Zusammen weinen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (77)

Zusammen weinen

»Menschen mit Demenz verstehen oft mit dem Herzen, wenn der Verstand es nicht erfasst. Auch Paul hat Tränen und streichelt mich. Sternstunde. Balsam für meine Seele.« Bild U. Kehrli

Alles ist im Umbruch. Langsam aber stetig verändern sich die Dinge. Zwischendurch ein Lichtblick: Paul ist für wertvolle Momente plötzlich wieder er selbst. Ursula Kehrli genießt diesen wunderbaren Augenblick.

19. Mai 2013 – Mit wem soll ich teilen?

Beinahe hätte ich den Kuchenteig vergessen im Kühlschrank. Das Datum ist abgelaufen, doch er riecht gut, alles OK. Noch habe ich ein Paket tiefgekühlter Zwetschgen, die letzten, die allerletzten von meinem geliebten Baum. Es gibt ihn nicht mehr. Zusammen mit dem sterbenden Pflaumenbaum ließ ich ihn ausreissen, der Bauer half mit Traktor und Vorderlader. Platz schaffen für den neuen Garten. Die Ausläufer des Zwetschgenbaums waren so zahlreich geworden, man wurde ihrer nicht mehr Herr.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ein ganzer Kuchen, mit wem soll ich ihn teilen? Wie könnte ich anders, als Paul die Freude zu machen, obwohl heute mein freier Tag wäre. Beim Gedanken an ihn kann ich nicht anders, als zu ihm zu fahren. Er begrüßt mich kaum, wieder sind Stapel Kleider bereit, er will weg.

Doch dann strahlt er, wie er den Kuchen sieht. Sogleich nimmt er einen Bissen, von Hand schmeckt ein Kuchen immer am besten. Er mag nicht warten, bis ich Kaffee hole. Da erfahre ich von einer Pflegenden, Paul habe heute das Mittagessen verweigert. Deshalb also dieses gierige Zupacken und Aufessen gleich beider Stücke. Ich erfreue mich an seiner Freude.

Nun geht er von einer Ecke in die andere, sucht irgendetwas. Er packt seinen Lieblingspullover in ein Frotteetuch, übergibt es mir, komm, wir gehen. Einmal mehr weiß ich nicht wie mit der Situation umgehen. Der Kuchen war nicht Ablenkung genug. Ich warte, schaue ihm zu, er wird ungeduldig, weil ich sitzen bleibe.

Komm jetzt. Ich will heim, heute spricht er recht klar. Ich bitte ihn, sich doch neben mich zu setzen. Endlich setzt er sich hin, die eingebundenen Beine auf dem Schemel. Er trägt wieder die kurze Hose.

Ich versuche zu erklären, es sei nicht möglich, er sei jetzt hier im Pflegeheim zuhause. Ich hätte das auch lieber anders, und ich erzähle, beruhige, versuche abzulenken und breche dann in Tränen aus. Erstaunt schaut er mich an. Ist schwer, gell? Ich trockne die Tränen, rede nun mit ihm wie früher, schütte mein Herz aus. Und habe den Eindruck, er versteht mich.

Nein, du hast kein Auto mehr, wie er nach seinem Auto fragt. Auch das begreift er. Wohl eher mit den sensiblen Antennen, die demente Menschen haben. Sie verstehen oft mit dem Herzen, wenn der Verstand es nicht erfasst. Auch er hat Tränen und streichelt mich. Sternstunde. Balsam.

Da nimmt er meine Hand und drückt sie an seine Wange. Meinen Kopf an seine Brust gelehnt, ruhen wir lange Zeit.

Bald ist vier Uhr. Er erhebt sich: Ich komme mit. Dasselbe Trösten, du bleibst da, ich komme wieder. Nun rollt er die Binden am Bein los, ist beschäftigt mit neu Aufrollen. Ich verabschiede mich. Er ist abgelenkt mit den Binden, ich kann gehen. Sein Gruß ist freundlich, ich atme auf.

Heimfahrt wie immer, heute hat es viel Verkehr. Lieber ist mir werktags zu fahren, trotz der vielen Lastwagen, es herrscht mehr Disziplin. Heute wird gefahren wie auf dem Jahrmarkt mit Putschautos. Dankbar stelle ich das Auto in der Garage ab. Immer wieder aufatmen, es ist nicht selbstverständlich, heil nach Hause zu kommen.

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28. Mai 2013 – So wohltuend

Lange überlege ich, ob ich zu Paul fahren soll. Nach meinem gestrigen Camino Lausanne-Morges mit den 14 Kilometern wäre mir ein Ruhetag lieber. Heute ist Lotto im Heim, letztes Mal ging er mit einer Betreuerin und heimste gar einen Preis ein, den er mir tags darauf strahlend stolz zeigte.

Ich fahre dennoch hin. Morgen kommt ja Monika für den Garten, drei freie Tage nacheinander wage ich noch nicht zu nehmen. Paul sitzt auf einer Bank vor dem Zimmer von Hans. Auf seinen Knien WC-Papier, mehrere Blätter am Stück. Sogleich bemerke ich, dass er ernstlich am Arbeiten ist. Klebeband wird abgetrennt, aufgeklebt, er sieht kurz auf, wie er meine Stimme hört, grüßt nicht, ist zu vertieft in seine Aufgabe.

Komm setz dich, halt das, nein nicht so! herrscht er mich ungeduldig an. Ein Seufzer meinerseits, ich verstehe wieder mal Bahnhof. Er sucht etwas, das Wort Padöfligi kann ich nicht übersetzen, errate es doch – er strahlt mich an – er sucht eine Schere. Ich gehe in sein Zimmer, suche am gewohnten Platz, keine Schere.

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Wieder gibt es einen Bewohner, der in alle Zimmer eindringt, alles durchwühlt und Gegenstände wegnimmt. Irgendwann und irgendwo werden diese mal – vielleicht – wieder auftauchen. Paul kommt in sein Zimmer, hilft mir suchen. Fein ordentlich räumt er alles aus dem Sekretär aus, in derselben Ordnung räumt er alles sorgfältig zurück. Er ist sichtlich aufgeregt, verärgert, schimpft, verständlicherweise, ist außer sich. Zwischendurch herrscht er mich an, fragt etwas, ich kann nicht helfen.

Martina bringt Kaffee und Dessert, endlich lässt er sich ablenken und kommt etwas zur Ruhe. Wie gewohnt wäscht er anschließend das Geschirr ab, trocknet es fein säuberlich mit dem Geschirrtuch, bringt es in die Küche.

Oh wie schön, dass du da bist, Buseli, sagt er. Als er zurückkommt, ist er wie verwandelt. Nach einer Weile sieht er noch ein Tellerchen, das er noch in die Küche trägt. Dieselben erstaunten, freundlichen Worte der Freude beim Zurückkommen. Er setzt sich an den Tisch, wir trinken zusammen ein »Bierli«, sein Süßmost.

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Das Basteln ist vergessen, zwischendurch schaut er hinaus. Auf dem Längenberg zeigt er mir die Sternwarte, die sich heute als blendend weißer Punkt vor dem dunklen Gewitterhimmel abhebt. Er sieht die jungen Raben auf einem Baumwipfel. Deutet auf die Pferde, die gesattelt werden, um vor dem Regen noch mit behinderten Kindern einen Ausritt zu wagen.

Nach und nach beruhigt er sich. Langsam sinkt sein Kopf auf die Tischkante, er ist müde. Ich kann ihn zum Lehnsessel locken, setze mich noch eine Weile neben ihn, bis ich beobachte, wie ihm für längere Zeit die Augen zufallen.

Ich gehe, bevor das Gewitter kommt, ich verabschiede mich.

Ja, ist besser so, danke liebes Buseli, du bist so treu. Er winkt mir noch nach, ich komme wieder. Ja, ich freue mich.

Wie gut mir ein solch schöner, herzlicher Abschied tut. Wieder mal mein Paul! Von diesen, seinen lieben, vertrauten Worten, kann ich wieder lange zehren. Ich lerne mit wenig zufrieden sein.

13. Juni 2013 – Bergfrühling

55 Jahre lang hatte ich den Wunsch, auf der Schynigen Platte wieder einmal die Frühlingswiese zu sehen. Im Sägistal war es, anfangs Juni, ein Teppich voller bunter Blumen vor uns, an schattigen Hängen lag noch viel Schnee, der Weg zum Faulhorn war noch nicht begehbar. Immer kam etwas dazwischen, Termine, oder es regnete, dann war es Juli, zu spät für die Frühlingsblumen. Längst waren die Kühe oben auf den Alpwiesen.

Nun aber kam wieder mal mein Logo: Wenn nicht jetzt, wann dann? Dieses Jahr liegt noch viel Schnee, im Juni schneite es sogar, die Kälte blieb. Dennoch, ich wagte es, lieber zu früh, ich musste nun endlich auf meine Schynige Platte gehen. Seit drei Tagen fährt die Bahn, ich pokerte mit exponierten Hängen, wo bestimmt bereits die ersten Frühlingsblumen sprießten.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Start beizeiten, besonders schön, heute kommt Anni mit. Ein erstes herzliches Lachen nach dem Stress: Wo ist mein Handy? Jede Minute kostbar, muss noch mein Billett am Automaten lösen. Ich wähle meine eigene Nummer, es läutet, ich spitze die Ohren, nah muss es sein, aber wo?

Alle Taschen durchsuchen, Aufladeort leer, Küche, nein, Wohnzimmer auch nicht. Ich werde nervös, die Zeit drängt, soll ich mal ohne losgehen, aber was, wenn Paul mich bräuchte? Dann endlich: Ich legte es ja schon am Vorabend in mein Taillentäschchen, aufatmen, lachen über meine Zerstreutheit.

Billet lösen, klappt, richtige Schreibweise beachtet, Kreditkarte will er nicht, also Geldscheine, was ist eigentlich los, gestern schon verweigerte der Geldautomat meine Karte, muss es abklären. Zug hat sieben Minuten Verspätung, ausgerechnet heute, Anni wartet in Gümligen. Endlich, Freude herrscht, wir sitzen beide pünktlich im Zug nach Interlaken. Nun beginnt die Reise erst richtig, entspanntes Genießen der Aussicht.

Frühlingswiese.pixabay

Oben ist es frisch, noch winterlich. Ich kann es kaum fassen. Neben den Schneeflecken ein Teppich voller Blumen, Gräser, blühende Enziane, Alpenveilchen, Kugelblumen. Am meisten beeindrucken mich die vielen Frühblümchen, sich in Felsspalten festklammernd, deren zarte Blütenblättchen anfangs von den fleischigen Blättern schützend umschlossen.

Das intensive Gelb der Dolden erquickt mein Herz, noch nie habe ich so viele Blümchen gesehen. Damals auf dem Blütenteppich waren es vor allem gelbe und lila Alpenveilchen. Nun sind es Tausende weißer Krokusse, die neben den Schneeresten einen Blütenteppich bilden.

Drei Wochen Rückstand hat die Vegetation durch die außergewöhnlichen Schneemassen und wenigen Sonnentage. Es gibt viele Probleme in der Landwirtschaft, nun fressen die Kühe im Unterland das Heugras, das für den Winter gedacht wäre. Es wird weniger Alpkäse geben, auch dem Tourismus wird es schaden. In den Bergen gab es viele Hangrutsche, Mehrarbeit fürs Aufräumen. (Fortsetzung folgt …)

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Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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