Gute Chancen auf den Himmel - demenzjournal.com

Kurze Geschichten (3)

Gute Chancen auf den Himmel

«Frau K. kann sich nicht erinnern, ob sie etwas richtig Schlimmes in ihrem Leben getan hat. Sie hat das Gefühl, dass sie keine schlechten Chancen auf den Himmel hätte.» Bild Unsplash

Frau K. vergisst viel. Aber manchmal versteht sie mehr von der Welt als andere. Weitere fünf Kürzestgeschichten von unserer Autorin Franziska Wolffheim.

Lärm

Frau K. mag es nicht, wenn sie in den Tagestreff geht und im Speisesaal alle durcheinanderreden. Ihre Tischnachbarin sagt, dass sie keinen Rotkohl mag, auch Weihnachten solle man ihr damit bloss nicht kommen.

Pflegerin A sagt, die Sosse gehöre über die Semmelknödel und nicht über die Bohnen. Pflegerin B sagt, sie sollen sich das Essen schmecken lassen. Alle reden ständig irgendetwas, als ginge es um ihr Leben, ein Satz jagt den nächsten.

Vielleicht reden sie auch so viel, um nichts zu vergessen.

Frau K. vergisst auch eine Menge, aber das Durcheinander-Reden hilft ihr garantiert nicht, um sich besser zu erinnern. Wenn man nicht spricht und langsam kaut, kann man das Essen viel mehr geniessen und sich manchmal sogar an die Namen der Zutaten erinnern, Rosmarin oder Bohnenkraut zum Beispiel; ausserdem verschluckt man sich nicht so schnell.

Frau K. bemüht sich, ihre Ohren zu schliessen, so wie man die Augen schliessen kann, aber das ist nicht so einfach. Sie versucht sich zu erinnern, wie das geht, die Ohren zu schliessen. Vielleicht braucht man dafür einen Schlüssel, und sie hat ihn verlegt. Es hat auch keinen Sinn, die anderen am Tisch zu fragen, die haben ihre Ohren sperrangelweit geöffnet.

Frau K. stellt sich jetzt vor, dass ihre Ohren durch dicke gepolsterte Türen nach aussen abgeschottet sind. Die Wörter kommen nicht mehr in die Ohren hinein, sondern müssen davor Schlange stehen, sie warten und warten. Irgendwann geben sie auf und verziehen sich. Schliesslich sind sie alle weg. Frau K. freut sich, dass sie es geschafft hat, die Wörter auszutricksen.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Mozart

Frau K. hört gern Mozart-Opern, sie summt die Arien mit. Don Giovanni ist ein fieser Typ, das weiss sie. Aber sie weiss nicht mehr, was er eigentlich Schlimmes gemacht hat. In einer Arie zählt sein Diener alle seine Sünden auf, es ist ein ganzer Katalog, das weiss sie noch. Am Ende muss Don Giovanni dran glauben.

Ob auch jemand Buch geführt hat über ihre Sünden? Hoffentlich nicht.

Sie selbst kann sich allerdings nicht erinnern, ob sie etwas richtig Schlimmes in ihrem Leben getan hat. Vielleicht sollte sie mal ihre Tochter fragen. Ganz so schlimm kann es jedenfalls nicht sein, sonst sässe sie wohl im Gefängnis.

Ob das, was sie gemacht hat, für die Hölle reicht? Eher nicht. Als Kind hat sie ein paar Male im Laden Bonbons gestohlen und später mitunter ihren Mann angelogen. Sie hat gesagt, sie hätten kein Bier und keinen Wein mehr im Haus. Er hat das Zeug aber trotzdem gefunden.

Frau K. hat das Gefühl, dass sie keine schlechten Chancen auf den Himmel hätte. Hauptsache, sie wird nicht vergessen. Wenn der Mann mit dem grossen Bart öfter so schusslig ist wie sie, na, dann gute Nacht!

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Fenster putzen

Frau K. putzt ihre Fenster mit Zehn-Euro-Scheinen. Sie sammelt das Geld in einem leeren Marmeladenglas. Gerade hat sie mit ein paar Scheinen das Küchenfenster geputzt.

«Die Scheine sind ja völlig durchnässt, Oma», sagt die Enkelin, die zu Besuch gekommen ist.

«Du hast Recht. Ich muss sie wegwerfen.»

«Aber dann kannst dir nichts mehr davon kaufen.»

«Ich habe alles, ich brauche nichts.»

«Aber du brauchst doch etwas zum Essen, Brot, Butter, Äpfel …»

«Zum Einkaufen nehme ich sowieso Münzen, die reichen mir völlig aus.»

«Wollen wir die Scheine auf die Heizung legen? Dann trocknen sie schneller.»

«Na gut. Einmal gehen sie vielleicht noch zum Putzen.»

«Du könntest das Geld auch auf ein Konto tun.»

«Und was nehme ich dann zum Putzen?»

«Putztücher zum Beispiel. Du könntest von dem Geld auch eine Putzfrau bezahlen.»

«Ich hatte schon mal eine Putzfrau. Sie hatte ein rotes Gesicht und eine scharfe Stimme wie ein General. Sie meinte immer, sie müsse nicht nur die Wohnung, sondern auch meinen Kopf putzen.»

«Jetzt kommt sie nicht mehr?»

«Nein. Ich lasse mir nicht von fremden Leuten den Kopf putzen. So verstaubt ist er nun auch nicht. Ausserdem hat die Putzfrau komische Sachen gemacht.»

«Was denn so?»

«Sie hat überall in der Wohnung Zettel hingehängt. Zum Beispiel: Licht aus! Backofen aus! Telefonhörer ablegen! Solche Sachen. Als ob ich das nicht selbst wüsste. Das kann sie gern bei sich zu Hause machen, wenn sie das braucht.»

Hamsterrad

Alle sagen neuerdings immer, sie seien in einem Hamsterrad. Die Pfleger sagen das, ihre Tochter sagt das, die Enkelin jetzt auch. Sie schauen sehr unglücklich drein, wenn sie das sagen.

Frau K. kann sich erinnern, dass sie einen Goldhamster hatte, als sie klein war. Abends, bevor sie ins Bett musste, wurde der Hamster aktiv und raste in seinem Rad herum. Er sah aus, als würde ihm das Spass machen. Wenn sie nachts mal aufwachte, ratterte es fröhlich in ihrem Zimmer.

Frau K. überlegt, warum die Leute jetzt immer sagen, sie seien im Hamsterrad und warum das so schlecht ist.

Dabei laufen sie ja gar nicht in einem Rad herum, das würde auch ziemlich komisch aussehen, sondern sie laufen nur schnell durch die Gegend.

Frau K. ist froh, dass sie nicht so schnell unterwegs sein muss. Vor Kurzem hat sie einen Dampfkochtopf geschenkt bekommen. Sie kann gar nicht so schnell gucken, wie das Gemüse gar wird. Dumme Erfindung, denkt sie. 

Langsame Kartoffeln schmecken ohnehin viel besser als schnelle. Aber die Leute wollen das nicht glauben. Hauptsache, sie bekommt nicht eines Tages auch so ein merkwürdiges Hamsterrad geschenkt und muss dann ebenfalls unglücklich dreinschauen.

Affenherde

Manchmal hat Frau K. das Gefühl, ihr Kopf sei ein Irrenhaus. Es sind so viele Gedanken, die da immer hin und her, rein und raus springen. Die meisten vergisst sie sofort, sie lösen sich einfach in Luft auf. Trotzdem bleiben immer noch zu viele Gedanken übrig.

Mitunter meint Frau K., eine Affenherde würde in ihrem Kopf herumtoben. Sie redet den Affen gut zu und sagt ihnen, sie sollen sich einfach mal hinsetzen und nichts tun. Einen Moment hilft das, aber dann sind die Tiere schon wieder unterwegs. Einer, ein kleiner, drahtiger, ist besonders schlimm, er macht andauernd Saltos und Purzelbäume und nur selten eine Pause.

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Frau K. stellt sich vor, dass sie ihn in einer Pause abfängt und ihm sein Fell bürstet, ganz langsam, immer die gleichen Bewegungen, auf und ab, auf und ab. Irgendwann wird der Affe ruhiger und fängt an zu gähnen. Das beruhigt wiederum Frau K., und sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück.

Nächstes Mal, wenn da wieder einmal zu viele Gedanken in ihrem Kopf sind, wird sie versuchen, die Gedanken zu bürsten, auf und ab, auf und ab, so wie sie das Fell des Affen gebürstet hat. Das müsste doch helfen, denkt Frau K.