Blog Wolkenfische: Susanna hat keine Kraft mehr
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Wolkenfische (14)

Und du hältst deinen grossen Schädel

Demenz Véronique Hoegger

Susanna ist müde und fühlt sich alleingelassen. Sie mag Marc nicht mehr sagen, dass sie seine Frau ist, wenn er in ihrer Gegenwart auf seine Frau wartet.

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Im Gericht der Mütter. Du Fragezeichen, das überall den Makel sieht, kriechst auf deinem Kontrapunkt über den harten Boden und suchst eine Antwort in deinem Keller.

Nein, das neue Jahr beginnt nicht gut! Das alte setzt sich fort, und du hältst deinen Schädel, diesen grossen Schädel, weil er sonst auseinanderbräche.

Und dein Mann, dein Mann fehlt dir in den Eingeweiden, und du verlierst dabei das Gleichgewicht. Ortlose. Im Niemandsunland vergräbst du dich, denn deine Höhle ist kein Zuhause.

Alles musstest du aufgeben: den Mann, das Haus, das Dorf und Freunde, aber dich zuerst.

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Du Unfassbare, wo bist du? Wohin gehörst du, Niemandsmensch, die du in deinen Fesseln liegst? Du bist all die Jahre deinen verdrehten Träumen vom Paradies nachgehangen, und dann, Elende, durch eigene Schuld in deinem Gefängnis gelandet. Und dein Mann ist freudig mitgegangen auf deinen Höllenreisen, da das Leben ja bezahlt sein musste.

Nun hat er einen Ausweg aus seiner Gegenwart gefunden und lässt dich sitzen.

Und da stehst du nun wie ein nacktes Kind unter dem Himmel und weisst nicht weiter, weil sich kein Weg zeigt und kein Pflaster dich mehr trägt. Alles löst sich auf. Du könntest hinausgehen ohne Gepäck und gingest verloren, ohne dass man es merkte, und das wäre nicht weniger leer, als die Leere, in der du dich gerade befindest.

Der Ort, die Sehnsucht, die Tagträume, die Einsamkeitsselbstgespräche, die Begegnungen, die Einladungen – alle sind sie Illusion, da dein Kern, zugeschüttet seit Kindertagen, niemals berührt wird davon.

Du drehst dich um dich selbst im Wirbelsturm, der dein Leben niedermäht, oder besser: das, was du bisher als dein Leben bezeichnet hast. Es wird mit den Wurzeln ausgerissen, und du kannst nur darauf warten, dass der Sturm vorbeizieht, und dich deine Trümmer umgeben in Stille und zerstörtem Neubeginn.

Bete für die, für die du meintest, sorgen zu müssen und bete für deine Freiheit.

»Ich möchte so sein wie du!« sagst du. – (Und wie manches Mal wollte ich so sein, wie du, in den Jahren, als wir zusammen waren!…) »Du bist so wie ich. Du bist hier drin genauso wie ich.« Und ich lege dir meine Hand aufs Herz.

Jedes Mal, wenn du sagst: »Meine Frau sollte heute noch kommen«, sage ich: »Ich bin hier, ich bin deine Frau.« Aber mir ist seit langer Zeit die Selbstverständlichkeit abhanden gekommen zu sagen: »Ich bin deine Frau.«

Vielleicht habe ich uns als Paar verloren, als du im Winter vor zwei Jahren in langen Unterhosen, Pullover und Pantoffeln, auf der verschneiten Dorfstrasse herumgeirrt bist und mich vor dem Gemeindehaus gesucht hast, während ich in einer Sitzung sass. Vielleicht habe ich dich und mich verloren, als ich aus der Fassung geriet, bei jedem Schritt, den du tiefer in deine Welt tratest. Vielleicht erkannte ich mich nicht wieder als deine Frau in der erzwungenen Rolle der Pflegenden. Vielleicht aber auch, weil ich schon lange nicht mehr mit dir im gleichen Bett liege.

Und vielleicht ist dieser Bericht, sind diese zu Mauern verbauten Sätze der sinnlose, bittere Versuch, diese Ehe noch stützen zu wollen, obwohl unsere gemeinsame Zeit bei dir im Heim auch nicht süss wird, wenn wir unsere Köpfe zusammenstecken, und ich deine Hand halte, und du meine küsst.

Arno Geiger

»Auf demenzworld finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.«

Arno Geiger, Schriftsteller

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»Wir sind frei«, hast du oft gesagt. Doch eigentlich war ich wohl frei, weil du frei warst. Nun suche ich den Weg in mein eigenes Leben, lasse mich von dem tragen, was ich nicht kenne, ohne Absicht, ohne Hintergedanken. Und ich bete darum, dass ich dabei nicht untergehe.

(Fortsetzung folgt)