Ein vertrauter Umgang für Menschen mit Demenz - demenzjournal.com

Wohnen

Ein vertrauter Umgang für Menschen mit Demenz

Lindenpark in Balsthal

Auf der Suche nach Antworten oft in Bewegung: Im Lindenpark in Balsthal können Menschen mit Demenz ihren Bewegungsdrang ausleben. GAG

Mehr Normalität im Leben für Menschen mit Demenz. Das wird im Betreuungskonzept der Genossenschaft für Altersbetreuung und Pflege Gäu (GAG) grossgeschrieben. Im August wird mit dem Lindenpark an zentraler Lage im solothurnischen Balsthal ein Demenzzentrum eröffnet, das ein Dorf mitten im Dorf ist.

von Gina Kunst*, Erstveröffentlichung im Magazin ARTISET

Menschen, die an Demenz erkranken, können vieles nicht mehr, aber sie können lachen und weinen bis zum Schluss. Ein Mensch mit Demenz hat wie jeder Mensch bestimmte Ressourcen. Seine Antriebe und Gewohnheiten lösen auch bei ihm Handlungen aus. Die Gefühle zeigt er oder sie ungeschminkt mit jeder Geste. Ein Mensch mit Demenz steckt voller Überraschungen und Fähigkeiten, er ist authentisch, ehrlich und spürt seine Umwelt mit seinen Ur-Sinnen, die anderen oft verborgen sind.

Zugegeben, es ist nicht leicht für die Betroffenen, mit Demenz zu leben, und es ist schwierig für die Angehörigen, mit dieser Krankheit umzugehen. Besonders, weil uns ihre Wesensveränderung hilflos, manchmal ratlos und traurig macht.

Für einen Menschen, der an Demenz erkrankt ist, ist die Krankheit im Anfangsstadium meist erkennbar.

Der Erkrankte merkt, dass er Kompetenzen und Fähigkeiten verliert, dass er vieles vergisst, das macht ihn unsicher und macht ihm Angst. Ein Mensch, der unsicher und ängstlich ist, zieht sich häufig zurück.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und wissen nicht, wo Sie sich befinden. Anfangs warten Sie vielleicht ein paar Sekunden und versuchen sich zu erinnern. Und jetzt stellen Sie sich vor, es gelingt Ihnen nicht. Was machen Sie als Nächstes? Spüren Sie schon ein wenig Angst, die sich im Bauch ausbreitet? Was machen Sie jetzt? Sie laufen los, oder? Auf der Suche nach Antworten öffnen Sie eine Tür, dann die nächste und die nächste und dabei fragen Sie wahrscheinlich jeden, den Sie auf Ihrer Suche antreffen: «Hallo, wo bin ich?» Ihnen wird gesagt: «Sie sind im Pflegeheim, wissen Sie, Sie wohnen hier!» – und das soll Sie beruhigen?

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Ein Mensch, der an Demenz erkrankt ist, wird ständig auf der Suche nach Antworten sein und sich deswegen häufig in Bewegung befinden, wenn sein Körper dies zulässt. Die Pflegenden und Betreuenden der Genossenschaft für Altersbetreuung und Pflege Gäu (GAG) bemühen sich deshalb darum, den Bewohner:innen den nötigen Raum dafür zu geben. Es geht darum, ihre unsichtbaren Stürme zu erkennen und die Bewohner:innen dabei zu unterstützen, ihre Stürme zu vermeiden oder zu minimieren. Und immer wieder geht es um die Frage:

Wie schützen wir die Bewohner:innen und lassen ihnen gleichzeitig möglichst viel Freiheit?

Um Antworten zu finden, braucht es kompetentes Personal, eine gute Kommunikation im Team sowie mit den Angehörigen – und eine möglichst vertraute Wohnumgebung. Die GAG hat ein Betreuungskonzept entwickelt, dank dem der Alltag von Menschen mit Demenz so vertraut wie möglich gestaltet wird. Dies in der Überzeugung, dass sich Menschen dann wohlfühlen, wenn ihr Leben im neuen Zuhause dem Alltag, den sie von früher gewohnt sind, so ähnlich wie möglich kommt. Ziel ist ein Höchstmass an Autonomie und Normalität für die Betroffenen.

Ein Dorf mitten im Dorf

Mit dem neuen Demenzzentrum, dem Lindenpark in Balsthal, baut die GAG das Angebot für Menschen mit Demenz aus. Das Zentrum der Anlage bilden zwei Mehrfamilienhäuser mit jeweils sechs Wohnungen, die alle ähnlich ausgestattet sind, um so mittel- bis langfristig eine möglichst hohe Flexibilität sicherzustellen.

Jede Wohngruppe wird wie ein regulärer Haushalt eingerichtet sein und auch entsprechend funktionieren.

Es werden sechs bis sieben Menschen in einer Wohngruppe wohnen. So bleibt noch Platz für einen Tagesgast, der immer in der gleichen Gruppe zu Besuch kommt. Zusätzlich gibt es direkt daneben ein Mehrzweckgebäude, das Platz bietet für ein Restaurant mit einer Gartenterrasse, einen Coiffeursalon, Fusspflege und Räumlichkeiten für die Alltagsgestaltung.

In 12 Wohngruppen sollen 76 Menschen mit Demenz einen Platz finden. Hinzu kommen 10 Tagesplätze.GAG

Der ganze Lindenpark steht auf einem 10’000 Quadratmeter grossen Grundstück mitten im Dorfkern von Balsthal. Jeder Mensch, ob mit oder ohne Krankheit, gehört dazu und soll möglichst integriert sein. Die Gartenanlage lädt zum Verweilen ein. Es gibt Hochbeete, einheimische Pflanzen, Nistkästen für Vögel, Hochstammbäume, Sitzgelegenheiten und viele Wege zum Spazieren.

Wohnen in einer Wohngemeinschaft mit Gleichgesinnten funktioniert gut. Das Leben findet, wie im angestammten Zuhause, in der Wohnstube statt. Die Schlafzimmer sind funktionell eingerichtet: ein verstellbares Bett mit Nachttisch, ein Schrank und ein Stuhl. Ein Pflegeheim soll nicht aussehen wie ein Spital, sondern vielmehr eine vertraute, wohnliche Atmosphäre ausstrahlen. Deswegen tragen die Mitarbeitenden auch bewusst keine Berufs-, sondern Alltagskleidung, und auf den Namensschildern steht nur der Vor- und der Nachname, aber keine Funktion.

Frühstück und Nachtessen werden in der Wohngruppe zubereitet, die Bewohner:innen helfen mit, sofern sie dies können und möchten. Weitere Möglichkeiten zur Mitarbeit im Alltag gibt es viele: Wäsche falten, Tisch decken, im Garten helfen, Laub rechen und vieles mehr. Auch gemeinsame Aktivitäten stehen auf dem Programm wie einkaufen, Wanderungen und manchmal ein Feierabend-Bier im Restaurant.

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Wer am Morgen länger schlafen möchte, der wird dabei nicht gestört. Und wenn jemand am Abend noch etwas länger aufbleiben möchte, ist auch das möglich. Vielleicht schläft er oder sie dann auf dem Sofa vor dem Fernseher ein, und wenn er aufwacht, geht er ins Bett oder auch nicht.

Auch Menschen, die auf Betreuung und Pflege angewiesen sind, sollen gemäss ihren Bedürfnissen leben und sich wohlfühlen können. Damit dies gelingt, wird das Betreuungskonzept der GAG laufend an die neuen Bedürfnisse angepasst. Zudem wird es darum gehen, im Rahmen einer langfristig angelegten wissenschaftlichen Untersuchung die Wirkung des Konzepts zu überprüfen.

Ein Betrieb – mehrere Standorte

Der Lindenpark in Balsthal wird das bisherige Wohnhaus für Menschen mit Demenz, die Stapfenmatt in Niederbuchsiten, ablösen. Nebst dem Spezialangebot für demenzerkrankte Menschen betreibt die Genossenschaft für Altersbetreuung und Pflege Gäu (GAG) seit 2008 noch zwei weitere Alterszentren im Bezirk Gäu: den Sunnepark in Egerkingen und den Roggenpark in Oensingen.

Standortunabhängig setzt sich die GAG für ein selbstbestimmtes und individuelles Leben im Alter ein. Insgesamt wird die Genossenschaft mit der Eröffnung des Lindenparks über 196 Betten verfügen. Begleitet und unterstützt werden die Bewohner:innen von rund 220 Mitarbeitenden, 30 Lernenden und etwa 60 Freiwilligen. Der Genossenschaft gehören die acht Einwohnergemeinden des Bezirks Gäu, die Gemeinde Balsthal sowie drei private Institutionen an: der Gemeinnützige Verein für Alterswohnen in Oensingen, die Hüsler-Stiftung in Egerkingen und der Gemeinnützige Frauenverein Egerkingen.


* Gina Kunst ist Vorsitzende der Geschäftsleitung der Genossenschaft für Altersbetreuung und Pflege Gäu (GAG).

Dieser Beitrag erschien im Magazin ARTISET 07/08/22. Wir danken der Redaktion für die Gelegenheit zur Zweitpublikation.