In seinem Roman »Vernichten« entwirft er für die Langzeitpflege ein apokalyptisches Szenario.

Michel Houellebecq hat sich im Roman »Vernichten« dem Gesundheitswesen angenommen. Wird er es ähnlich schonungslos und scharfsinnig zerlegen wie in seinem 2019 erschienenen Roman «Serotonin» die Agrarpolitik und den Freihandel? Angriffsfläche ist genug da: Die Langzeitpflege wird von Pflegekonzernen aufgerollt, denen Rendite wichtiger ist als Qualität. Das System der Fallpauschalen in den Spitälern, das in Frankreich ebenso wie in den deutschsprachigen Ländern eingeführt worden ist, setzt falsche Anreize. Hinzu kommen die Auswirkungen des Personalnotstands.

Wer Houellebecqs Schreibe kennt, erwartet von ihm, dass er Salz in diese Wunden streut. Doch der gescheite Provokateur gibt sich im Roman »Vernichten« ungewohnt versöhnlich, was bei diesem Titel umso mehr erstaunt. Zu Beginn begleiten wir den hohen Beamten Paul Raison, der sich mit gefälschten Videos, Cyberattacken und Angriffen auf Handelsschiffe beschäftigt.

Nach dem Hirnschlag im Wachkoma

Dann hat sein Vater Éduard, ein pensionierter Geheimagent, einen Hirnschlag. In einem Lyoner Spital kümmern sich Ärzte und Pflegende vorbildlich um ihn. Später wird er in eine spezialisierte Klinik für Wachkomapatienten verlegt, die sich in der Nähe seines Heimatdorfes im Beaujolais befindet. Auch dort wird er von engagiertem und empathischem Personal gepflegt.

Hier geht’s zum Hörbuch des Romans »Vernichten«

Die Protagonisten sind für einen Roman Houellebecqs ungewohnt normal und gesund. Die Hauptfigur Paul hat zwar seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner in der gleichen Wohnung lebenden Ehefrau Prudence. Doch sonst funktioniert er so gut, dass er es bis zum engsten Vertrauten des Wirtschaftsministers Bruno Juge bringt. Diese Figur ist übrigens dem smarten Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire angelehnt, mit dem Houellebecq im richtigen Leben befreundet ist.

Auch die anderen Familienmitglieder, die am Krankenbett Éduards wieder zusammenfinden, sind Normalos. Für einmal irritiert und provoziert Houellebecq seine Leser weder mit sexsüchtigen Neurotikern noch mit suizidgefährdeten Depressiven. Nur Indy, die Ehefrau von Pauls Bruder Aurélien, ist hochneurotisch, bösartig und intrigant.

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Nach einer ausgiebigen »Warmlaufphase« nimmt Houellebecqs jüngstes Werk die von seinen Büchern »gewohnten« Formen an: Éduard wird mit dem Segen des Chefarztes rund um die Uhr von seiner Partnerin Madeleine gepflegt und betreut. Die Klinik für Wachkomapatienten hat deutlich mehr Pflegepersonal als das Altersheim, dem die Klinik angeschlossen ist.

Das löst Neid aus – vor allem bei den gewerkschaftlich organisierten Pflegenden. Sie setzen sich dafür ein, dass die nicht ausgebildete Madeleine keine pflegerischen und betreuerischen Aufgaben mehr übernehmen darf.

Ein empathiefreier Geldvermehrer wird Klinikdirektor

Nun hat Houellebecq das Feld bereitet für eine vernichtende Kritik an der Langzeitpflege. Der engagierte Klinikdirektor und Chefarzt, der Éduard und seiner Madeleine wohlgesinnt ist, wird entlassen und durch einen empathiefreien Verwalter und Geldvermehrer ersetzt.

Eine aus Afrika stammende Pflegehilfe berichtet über die katastrophalen Zustände: Es sei normal, dass die Bewohner stundenlang in ihren Exkrementen liegen würden. Dekubitus (Wundliegen) sei die Regel. Das Schlimmste seien die flehenden Blicke der Bewohner, wenn eine Pflegende ins Zimmer komme – und die Wünsche der Bedürftigen nicht annähernd erfüllen könne, sagt die Pflegehilfe. Zudem erläutert Houellebecq sprachlich wie inhaltlich stilsicher wirtschaftliche und politische Hintergründe, die zu dieser Misere geführt haben.

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Typisch Provokateur, typisch Houellebecq, könnten wir jetzt sagen. Für einzelne Heime mögen die beschriebenen schrecklichen Zustände wohl zutreffen. Aber nicht für die Langzeitpflege im Allgemeinen. Außerdem spielt Houellebecqs Roman im Jahr 2026 und dürfte daher mehr apokalyptische Zukunftsvision sein als realistische Bestandsaufnahme.

Doch typisch Houellebecq ist eben auch: Der 65-Jährige hat ein verlässliches Gespür für den Zeitgeist und gesellschaftliche Entwicklungen. Der Mann, den sie in der Schule »Einstein« nannten, bewies mit mehreren Büchern prophetische Qualitäten. Im Roman »Plattform« (2001) überfallen islamische Terroristen einen sündigen Urlaubsclub im Fernen Osten und töten 117 Menschen. Etwas mehr als ein Jahr später töteten islamische Terroristen auf Bali 202 Touristen.

Michel Houellebecq im Kulturmagazin »ttt«

https://youtu.be/lRhL7PsLoKQ
Quelle: YouTube

Einen Tag nach der Veröffentlichung seines Romans »Unterwerfung« (2015) über den Vormarsch des Islamismus kam es in Paris zum Attentat auf das Satiremagazin »Charlie Hebdo«. Im September 2019 lieferte Houellebecq das Manuskript ab zum Roman »Serotonin«. Darin lässt er die Verlierer des Neoliberalismus gegen die Staatsgewalt aufbegehren und Straßenblockaden errichten. Zwei Monate danach blockierten die Gelbwesten Frankreichs Straßen.

Wird also Houellebecqs apokalyptische Zukunftsvision in drei Jahren Realität sein? Das Buch endet versöhnlich: Zwar erkrankt Paul unheilbar an Krebs. Doch auch er trifft auf kompetente und empathische Ärzte und Pflegende. In Nachwort bedankt sich Houellebecq bei seinen medizinischen Informanten und drückt diesen fleißigen Berufsleuten seine Hochachtung aus. In den gleichen Zeilen kündigt er seinen Rückzug als Schriftsteller an – etwas, das er auch mit der Art der Erkrankung seiner Hauptfigur metaphorisch ankündigt.

Statt depressiv und inaktiv auf das Eintreten der houellebecq’schen Prophezeiungen zu warten, erfreuen wir uns an den engagierten Menschen, die den Roman »Vernichten« bevölkern. Das Nachwort des Buches bringt es auf den Punkt: Es sind immer Menschen, die »es« ausmachen. Auch das schlimmste System kann durch menschliches Engagement ausgebremst werden. Wir werden auf diesem Kanal nicht aufhören, die Kommerzialisierung und Industrialisierung der Pflege zu kritisieren. Vielleicht ist die Wirklichkeit ja so banal wie Kalendersprüche: Steter Tropfen höhlt den Stein.