Du bist nicht deine Krankheit! - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (16)

Du bist nicht deine Krankheit!

Segelschiff vor Küste

Als junger Mann zog es Bernd Martens über die Nordsee nach England. Bild Unsplash

Den Menschen Bernd sehen – und nicht seine Krankheit: Heute erzählt uns Birgit, wie der junge Ingenieur aus dem Norden in Köln arbeitete und dann in einem englischen Pub Bier ausschenkte.

24. Oktober 2022

Ich will von dir erzählen, als du noch nicht in den Fängen von Monsieur A. warst. Gerade, weil der sich in der Gegenwart immer stärker in den Vordergrund spielt, möchte ich dich hier auch ohne ihn auf die Bühne holen. Du bist nicht deine Krankheit! Ich habe gelesen, dass auch in der institutionellen Pflege immer mehr Wert auf die sogenannte Biografie-Arbeit gelegt wird, jedenfalls in der Theorie. Ob bei dem herrschenden Personalmangel auch in der Praxis dafür die Zeit bleibt?

Wie auch immer: Ich als Ein-Personen-Personal nehme sie mir möglichst oft. Ich spreche mit dir über das, was du erlebt hast, um es noch möglichst lange in dir zu verankern. Aber mir ist auch wichtig, dass andere in dir nicht nur den Alzheimer-Patienten sehen, sondern den ganzen Menschen mit seiner Geschichte. Diese Geschichte ist in der zweiten Hälfte deines Lebens untrennbar mit meiner verbunden.

Doch was weiß ich über die erste Hälfte, über die Zeit, in der wir uns noch nicht kannten?

Nach deiner Seefahrtszeit bist du auf die Fachoberschule und danach auf die Fachhochschule in Hamburg gegangen und hast dort 1970 dein Diplom als graduierter Ingenieur erworben. Deine Fachrichtung war der Maschinen- und Anlagenbau. Deine erste Arbeitsstelle als Ingenieur hast du bei Beyer in Köln angetreten.

Dürre Daten aus deinem Lebenslauf. Weiß ich nicht mehr über diese Zeit in deinem Leben? Ein bisschen schon. Du hast in Köln Anschluss an eine Clique gefunden, hast du mal erzählt, hauptsächlich Arbeitskollegen. Du Nordlicht hast sogar Karneval mitgefeiert (ein paar rotstichige Fotos zeugen davon) und es gab eine Karin, von der ein paar Briefe erhalten sind. Das war deine erste feste Beziehung, die so fest jedoch nicht war. Es tauchte ein junger Engländer auf, dem die anglophile Karin prompt verfiel und dem sie ohne pomp and circumstances in sein Heimatland folgte.

Daran hatte ich schon ein bisschen zu knabbern, so hast du es mir gegenüber ausgedrückt, als wir am Anfang unserer festen Beziehung über unsere Vorleben sprachen. Wie ich dich kenne, drückt dieser Satz heftigsten Liebeskummer aus.

👉 Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

Erstaunlicherweise hast du dich kurze Zeit darauf entschieden, deine gut bezahlte Stelle als Ingenieur bei Beyer aufzugeben und ebenfalls nach Großbritannien zu gehen. Ausgerechnet ins Land deines Rivalen? Das fand ich sehr seltsam.

Hast du heimlich gehofft, Karin doch noch zurückholen zu können?

Das sei nicht der Fall gewesen, hast du beteuert und ich erinnere mich an deine Erklärungen wie: Ich wollte mein Englisch aufbessern, einfach mal woanders hin, mir den Wind um die Ohren wehen lassen.

25. Oktober 2022

Wie auch immer es gewesen sein mag: Du bist rüber auf die Insel und hast zuerst in Sussex als Bedienung in einem Pub gearbeitet. Dabei hast du nicht nur die englischen Biersorten unterscheiden gelernt, sondern auch, wie Menschen sortiert wurden. Der Pub war unterteilt in die Public bar und die Saloon bar. Die Public bar war rustikal eingerichtet mit Bänken und Stühlen aus Holz und wurde hauptsächlich von der working class nach Feierabend frequentiert. In der Saloon bar gab es gepolsterte Bänke und Sessel, man konnte etwas verzehren, das Bier war teurer und hier trafen sich die white-collar workers. Natürlich stand es jedem frei, auch in den anderen Teil des Pubs zu gehen, aber die Freiheit nahm sich niemand.

Du hast in der Public bar bedient und bist von den meisten Gästen schnell akzeptiert worden. Sie lachten über dein unbeholfenes Englisch, aber sie lachten dich nicht aus, sondern scherzten mit dir und wenn nötig, halfen sie dir, die vielen Biersorten zu unterscheiden und wie man sie jeweils einzuschenken hatte. Bald beherrschtest du diese Wissenschaft und wusstest auch, wer wann was bekam, wenn er nur den Finger hob. Nur ein Gast legte es regelmäßig darauf an, dich auflaufen zu lassen. Der alte Mann, dem ein Arm fehlte, nuschelte eine unverständliche Bestellung, nötigte dich mehrmals nachzufragen, ohne dass sein Wunsch verständlicher wurde, winkte dann ab, ging zur Bar und gab dort seine Bestellung auf.

Don’t mind, beruhigte dich der Barkeeper und klärte dich darüber auf, dass George als Pilot der Royal Air Force gegen die bloody Nazis gekämpft habe: Jetzt verzehrt er seine schmale Rente, während die Krauts mit ihrem Wirtschaftswunder schon wieder den Kopf aus den Trümmern heben. Der würde am liebsten nochmal losfliegen und bei euch alles in Schutt und Asche bomben!

Du hattest Verständnis für Georges Verbitterung und hast versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, ihm zu erklären, dass du am Kriegsende noch ein Säugling warst und  verdammt noch mal kein Nazi seist! George hat dich nur voller Verachtung angeblickt und gefragt: Your father? Dein Gestammel hat er sich gar nicht erst angehört, ist aufgestanden und hat den Pub verlassen.

demenzwiki

Biografie

Die Biografie hilft bei der Betreuung von Menschen mit Demenz. Im späten Stadium der Krankheit sind Begegnung und Beziehung im Hier und Jetzt … weiterlesen

Viele Deutsche unserer Generation haben ähnliche Erlebnisse im Ausland gemacht. Viele haben aber auch einfach aus Angst davor, in eine solche Situation zu geraten, geleugnet, Deutsche zu sein. Ich bin während meiner Studienzeit in den Semesterferien als Rucksacktouristin durch Finnland, Schweden, Dänemark, Frankreich und Griechenland gereist. Per Bahn, per Bus, per Anhalter oder zu Fuß. In den Jugendherbergen trafen sich junge Leute aus ganz Europa und fast alle hatten eine kleine oder auch größere Flagge an ihrem Rucksack.

Uns Deutsche konnte man daran erkennen, dass wir keine Flagge am Rucksack hatten.

Da half es wenig, dass wir beim abendlichen Lagerfeuer unsere Herkunft leugneten und uns als Österreicher, Schweizer, Holländer ausgaben. Die anderen ließen uns in dem Glauben, sie glaubten uns und wir waren ihnen dankbar dafür. Zu tief saß die Scham, aus dem Land zu kommen, das die halbe Welt mit einem brutalen Krieg überzogen und Millionen Menschen in einem systematisch geplanten und bürokratisch organisiertem Massenmord ums Leben gebracht hatte. Und trotz aller differenzierender Reflektion später und der Unterscheidung von Kollektivschuld und kollektiver Verantwortung – noch heute, wenn ich einen Augenblick innehalte und auf die ungeheuren Verbrechen schaue, die von meinem Geburtsland begangen wurden, nein, von Menschen in diesem Land, dann …

27. Oktober 2022

Ich habe gestern den halben Vormittag damit verbracht, diesen Satz sinnvoll zu beenden, einen Ausdruck zu finden für mein Gefühl. Ich habe alles wieder gelöscht. Ich finde auch heute noch keine sprachliche Fassung für das, was mich fassungslos zurücklässt, werde sie wohl in meinem Leben auch nicht mehr finden.

(Fortsetzung folgt.)

Partnerschaft und Demenz

Monsieur A. lässt nicht grüßen

Die Schriftsteller:innen Birgit Rabisch und Bernd Hans Martens sind seit 1980 ein Paar. Seit er vergesslich geworden ist, haben die beiden eine Dreiecksbeziehung … weiterlesen


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

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