Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben - demenzjournal.com

Buchtipp

Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben

Oskar Seyfert bricht die Stille der Young Carer mit seinem Erlebnisbericht über seinen an Alzheimer erkrankten Vater. Marianne Moosherr

Oskar ist elf, als sein Vater an Alzheimer erkrankt. In seinem authentischen Buch erzählt der heute Sechzehnjährige, was sich dadurch verändert hat.

Oskar Seyfert ist es gewohnt, dass das Leben einfach ist. Seine Familie verbringt den Urlaub in der Karibik, er und seine Geschwister haben erfüllende Hobbys, sind gut in der Schule und beliebt. Die grösste Hürde für den damals Elfjährigen: das Schwimmabzeichen in Silber machen.

Dann kommt sie, die «erste richtige Prüfung» ihres Lebens: Oskars Vater wird dement, mit gerade einmal 54 Jahren. Er gehört damit zu den Frühbetroffenen, die noch mitten im Leben stehen, Familie und Beruf haben.

Was das für den Betroffenen, aber auch für dessen Kinder heisst, schildert Oskar Seyfert in seinem Buch «Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben».

Das Thema Demenz ist zurzeit medial präsent durch mehrere Filme mit hochkarätiger Besetzung, darunter etwa «The Father» mit Anthony Hopkins oder «Supernova» mit Stanley Tucci und Colin Firth. Die Situation von Young Carers hingegen, jungen sorgenden Angehörigen, erhält weiterhin wenig Aufmerksamkeit. Oft genug nehmen sie ihre Rolle als normal an, sodass ihre Belastung dem Umfeld – namentlich Lehrpersonen – entgeht.

Gerade deshalb ist Oskar Seyferts Buch so wichtig. Auf knapp 60 Seiten gibt es Einblick in die Perspektive des Kindes, das den Vater als Vorbild verliert. Die Sprache ist einfach und direkt und berührt durch den simplen Fakt, dass das Erzählte wahr ist.

Die Eltern loslassen

Eltern

Was ist, wenn ihr nicht mehr da seid?

Der Tod der Eltern gehört zum Schlimmsten, was man sich vorstellen kann. Unser Autor fürchtet sich schon lange davor. Höchste Zeit also, mit … weiterlesen

Die Entzauberung der Eltern kommt auf uns alle zu. Bei Oskar ist der Zeitpunkt etwas schneller da. Immer wieder schimmert in den Zeilen sein Stolz auf den Vater durch, der als Arzt vielen Menschen das Leben gerettet hat. Der seine hektische Arbeit unterbricht, um dem Sohn in einem Augenblick seelischer Not beizustehen. Oder verbotenerweise ins Zoogehege klettert, um den Kindern eine Feder zu bringen.

Und dann erlebt er dessen Hilflosigkeit angesichts der Krankheit, seinen kognitiven Verfall. Zum ersten Mal sieht Oskar seinen Vater weinen, kurz nach der Diagnose.

Es ist der Moment, in dem Oskar ahnt, dass Alzheimer mehr ist als nur Vergesslichkeit.

Mit dem erschütternden Anblick steigen in Oskar Ängste auf. Die Angst, bald deutlich weniger Geld zu haben. Die Sorge, dass sich die Mutter zwischen Beruf und Familie aufarbeitet. Anfänglich sogar die Befürchtung, der Vater könne sich etwas antun.

Das geschieht nicht. Doch der Vater wird schweigsamer, ist oft traurig. In der Folgezeit beginnt Oskar, Erinnerungen zu sammeln. Als der Vater im Schnitzen eine neue Beschäftigung findet, streift er mit ihm durch den Wald auf der Suche nach geeignetem Material. Die «Stockkunst» wird zu einem gemeinsamen Symbol gegen das Vergessen. Entsprechend passend ist es auch, dass jedem Kapitel eine Fotografie eines Kunstwerks vorangestellt ist.

Er gab mir einen kleinen geschnitzten Stock. Ich fragte, was es damit auf sich hatte, und er versuchte zu antworten, aber schaffte es nicht. Der Stock war nicht sonderlich schön und sah nicht aus, als ob er etwas Besonderes sei, aber als ich später wieder in meinem Zimmer war, musste ich weinen. (…) Mich hat das so berührt, weil ich wusste, dass er mich immer noch trotz seiner Krankheit lieb hat, und das ist einfach ein so tolles, einzigartiges Gefühl, das mir diese Krankheit nicht nehmen kann! (S. 38)

Noch kann sich der Vater selbständig anziehen und alleine essen. Doch mittlerweile sind viele Namen und Zusammenhänge aus seinem Gedächtnis verschwunden. Wie lange wird es dauern, bis er sich nicht mehr an seine Kinder erinnert?

Diese Vorstellung ängstigt Oskar – und natürlich seinen Vater, der sich seiner Verluste noch bewusst ist und darunter leidet. Längeren Gesprächen kann er nicht mehr folgen.

«Zum Teil seufzt er einfach, wenn einer im Raum etwas sagt. Dafür muss er ja nicht verstehen, was gerade das Thema ist», erzählt Oskar in seinem Buch. «Ich glaube, er bewältigt damit seine Situation. Er ist lieber der Genervte als der Vergessliche.»

In «Das Privileg, einen kranken Vater zu haben» schildert Oskar Seyfert aber nicht nur, wie die Erkrankung das Familienleben verändert hat. Er denkt auch darüber nach, was einen guten Vater ausmacht und welche «positiven Folgen» sich selbst aus einem solchen Schicksalsschlag ergeben. Es ist ein schönes, wertvolles Zeugnis, das Oskar hier über seinen Vater ablegt, und ein berührender Einblick in die Seele eines Young Carer.