«Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug» - demenzjournal.com

Flüchten

«Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug»

Hilde Domin, die von sich sagt: «Ja, ich bin ein Dennoch-Mensch! Mein Glaube ist, dass man dennoch Vertrauen, dennoch Zuversicht haben kann.» Deutsches Literaturarchiv Marbach/Mathias Michaelis

Wie ist das auszuhalten, was gerade jetzt passiert? Wie sich und andere trösten in einer trostlosen Welt? Unsere Autorin erzählt von ihrer Erfahrung mit Gedichten, die helfen, sich nicht abzuwenden, die im Gegenteil Kraft geben, sich einzusetzen, wo es nötig ist.

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft
unter den Akrobaten und Vögeln:
mein Bett auf dem Trapez des Gefühls
wie ein Nest im Wind
auf der äussersten Spitze des Zweigs.

Ich kaufe mir ein Decke aus der zartesten Wolle
der sanftgescheitelten Schafe,
die im Mondlicht
wie schimmernde Wolken
über die feste Erde ziehn.

Ich schliesse die Augen und hülle mich ein
in das Vlies der verlässlichen Tiere.
Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren
und das Klicken des Riegels hören,
der die Stalltür am Abend schliesst.

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.
Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.
Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

(Hilde Domin: Gesammelte Gedichte, Fischer 1987)

Sie ist klein und verrunzelt, sitzt auf dem Podium und zieht mich und das ganze Publikum in ihren Bann. Atemlos hören wir ihrer brüchigen Stimme zu. Sie ist 90 Jahre alt und in die Schweiz gereist, um ihre Gedichte vorzustellen. «Steh auf, Adam», liest sie, und sie fordert uns auf, dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinzuhalten oder ohne Angst den Fuss in die Luft zu setzen.

Sie ist die Dichterin des Dennoch: Hilde Domin, die von sich sagt: «Ja, ich bin ein Dennoch-Mensch! Mein Glaube ist, dass man dennoch Vertrauen, dennoch Zuversicht haben kann.» (Ilka Scheidgen: Hilde Domin – Dichterin des Dennoch. Die einzige autorisierte Biografie. Kaufmann Verlag)

Ich kenne einige Gedichte von ihr schon lange, weiss aber wenig über sie und ihr Leben. Nach ihrer Lesung kaufe ich ihre gesammelten Gedichte und ihre Autobiografie.

Hilde Domin, eine deutsche Jüdin, musste flüchten im dritten Reich, genau so wie die Philosophin Hannah Arendt. Diese beschreibt in einem Essay wie sich Flüchten anfühlt: «Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren (…). Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.»

Ich nehme an, Hilde Domin ging es genau wie Hannah Arendt, so wie es auch heute allen Menschen geht, die zur Flucht gezwungen werden: Sie mussten und müssen sich neu erfinden.

In der Dominikanischen Republik fand Hilde Domin ein Stück Zuhause. Erst dort, im fremden Land, konfrontiert mit einer ihr unbekannten Sprache, begann sie Gedichte zu schreiben. Sie schrieb in ihrer Muttersprache, die ihr Heimat war in der Ferne.

Später nahm sie aus Dankbarkeit den Namen des Landes an, das ihr Schutz und Obdach gewährt hatte: Aus der jungen Hilde Löwenstein war die Ehefrau Hilde Palm geworden, die sich als Dichterin Hilde Domin nannte. Zurück in Deutschland schrieb sie weiter. In vielen Gedichten beschreibt sie das Dennoch, das Trotzdem: «Ich setzte den Fuss in die Luft, und sie trug» heisst eine Gedichtzeile, die auch auf ihrem Grabstein steht.

Ich blättere in den gesammelten Gedichten, bin überrascht von der Fülle. Nicht alle Gedichte erschliessen sich mir sofort, einige brauchen Zeit, bis sie sich mir öffnen, bis ich mich ihnen öffne.

Eines der Gedichte empfinde ich als besonders sperrig. Es ist ein bekanntes Gedicht, dessen Titel, der auch die Schlusszeile ist, oft zitiert wird: «Nur eine Rose als Stütze». Ich las es immer wieder, brachte die Bilder nicht zusammen.

Was will sie mir nur sagen mit diesem Gedicht? Viel zu gesucht kam es mir entgegen, liess mich an der Dichterin zweifeln. Ich las andere Gedichte von ihr, die mir zugänglicher waren, liess die Rose liegen, liess sie welken.

Bis ich im Spitalbett lag, geplagt von Schmerzen und Ängsten, zugedeckt mit einem Duvet, das nicht mehr weiss wie früher, sondern pastellig gewürfelt war. Ich nahm Hilde Domins Gedichte zur Hand, streckte die Hand aus, um das Wunder zu empfangen, wartete darauf, dass die Luft mich tragen würde.

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Doch das Buch öffnete sich bei der Rose. Natürlich, dachte ich, und las das Gedicht fast widerwillig. Und dann geschah das Wunder: Das Gedicht wurde mein Gedicht, es beschrieb meine Situation. Als Erkrankte habe ich den Boden unter den Füssen verloren, liege selbst «in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt», sehne mich danach, die Zehen in den Sand zu stecken, sehne mich nach festem Boden unter den Füssen und nach dem Schafstall.

Der Geruch schreckt mich nicht. Ich möchte zwischen den Schafen liegen, gewärmt von ihren Körpern, mein Atem im Einklang mit ihrem Atem, will ich den Hunden beim Träumen zuhören im verschlossenen Stall. Aber ich liege ins Leere gewiegt, ich brauche einen Halt, eine Rose als Stütze oder eben: Hilde Domins Gedicht, dieses und alle anderen. Ich brauche das Dennoch, das Trotzdem.

Das Gedicht beschreibt Hilde Domins Flucht aus dem vermeintlich gesicherten Leben ins Leere, macht mir damit verständlich, wie es all den Menschen geht, die jetzt flüchten müssen, vertrieben werden, nicht nur aus der Ukraine.

Menschen, die alles verlassen haben, denen nicht einmal mehr eine Rose als Stütze bleibt. Doch es gibt sie, die Rose, es gibt ihre Farbe, ihre Schönheit. Sie ist die Hoffnung auf Zukunft, auf erneutes Aufblühen des Lebens.

Gedichte können mithelfen, den Schrecken auszuhalten und zu überwinden. Sie zeigen ungewohnte Blickwinkel auf, eröffnen neue Wege, die noch zu gehen sind, ihre Bilder besänftigen die Ängste. Gedichte sind Lieder, sind Gebete, so wie das von Dietrich Bonhoeffer, der mit 34 Jahren von den Nazis ermordet wurde.

Sein letzter Text, im Gefängnis geschrieben, ist voller Hoffnung. Ob ich selbst an Gott glaube oder nicht, spielt keine Rolle. Dietrich Bonhoeffers Glaube ist stark genug auch für mich, sein Worte, leise vor mich hin gesprochen, sind stark genug um mich nachts sanft in den Schlaf zu wiegen. Dennoch und trotzdem.

Von guten Mächten
wunderbar geborgen
erwarten wir getrost
was kommen mag
Gott ist bei uns
am Abend und am Morgen
und ganz gewiss
an jedem neuen Tag