Deine Demenz macht mich wütend - demenzjournal.com

Wolkenfische (7)

Deine Demenz macht mich wütend

Noch habe ich die Hoffnung, dass wir vom Schlimmsten verschont bleiben, solange wir nur zusammen sind. Iden des März, Foto Susanna Erlanger

Durch seine Demenz kehrt Marc zurück ins Fragen, ins Hinterfragen. Er versteht die Welt nicht mehr. Man sagt mir, ich soll dankbar sein, dass er noch so gut sprechen kann. Doch ich sehe, dass es von Tag zu Tag schlimmer wird. Wer fragt mich, wie es mir geht? Wo sind meine Grenzen?

Ich haste durch den Flur, um nachzusehen, ob bei dir alles in Ordnung ist, und hinter meiner Stirn sitzen Sätze, von denen ich nicht mehr weiß, ob ich sie wirklich gesagt habe. Es ist, als ob eine Fremde aus mir herausspräche.

Und dann renne ich davon! Ich ertrage es nicht mehr und renne auf die Dorfstraße, renne zur Bäckerei und in den Laden, und blende aus, dass du allein zuhause bist.

Dem tagelangen, wochenlangen Antworten auf Fragen, auf die immer gleichen Fragen, in aufsäßigem Ton gestellten Fragen, renne ich davon. »Welche Schuhe muss ich anziehen? Soll ich wirklich diese Schuhe anziehen? Weshalb nicht die anderen Schuhe? Warum gerade diese Schuhe? Warum muss ich eine Jacke anziehen?« Und so weiter, und so weiter …

Weglaufen, davonrennen, frei werden. Und nein! Es kommt kein schlechtes Gewissen auf! Es kommt Wut auf – eine erwachsene Wut, die dich als Erwachsenen anspricht! »Bei dir weiß er, dass du ihn nicht fallen lässt«, sagt die Schwägerin später am Telefon. »Deshalb reagiert er in seiner Abhängigkeit so aufsäßig.«

Doch die Scham versagt zu haben, die große Aufgabe des Schicksals nicht gemeistert zu haben, ist trotzdem da.

Ich fliehe meinen Blutsbruder, meinen Liebsten, meinen Mann. Doch mit dem Abstand meiner Flucht erkenne ich auch, wie in umgekehrter Reihenfolge deine Fähigkeiten verloren gehen, Schritt für Schritt. Du kehrst zurück ins Fragen, ins Hinterfragen von Alltäglichem, und nimmst mich in die Pflicht, dir Halt zu geben. Und dabei habe ich immer noch die Hoffnung, dass wir vom Schlimmsten verschont bleiben, solange wir nur zusammen sind.

Anhänglich und zwanghaft

»Ich hab’ dich lieb. Wie geht es dir?« Du streichst mir über den Rücken, immer und immer wieder, sobald ich mich von der Stuhllehne zum Computer vorbeuge. Die Not ist groß und die Leere. »Ich hab’ ja nichts mehr.« Und: »Ich weiß nicht, wie’s weitergeht. Was soll ich machen?« Es sind Sätze, die ich wörtlich nehmen muss.

Wolkenfische

Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.
– Susanna Erlanger

Wir erleben Tage, an denen die Haut sich nach außen kehrt und das Gleichgewicht auf Spitzen geht. An solchen Tagen verbiete ich dir das Wort – auch wenn meine Härte nur eingetauscht wird gegen fünf Minuten Stille. Doch an solche Tage werde ich mich erinnern, wenn du keine immer gleichen Fragen mehr stellen wirst, die sich mir jetzt noch ins Zwerchfell fressen. An solche Tage werde ich mich erinnern …

Und wenn ich dich jetzt einmal wirklich sehe – selten, kurz –, spüre ich den Schmerz bis in die Fingerspitzen, und die Hitze des Erkennens fegt durch mich hindurch.

Ich versuche auszubrechen aus unserer engen Welt, die immer enger und enger wird. Ich habe im Internet zwei Safaristühle ersteigert, und nehme sie zum Anlass für eine Reise im Panoramawagen der Bahn durchs verschneite Gebirge. Wir werden sie in einem anderen Landesteil abholen.

Während der Fahrt nimmst du Weinflasche, Uhr, Handschuhe, Prospekte vom Tisch des Abteils und legst sie wieder hin, nimmst sie vom Tisch und legst sie wieder hin, eins ums andere, wie im Zwang, bis ich sie auf meinen Nebensitz lege, damit du zur Ruhe kommst.

Lies die Geschichte von Marc und Susanna Erlanger

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Das ‹Panorama› fährt viel zu schnell an uns vorbei, als dass es für dich noch entzifferbar wäre. Der Blick aus dem Fenster verwirrt dich. Also strahlst du mich an – und ich strahle nicht zurück, weil sich in der fremden Umgebung deine Krankheit geradezu unverstellt zeigt.

Und auf der Rückreise am nächsten Tag wehrst du dich, durchs Abteil zum Ausgang zu gehen, und wir verpassen unsere Station und stehen zwanzig Minuten auf der Plattform, weil ich den Wagen mit dir nicht noch einmal durchqueren will, wenn wir beim nächsten Bahnhof in den Gegenzug umsteigen müssen.

Die Demenz macht dich orientierungslos

Du findest dich nun auch im Dorf und in dieser Wohnung nicht mehr zurecht. Ich beantrage Hilfe von der Altersbetreuung. Die Frau, die uns vermittelt wird, fragt am Telefon: »Ist er noch am Kämpfen?«, so als ob in dir etwas ist, das bekämpft werden könnte, wo doch nur zählt, dass alles so bleibt wie immer.

Und was würde geschehen, wenn du den Verlust deines Verstands akzeptiertest, wenn du nicht mehr wütend riefst: »Ich bin nicht krank!«?

»Genießen Sie es, solange er noch so gut sprechen kann«, sagt sie, Botin des Unglücks. Um Himmels Willen! Ich wäre froh, sie wäre weniger direkt!

Du sitzt in meiner Schreibstube, die voll ist mit Büchern, die du nicht mehr lesen kannst. Du sitzt im mitgebrachten Safaristuhl, der nun dein Platz geworden ist und der dir Ruhe gibt. Du hast die Augen geschlossen und lauschst Bachs Cellokonzert. Und in die Musik hinein sagst du: »Es ist alles vorbei …«

Noch versuche ich, das drohende Vergessen zu verdrängen, weil Veränderung nicht sein darf. Noch bringe ich uns mit meiner Strenge um unsere verletzte Lebendigkeit.

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Zum dritten Mal setzt du das Badezimmer unter Wasser. Du wirfst Unmengen Papier in die Kloschüssel und spülst, und es verstopft, und du spülst wieder und wieder, weil du hoffst, dass das Papier mit dem Wasser verschwinden würde. Aber das Wasser läuft über den Rand der Schüssel auf den Boden, saugt sich in die Teppiche, kriecht in die Dusche, und du spülst weiter und weiter. Dann ist es ruhig, so ruhig, dass ich aufmerksam werde und nachschaue.

Bei den ersten beiden Zwischenfällen ging ich noch davon aus, dass du verstanden hast, dass deine ‹Spültaktik› falsch ist. Aber nun muss ich einsehen, dass du nicht mehr folgern kannst. Und ich muss einsehen, dass ich dich von jetzt an zur Toilette begleiten muss.

Seit letzter Woche gehen wir nicht mehr ins Restaurant, weil du mit deiner Unberechenbarkeit die Ruhe störst, die dort gewünscht wird. Die junge Wirtin hat mich zur Seite genommen und mir zu verstehen gegeben, dass du woanders essen sollst.

Du fühlst dich schikaniert

Jeden Tag von Neuem bestehe ich darauf, dass du das Geschirr mit der Bürste abwäschst und nicht nur mit dem Wasserstrahl, dass es mit dem Geschirrtuch und nicht mit dem Handtuch getrocknet wird, dass das Fett auf dem Tisch nicht mit dem Geschirrtuch weggewischt, der Abwaschlappen nicht für den Fleck auf dem Boden benutzt, und die Butter in den Kühlschrank und nicht in den Geschirrschrank geräumt wird.

Du hast die Regeln verloren und fühlst dich von mir schikaniert. Andererseits gebe ich dir Orientierung, wenn du dir die Hände waschen willst nach dem Frühstück und vor dem Spülbecken stehst und nicht mehr weißt, wie das Wasser aus dem Hahn kommt.

Später drehst du dich mitten in der Küche um dich selbst und kennst die Richtung zum Badezimmer nicht mehr.

Doch einen Rest von Überblick ist dir noch geblieben: deine Wollmütze, deine Handschuhe aus Lammfell, das Pack Taschentücher, das Portemonnaie, die Uhr – das alles liegt auf deinem Nachttisch, und du registrierst jedes Fehlen. Dieser Nachttisch ist das, was von deinem Revier noch übrig geblieben ist. Überall sonst in der Wohnung bist du ein hilflos Suchender geworden.

Und deine Geschichten sind weg, deine Anekdoten, mit denen du dich den Menschen näher gebracht hast. Nun erzähle ich dem Besuch in Stellvertretung Episoden aus deinem Leben, und du nickst dazu und lächelst. Unsere gemeinsame Geschichte erzähle ich nur noch selten.

Lesen Sie Folge 1 der «Wolkenfische»

Paar läuft am Strand entlang.

Wolkenfische (1)

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Du verlierst den Verstand, den Stand: den Stand als mündiger Bürger, den Stand in der eigenen Sicherheit, auf den eigenen Beinen. Dich festzuhalten, ist nun meine Aufgabe. Und wenn mich die Not schüttelt, verberge ich sie vor dir und halte dich, auch wenn ich selbst wanke.

(Fortsetzung folgt.)


Wir bedanken uns herzlich bei Susanna Erlanger, dass sie uns in vertrauensvoller Weise ihre persönlichen Texte zur Verfügung stellt.