Es ist ein guter Ort, wo ich bin - demenzjournal.com
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Wolkenfische (10)

Es ist ein guter Ort, wo ich bin

Ein älteres Paar geht spazieren vor einer Bergkulisse

Susanna und Marc haben früher stets das Abenteuer gesucht. Symbolbild DALLE

Endlich kann ich Marc sagen, warum er im Pflegeheim ist, denn er sagt es selbst: »Alles ist durcheinandergeraten.« Er fühlt sich wohl. Doch die Stille zuhause ist fast unerträglich.

Ich halte dich in den Armen, und du drückst dich an mich und bedeckst mich mit Küssen. Ich erkenne deinen Leib, ich erkenne den Duft deiner Haare. Ich präge dich mir ein, als ob ich mir für die Tage unserer Trennung Vorräte anlegen müsste.

Einmal sagst du: »Ich bin ein armer Mann, ich kann nichts mehr. Mein Kopf. Ich habe keinen Kopf mehr, ich habe nur noch ‚pffft‘ …« Und dann gehe ich und lasse dich zurück und sehe, wie du wieder in dir selbst verschwindest.

Wolkenfische

Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.
– Susanna Erlanger

Das Echo alter Abenteuer

Wir streifen durchs Gebüsch, Hand in Hand, den Kiesweg hinunter, dem Maisfeld entlang. Im Wald setzen wir uns auf einen der Baumstämme, die den Straßenrand begrenzen. Frauen mit Hunden kommen vom Sportplatz her und grüßen, und du legst deinen Kopf an meinen Hals.

Die Rückkehr ist bitter: das Abenteuer unserer Entdeckung, – nach langer Zeit wieder ein Abenteuer, wie wir sie früher mit Lust herausgefordert haben –, es geht zu Ende. Wir steigen die steile, lange Treppe hoch und essen noch einen harten Pfirsich im Café des Heims.

Wir vollziehen unsere Rückverwandlung vom Paar, das die Welt zusammen erkundet, hin zu Getrennten, von denen jedes für sich in seine Welt eintrauert.

Dein Schnauz ist abrasiert, und zum ersten Mal sehe ich deine lange Oberlippe, die hinter der Unterlippe liegt, und ich sehe deine Falten neben dem Mund, die sich tief eingegraben haben.

Was von mir als Ehefrau noch übrig ist, ist die Ankündigung der Pflegerinnen, wenn ich den Raum betrete. Dich überrascht es jedes Mal, dass du eine Frau hast. Und dann sagst du:

Es ist ein Glück mit jemandem zu sein, der das Gleiche lebt wie man selbst. Du bist mein Mensch.

Plötzlich kommt dieser Satz wie vom Himmel gefallen.

Eine, die weitergeht

Ich rede vor mich hin – in der Küche, im Bad, ja sogar im Bett. Ich bin doch keine, die allein ist. Ich bin eine, die mit dir ist, auch wenn du nicht mehr da bist.

Und ich bin eine, die dort zusammengekrümmt auf dem Sofa liegt und deine Brust in ihrem Kissen sucht, die nicht weiterweiß und dich in sich befragt und hofft, dass du Antwort gibst. Ich bin eine, die alleingelassen Zeitung liest am Küchentisch und nun für sich mit Bus und Zug durch die Welt fährt. Ich bin eine, die sich selbst fremd ist, aber den Weg weitergeht, nicht zurückweicht, – weitergeht; eine, die wahrnehmen will, was ist, und danach handeln, mit wehendem Banner auf das Leben zuschreitend.

Denn da ist keiner mehr, der die Verantwortung übernimmt: Wenn etwas nicht geschieht, dann weil ich es nicht geschehen lasse.

Östliche Sonne

Am Ufer
führen Kieselwege
dein Bild aus meiner Nacht
gemalt aus den Wellen
der Bucht, die dich
vermisst

Nun weiß ich, was gramgebeugt heißt: Ich bräuchte Engel, die mir beim Gehen unter die Arme griffen. Wochenlang wälze ich mich in Schuld, dass ich dich all die Jahre nicht als Du gesehen habe, weil ich meine Vorstellungen über uns vor mir hergeschoben habe, und wir in einvernehmlicher Verstrickung miteinander verbunden waren.

Ich bin hier. Hier ist das Brot. Hier ist der Tisch. Hier bin ich. Das Jetzt ist mein Anker, denn die Leere der anderen Tischseite darf sich nicht auf mich werfen! Das Schlimmste wäre, wenn ich beim Aufräumen eine Handschrift von dir fände, in der du dein Leben mit mir beklagst.

Auf den wenigen Photos, die ich von dir in all den Jahren machen durfte, sehe ich beim Wiederbetrachten eine Verlorenheit, die dein Gesicht überspannt, und einen Blick, der sich nach innen kehrt.

Lies hier die Geschichte von Susanna und Marc

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Ein guter Ort

Ich wache auf aus diesem Nachmittag, an dem ich mich in Bildern mit Kleidern, Schuhen, Geräten gesucht habe. Ich wache auf aus diesem Abend, an dem ich über Stunden belanglose Filme angestarrt habe. Ich wache auf, weil Nacht ist.

Wir steigen die Treppe hinunter zum Campingplatz. Du sagst: ‚Alles ist durcheinander geraten‘ – der Weg, das Gehen, der Wald sind durcheinander geraten. Ich stelle mir vor, – und kann es mir eigentlich nicht vorstellen –, wie es ist, wenn nichts mehr eingeordnet werden kann, und nur noch eine Hand – meine Hand – Orientierung gibt. Seit Jahren führe ich dich, suche deinen Weg – und meinen. Und jetzt endlich kann ich dir den Grund sagen, weshalb du im Pflegeheim bist, da du ihn selbst genannt hast: ‚Alles ist durcheinander geraten.‘

Auf dem Rückweg sagst du: ‚Es ist ein guter Ort, wo ich bin. Die Leute freuen sich, wenn sie mich sehen.‘ Und du bist froh, im Garten des Heims wieder bei den andern zu sitzen. ‚Wenn du dann fort gehst, bleibe ich hier‘, sagst du. – Nun bist du nicht mehr in meinem Dunstkreis.

(Fortsetzung folgt.)