In den Kriegsjahren 1939 bis 1945 war Österreich unter dem Namen Ostmark Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs. Der damalige Alltag ist von den Menschen überaus unterschiedlich wahrgenommen worden. Man stösst in Befragungen einerseits auf familiäre Tradierungsmuster wie Opfer- und Heldengeschichten sowie Distanzierung und Dämonisierung. Anderseits ist Antisemitismus weitergegeben worden, aber auch Ausblendungen und Tabus kommen vor.
Klar ist: Noch jahrzehntelang herrschte das Bild vor, Österreich sei das erste Opfer Hitlerdeutschlands gewesen. Damit rechtfertigten die Zeitgenossen, die das Geschehene nicht wahrhaben wollten, den «Pakt des Schweigens». Einleitend möchte ich die Bilanz der mörderischen Herrschaft Adolf Hitlers für Österreich anführen: Rund 65’000 österreichische Juden, etwa 11’000 österreichische «Zigeuner» (Roma und Sinti) sowie 25 000 Euthanasieopfer sind im Zuge des rassistischen Vernichtungsprogramms ermordet worden.
Ausserdem kamen rund 250’000 österreichische Wehrmachtssoldaten sowie an die 24’000 Zivilisten ums Leben. Zusätzlich mussten 580 640 zur Arbeit gezwungene Menschen (Polen, Ukrainer, Russen, Tschechen etc.) in der Landwirtschaft oder Industrie schuften. Eines der grössten Arbeits- und Vernichtungslager, das Konzentrationslager Mauthausen, lag auf österreichischem Gebiet.
Menschen und ihre Prägung verstehen
Die Verfolgten
Vor dem Anschluss an Deutschland 1938 lebten 185’250 Juden in Österreich. Im September 1939 waren es nur mehr rund 66’000, nach der Shoa noch 8552. Jüdische Kinder durften in dieser Zeit keine öffentlichen Schulen besuchen. Den Familien war das Aufsuchen eines Parks oder eines Kinos strengstens verboten.
Ein «arischer» Arzt durfte keine Juden behandeln, und einheimische Geschäftsleute durften keine Waren an sie verkaufen.
Zigtausende österreichische Juden, darunter viele Kinder, wurden in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet. Dort machten oft österreichische Wärter Dienst.
Auf österreichischem Gebiet gab es unter anderem das grosse «Zigeunerlager» in Lackenbach (Burgenland). Von dort wurden österreichische Männer, Frauen und Kinder in Lager im Osten deportiert und dort umgebracht. Auch Hopfgarten in Tirol (Brixental) diente als «Zigeuner-Sammellager».
Der Ariernachweis
Die nationalsozialistische Gesellschaft unterschied «Arier» von «Nichtariern». Diese Unterscheidung fand ihre praktische Umsetzung im «Ariernachweis», auch Ahnenpass oder Abstammungsnachweis genannt. Dieses pseudowissenschaftliche Papier gab darüber Auskunft, ob man «deutschblütig» (arisch), «Mischling 2. Grades», «Mischling 1. Grades» oder «Jude» zu sein hatte.
Neben den oben genannten Bevölkerungsgruppen, die mit dem Ariernachweis ausgegrenzt wurden, waren noch zahlreiche andere von der Verfolgung betroffen: Die «Bibelforscher» (Zeugen Jehovas) wurden ebenso Opfer der Gewalt wie homosexuell veranlagte Menschen.
Roma und Sinti – die «österreichischen Zigeuner»
Karl Stoika kam in Wampersdorf im Burgenland als Kind einer Roma-Familie zur Welt. Die Gestapo der Nazis holte ihn aus der Schule, als er 11 Jahre alt war. Dann verlud man die Gefangenen in Viehwaggons und transportierte sie ins «Zigeunerfamilienlager» nach Auschwitz/Birkenau (Polen). 83 Menschen wurden in einen Waggon gepfercht. Stoika erzählt: «Hitler hat meinen Vater und meinen kleinen Bruder umgebracht.
Von den 83 Personen in meinem Waggon überlebten die Fahrt gerade mal 50 Leute. Gleich am zweiten Tag ist ein Kleinkind gestorben, weil seine Mutter keine Milch hatte. Am Nachmittag sind noch zwei weitere Kinder an Durst gestorben.» Karls Bruder Ossi war erst 6 Jahre alt, als er in Birkenau an Flecktyphus erkrankte und starb. Schliesslich wurde Karl Stoika von der 3. US-Armee befreit. Er überlebte.
«Seelsorge sollt ihr betreiben!»
Die NS-Ideologie wollte allgemein die Religion vernichten und an deren Stelle den Nationalsozialismus setzen. Die Bischöfe und Priester der katholischen Kirche forderten anfangs die österreichischen Katholiken dazu auf, für Hitler zu stimmen. Dies war für die Nationalsozialisten ein voller Erfolg. Erst nach gewalttätigen Vorfällen im Herbst 1938 regte sich in der katholischen Kirche ein gewisser Widerstand. Priester erzählen über den Alltag in dieser Zeit: «Seelsorge sollt ihr betreiben! Lasst euch nicht mit Nationalsozialisten ein! Keine öffentlichen Auftritte mit NS-Bürgermeistern!», habe man gehört. Dies zeigt, dass sich die österreichische Kirche eher passiv verhalten hat.
Nur wenige Priester, Nonnen und Laien leisteten wirklichen Widerstand.
Es gab diese mutigen Personen aber. Zu nennen sind Franz Jägerstätter und Helene Kafka, die für ihren Glauben starben.
Der politische Widerstand formierte sich in den Reihen der vor 1938 gewählten demokratischen Bürgermeister, Abgeordneten etc. Die Nationalsozialisten schalteten ihn bereits am 1. April 1938 mit dem «Prominententransport» ins KZ Dachau aus. Er sollte sich erst gegen Ende des Krieges neu formieren, zum Beispiel in der Gruppe «O5». Die Kärntner Slowenen, die von den deutschsprachigen, nationalsozialistischen Kärntnern als «Partisanen» verunglimpft wurden, waren ebenfalls Opfer der Verfolgung. Sie gehen heute oft vergessen.
Willfährige Helfer
«Hier trägst du mit! – Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50’000 Reichsmark.» Solche und andere mit abscheulichen Darstellungen illustrierte propagandistische Aussagen gehörten zum Alltag. Sie bereiteten in der Mehrheitsbevölkerung den Nährboden für die Aussonderung und Vernichtung sogenannt unwerten Lebens.
Gemeint waren geistig und körperlich behinderte Menschen, aber auch verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche (rund 700 an der Zahl). Sie mussten am Spiegelgrund in Wien (heute Otto Wagner-Spital) leiden und teilweise sterben.
Die rund 18’000 in Hartheim (Oberösterreich) unter dem Codewort «Aktion T4» getöteten österreichischen Euthanasieopfer hatten Sterilisierungen, medizinische Versuche und andere Abscheulichkeiten zu erdulden. Hitler fand in seinem Geburtsland willfährige Helfer, die derartige Taten erst möglich machten. Für zigtausende Österreicher gilt: «Mauthausen war überall.»
Der Alltag der Kinder
Nachdem im März 1938 die Nationalsozialisten die Macht in Österreich übernommen hatten, veränderte sich das alltägliche Leben schlagartig. Die Jugenderziehung, die Freizeitgestaltung, die Bildung und die Unterhaltung waren in den Händen der neuen Machthaber. Die HJ (Hitlerjugend) und der BdM (Bund deutscher Mädel) waren die Jugendorganisationen. Deren 14- bis 18-jährige Mitglieder trugen Uniformen. Die Knaben trieben Sport und erlernten mit Drill sowie paramilitärischen Übungen den Umgang mit Waffen. Das Erlernen von «fraulichen Tätigkeiten» wie Näh- und Strickarbeiten, Kochen und Maschinenschreiben war das Ziel der Mädchen.
In der Schule unterrichteten viele Lehrer nach nationalsozialistischen Vorgaben. Eine Frau berichtet:
«Wir wurden andauernd auf Hitler eingeschworen. Man durfte nicht mehr Grüss Gott sagen. Nun war Heil Hitler zur Grussformel geworden.»
Um die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, führten die Nationalsozialisten das «Pflichtjahr» ein. Nun mussten 14-jährige Mädchen ohne Lohn als Kindermädchen, Haushaltshilfe, im sozialen Dienst oder in der Landwirtschaft arbeiten. Sie bekamen nur ein Taschengeld. Was als Arbeitsbeschaffungsmassnahme begonnen hatte, endete in einem Arbeitszwang.