Aus der Demenzberatung auf die Bühne - demenzjournal.com

Sarah Straub

Aus der Demenzberatung auf die Bühne

Sarah Straub hält ihr Buch

Die Erkrankung ihrer Grossmutter gab den Anstoss: Heute engagierte sich Sarah Straub auf vielfältige Weise für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Peter Neher

Nachts steht sie auf der Bühne, morgens streift sie den Arztkittel über: Sarah Straub ist Sängerin, Psychologin und Demenz-Beraterin. Ein ungewöhnliches Doppelleben, das ihr eine Menge gibt.

alzheimer.ch: Sie sind Musikerin, Forscherin und beraten als Psychologin Menschen mit Demenz – ein ungewöhnlicher Mix. Wie sind Sie dazu gekommen, sich für Demenz zu interessieren?

Dr. Sarah Straub: Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu meiner Oma, die an Demenz erkrankt ist, als ich 20 war. Als Kind hatte ich viel Zeit bei ihr verbracht. Die Krankheit war für mich sehr einschneidend, und ich hätte meine Grossmutter gern selbst gepflegt. Da ich aber zu der Zeit studiert habe und fast drei Autostunden von ihr entfernt lebte, musste ich sie in eine stationäre Pflegeeinrichtung geben. Dort verbrachte ich mit ihr jedes Wochenende.

Welche Erinnerungen haben Sie an diese Besuche, wie weit hat sich das Verhältnis zu Ihrer Oma verändert?

Wenn ich zu ihr gekommen bin, stand sie immer schon am Eingang und hat mich gefragt, wann wir endlich nach Hause fahren. Sie war richtig böse auf mich, wenn ich sie nicht mitgenommen habe. Ab und zu habe ich sie dann ins Auto gesetzt und tatsächlich mit nach Hause genommen. Einmal wollte sie dort eine Suppe aufwärmen, stellte eine Tupperdose auf den Herd, die dann natürlich unter der Hitze schmolz.

Für mich waren die Besuche bei ihr immer zwiespältig: Natürlich hat sie sich gefreut, mich zu sehen, andererseits war ich immer der Trigger, der bei ihr die Reaktion auslöste: Ich will nach Hause. Das fand ich schrecklich, weil ich das Gefühl hatte, dass ich sie eben auch unglücklich machte.

Wussten Sie damals, was Demenz ist?

Ich wusste kaum etwas und hatte Mühe, die Reaktionen meiner Grossmutter zu verstehen. Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass auch die Pflegekräfte im Heim nicht angemessen mit ihr umgegangen sind.

Für die Pfleger:innen war meine Oma nur die nervige alte Frau, die immer wegwollte.

Keiner hat sich darum gekümmert, dass sie auch etwas Lebensqualität erfährt. Ich fand das würdelos.

Wie sind Sie dazu gekommen, in das Thema Demenz weiter einzusteigen?

Ich hatte das Gefühl, es meiner Oma schuldig zu sein, mehr zu erfahren, mich zu engagieren, damit es anderen Betroffenen besser ergeht als ihr. Deshalb habe ich später auch den Ratgeber «Wie meine Großmutter ihr Ich verlor» geschrieben.

Zunächst habe ich am Universitätsklinikum Ulm eine Forschungsstelle angetreten und über Demenzerkrankungen promoviert. Später habe ich als Psychologin mit betroffenen Patient:innen und ihren Angehörigen gearbeitet. Einer meiner Schwerpunkte ist FTD, Frontotemporale Demenz, die schon relativ früh beginnen kann. Häufig ist das Sozialverhalten der Betroffenen gestört, einige entwickeln fortschreitende Sprachstörungen.

Wie ist das Verhältnis zu Ihren Patient:innen?

Ich habe das Gefühl, sie kommen gern zu mir. Ich habe zum Beispiel einen Patienten, der Ende 50 ist und von Beruf Geiger war. Er hat eine bestimmte Form der Frontotemporalen Demenz, kann kaum noch sprechen und ist verhaltensauffällig. Wenn er bei uns in der Klinik Geige spielen darf, ist er glücklich.

Ich versuche jedem das Gefühl zu geben, mit ihm auf Augenhöhe zu sprechen. Viele duzen mich, fassen mich an. Ich bin nicht schockiert, sondern gebe den Patienten das Gefühl, dass das in Ordnung ist.

Sie machen darüber hinaus ehrenamtlich eine online-Sprechstunde für Angehörige. Müssen Sie da jederzeit erreichbar sein?

Es passiert schon mal, dass nachts eine Anfrage kommt, aber ich muss ja nicht sofort antworten. Trotzdem versuche ich, einigermassen zeitnah zu reagieren, viele Angehörige sind wirklich in Not.

Was für Anfragen kommen da?

Oft melden sich Angehörige, bei denen die Partnerin oder ein Elternteil noch zu Hause lebt. Da kommen Fragen wie: «Meine Mutter will immer wieder wissen, wo ihr verstorbener Mann ist, wie soll ich darauf reagieren?»

Viele Angehörige sind mit der Situation überfordert.

Ich leite auch eine Angehörigen-Gruppe, in der es häufig um Patienten mit FTD geht. Die Symptome sind wahnsinnig vielfältig, die Verläufe individuell. Ich verbringe viel Zeit damit, Fragen zu beantworten, und versuche zu entlasten. Beispielsweise entwickeln im Verlauf viele Betroffene Schluckstörungen, das verkompliziert den Alltag enorm, und das Risiko für medizinische Komplikationen ist gross. Da kann ich dann Tipps geben, welche Ernährung passend ist.

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Gibt es Beispiele aus Ihrer online-Sprechstunde, die Ihnen besonders unter die Haut gegangen sind?

Ich hatte vor Kurzem eine Betroffene mit FTD, um die 60 Jahre alt. Der Ehemann war überfordert, auch weil seine Frau wahnsinnig unruhig war, niemals sitzen blieb, nicht schlief. Das war ein 24-Stunden-Job für den Mann. Sie kam dann in eine stationäre Pflegeeinrichtung und ist von dort nachts weggelaufen, wollte wieder nach Hause. Die Polizei wurde eingeschaltet und die Frau in die Einrichtung zurück gebracht. Am folgenden Tag hat das Heim den Vertrag gekündigt, also die Frau buchstäblich vor die Tür gesetzt. Der Mann war völlig verzweifelt, weil er nicht wusste, wie er zu Hause mit seiner Frau umgehen sollte. So etwas macht mich fassungslos.

Betroffen hat mich auch die Geschichte einer Familie gemacht, in der der Vater schon mit Mitte 40 an FTD erkrankt war. Seine Kinder, die noch zur Schule gingen, mussten erleben, wie sich ihr Vater immer mehr verändert. Es hat lange gedauert, bis überhaupt klar war, was mit ihm los ist, warum er sich immer mehr von seiner Familie distanzierte. Keiner hat erst mal an eine Demenz gedacht. Gerade wenn Menschen sehr jung erkranken, erleben die betroffenen Familien oft eine lange Odyssee von Arzt zu Arzt, bis die richtige Diagnose gestellt ist.

Ist die Beratung bei jüngeren Betroffenen anders als bei älteren Menschen, die eine Demenz bekommen?

Sicher, vor allem, wenn die Patienten noch im Beruf stehen. Wenn sie dann verrentet werden, haben sie grosse Abzüge, das ist für die Familie eine grosse finanzielle Belastung. Ich ermutige manche, mit ihren Chefs zu sprechen, ob sie womöglich noch eine Zeitlang im Betrieb bleiben können.

Es ist ja nicht so, dass eine Demenzdiagnose von jetzt auf gleich bedeutet, dass man keine Leistung mehr erbringen kann.

Viele Patienten könnten sehr wohl noch eine Zeit lang zumindest einfacheren Tätigkeiten nachgehen. Das würde ihnen Teilhabe ermöglichen und eine Tagesstruktur gewährleisten. Ich finde es sehr wichtig, alle Möglichkeiten für die Betroffenen auszuloten.

Können Sie denn auch etwas von Ihren Patient:innen lernen?

Absolut, jeden Tag. Viele haben einen unverstellten Blick auf die Welt, ich empfinde sie als entwaffnend ehrlich, weil sie nicht mehr eine Fassade aufrecht halten können. Man kann mit diesen Menschen viele wertvolle Momente erleben, wenn man sich zum Beispiel Zeit nimmt und sie an ihre Biografie heranführt.

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Wie kann das gehen?

Ich habe meinen älteren Patientinnen gelegentlich eine Flasche Kölnisch Wasser 4711 mitgebracht. Sie kannten diesen Duft schon seit langem, auch meine Oma roch immer danach. Plötzlich fingen Frauen an zu reden, die vorher überhaupt nicht mehr gesprochen hatten. Solche Momente sind magisch und geben mir sehr viel.

Können Sie auch Geduld von Ihren Patient:innen lernen?

Auf jeden Fall, ich bin ein eher ungeduldiger Mensch. Wenn man mit den Betroffenen zusammen ist, lernt man, sich Zeit zu nehmen, es zuzulassen, dass Dinge länger dauern. Man muss ihnen auch mal 30 Sekunden Zeit geben, um zu antworten, dann kommt oft eine passende Antwort.

Wenn Sie Gesundheitsministerin wären: Was würden Sie für Menschen mit Demenz verbessern?

Ich würde die Hausärzt:innen verpflichten, den Patient:innen eine umfassende Erstberatung zu geben, und sie dann an einen spezialisierten Facharzt zu überweisen.

Es ist nicht richtig, wenn Allgemeinärzte nur mithilfe eines Kurzscreenings eine allgemeine Diagnose «Demenz» vergeben und die Betroffenen dann nach Hause schicken.

Ohne zu wissen, ob es überhaupt eine neurodegenerative Erkrankung ist. Ohne Fahrplan, wie es weitergeht, ohne Therapieempfehlung. Ich würde ausserdem die Hausärzt:innen verpflichten, sich mit Pflegestationen und Beratungsstellen in der Region zu vernetzen und abzusprechen. Das würde es den betroffenen Familien so viel leichter machen, an wichtige Informationen und Unterstützungsmöglichkeiten zu kommen.

Sie beraten nicht nur Demenzpatient:innen, sondern sind im zweiten Beruf Sängerin. Seit ein paar Jahren arbeiten Sie mit Konstantin Wecker zusammen. Wie ist es dazu gekommen?

Ich habe Konstantin 2016 auf einem Festival kennengelernt und war wahnsinnig beeindruckt von seinem Auftritt. Er hat meine Musik ebenfalls geschätzt und wurde sogar eine Art Mentor für mich. Gelegentlich treten wir bei Konzerten zusammen auf. Ich habe ein Lied über Demenz geschrieben, es heißt «Schwalben». Konstantin und ich haben es im Studio als Duett aufgenommen und singen es bei unseren Auftritten gemeinsam.

Wie kommt das bei den Zuhörern an? 

In dem Lied geht es um ein Ehepaar, der Mann ist an Demenz erkrankt. Es ist ein trauriges Lied, eine Hommage an die pflegenden Angehörigen. Viele Zuschauer reagieren sehr emotional, manche weinen sogar, sind sehr dankbar, dass ich ihnen als Pflegende eine Stimme gebe. Das bestärkt mich darin, das Thema Demenz auch in meine Musik aufzunehmen.

Ist es für Sie ein Spagat, den Anforderungen Ihrer verschiedenen Berufe gerecht zu werden?

Bestimmt. Ich habe eine Sieben-Tage-Woche, die mich schon an Grenzen bringt. Ich gehe oft spät am Abend von der Bühne und ziehe früh am nächsten Morgen in der Klinik meinen Arztkittel an. Aber letztlich ist das für mich okay, ich liebe beide Berufe und bekomme sehr viel zurück.

Ihre neue Single widmet Sarah Straub zusammen mit Konstantin Wecker den pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz.