alzheimer.ch: Sie sind Musikerin, Forscherin und beraten als Psychologin Menschen mit Demenz – ein ungewöhnlicher Mix. Wie sind Sie dazu gekommen, sich für Demenz zu interessieren?
Dr. Sarah Straub: Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu meiner Oma, die an Demenz erkrankt ist, als ich 20 war. Als Kind hatte ich viel Zeit bei ihr verbracht. Die Krankheit war für mich sehr einschneidend, und ich hätte meine Grossmutter gern selbst gepflegt. Da ich aber zu der Zeit studiert habe und fast drei Autostunden von ihr entfernt lebte, musste ich sie in eine stationäre Pflegeeinrichtung geben. Dort verbrachte ich mit ihr jedes Wochenende.
Welche Erinnerungen haben Sie an diese Besuche, wie weit hat sich das Verhältnis zu Ihrer Oma verändert?
Wenn ich zu ihr gekommen bin, stand sie immer schon am Eingang und hat mich gefragt, wann wir endlich nach Hause fahren. Sie war richtig böse auf mich, wenn ich sie nicht mitgenommen habe. Ab und zu habe ich sie dann ins Auto gesetzt und tatsächlich mit nach Hause genommen. Einmal wollte sie dort eine Suppe aufwärmen, stellte eine Tupperdose auf den Herd, die dann natürlich unter der Hitze schmolz.
Für mich waren die Besuche bei ihr immer zwiespältig: Natürlich hat sie sich gefreut, mich zu sehen, andererseits war ich immer der Trigger, der bei ihr die Reaktion auslöste: Ich will nach Hause. Das fand ich schrecklich, weil ich das Gefühl hatte, dass ich sie eben auch unglücklich machte.
Wussten Sie damals, was Demenz ist?
Ich wusste kaum etwas und hatte Mühe, die Reaktionen meiner Grossmutter zu verstehen. Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass auch die Pflegekräfte im Heim nicht angemessen mit ihr umgegangen sind.
Für die Pfleger:innen war meine Oma nur die nervige alte Frau, die immer wegwollte.
Keiner hat sich darum gekümmert, dass sie auch etwas Lebensqualität erfährt. Ich fand das würdelos.
Wie sind Sie dazu gekommen, in das Thema Demenz weiter einzusteigen?
Ich hatte das Gefühl, es meiner Oma schuldig zu sein, mehr zu erfahren, mich zu engagieren, damit es anderen Betroffenen besser ergeht als ihr. Deshalb habe ich später auch den Ratgeber «Wie meine Großmutter ihr Ich verlor» geschrieben.
Zunächst habe ich am Universitätsklinikum Ulm eine Forschungsstelle angetreten und über Demenzerkrankungen promoviert. Später habe ich als Psychologin mit betroffenen Patient:innen und ihren Angehörigen gearbeitet. Einer meiner Schwerpunkte ist FTD, Frontotemporale Demenz, die schon relativ früh beginnen kann. Häufig ist das Sozialverhalten der Betroffenen gestört, einige entwickeln fortschreitende Sprachstörungen.
Wie ist das Verhältnis zu Ihren Patient:innen?
Ich habe das Gefühl, sie kommen gern zu mir. Ich habe zum Beispiel einen Patienten, der Ende 50 ist und von Beruf Geiger war. Er hat eine bestimmte Form der Frontotemporalen Demenz, kann kaum noch sprechen und ist verhaltensauffällig. Wenn er bei uns in der Klinik Geige spielen darf, ist er glücklich.
Ich versuche jedem das Gefühl zu geben, mit ihm auf Augenhöhe zu sprechen. Viele duzen mich, fassen mich an. Ich bin nicht schockiert, sondern gebe den Patienten das Gefühl, dass das in Ordnung ist.
Sie machen darüber hinaus ehrenamtlich eine online-Sprechstunde für Angehörige. Müssen Sie da jederzeit erreichbar sein?
Es passiert schon mal, dass nachts eine Anfrage kommt, aber ich muss ja nicht sofort antworten. Trotzdem versuche ich, einigermassen zeitnah zu reagieren, viele Angehörige sind wirklich in Not.
Was für Anfragen kommen da?
Oft melden sich Angehörige, bei denen die Partnerin oder ein Elternteil noch zu Hause lebt. Da kommen Fragen wie: «Meine Mutter will immer wieder wissen, wo ihr verstorbener Mann ist, wie soll ich darauf reagieren?»
Viele Angehörige sind mit der Situation überfordert.
Ich leite auch eine Angehörigen-Gruppe, in der es häufig um Patienten mit FTD geht. Die Symptome sind wahnsinnig vielfältig, die Verläufe individuell. Ich verbringe viel Zeit damit, Fragen zu beantworten, und versuche zu entlasten. Beispielsweise entwickeln im Verlauf viele Betroffene Schluckstörungen, das verkompliziert den Alltag enorm, und das Risiko für medizinische Komplikationen ist gross. Da kann ich dann Tipps geben, welche Ernährung passend ist.