Liebe Mama, wie geht es dir mit dem Krieg? - demenzjournal.com

Alzheimer und wir

Liebe Mama, wie geht es dir mit dem Krieg?

Die aktuelle Kriegsberichtserstattung kann alte Traumata in Menschen mit Demenz wecken. Unsplash

Als wir jetzt zu meinen Eltern gefahren sind, habe ich mir doppelt Sorgen gemacht: um meine Kinder und um Mama. Wie würden sie mit dem Ukraine-Krieg umgehen? Denn während ich den Kindern einiges erklären kann und sie ihre Sorgen aussprechen, kann Mama das nicht.

Als ich in den Nachrichten gehört habe, dass Russland den Krieg in der Ukraine begonnen hat, war ich fassungslos. Menschen wurden an die Waffen gerufen, um ihr Land zu verteidigen. «WAAAS?», habe ich gedacht. Im Laufe meines Lebens habe ich zwar schon einige Kriege in anderen Ländern mitbekommen. Aber ich verstehe es bis heute nicht – und irgendwie hatte ich gedacht, dass Konflikte mittlerweile ausdiskutiert werden oder eine Partei nachgibt. Nun ja …

Mich haben die Nachrichten ziemlich verstört. Seit Wochen fühle ich mich erschöpft, die Corona-Pandemie zeigt ihre Spuren. Und nun das. Ich war schockiert und bin es irgendwie immer noch. Und es kamen die Sorgen. Wie würden meine Töchter mit den Nachrichten umgehen? Würden sie Angst bekommen?

Wie sollte ich ihre Frage nach dem WARUM erklären, wenn ich doch selbst nicht verstehe, warum.

Natürlich kann ich über die politische Situation aufklären. Aber das, was meine Kinder sich eigentlich fragen, das kann ich nicht erklären: Wie kann man wollen, dass ein Mensch einen anderen Menschen tötet? Darauf weiss ich keine Antwort.

Ich bin dankbar für den Frieden, den wir erleben

Als wir jetzt zu euch gefahren sind, war ich einerseits voll Vorfreude. Endlich mal wieder über eine längere Zeit und mit den Kindern. Aber ich habe mir auch Sorgen gemacht. Denn natürlich würde der Fernseher laufen und meine Töchter würden Bilder sehen, die ihnen Angst machen.

Wie kann man mit Angst umgehen?

Corona und Psyche

«Wenn die Angst herrscht, sollten wir kreativ sein»

Die Corona-Restriktionen fordern die Psyche der Menschen. Die Informationsflut zu begrenzen ist nur eine Möglichkeit, um nicht in Panik zu geraten. Besondere Selbstfürsorge … weiterlesen

Ach, Mama, bei dir und Papa anzukommen, war wunderschön. Ein Stück Geborgenheit und Zuhause in dieser komischen, anstrengenden Zeit. Dieser Krieg hat mir zunächst mal gezeigt, wie banal meine Probleme zumeist sind. Ich habe grosse Dankbarkeit gespürt dafür, dass wir als Familie zusammen sein können und die Sonne scheint und wir nicht um unser Leben fürchten müssen. Ich möchte diese Dankbarkeit in mir festhalten und mit Zuversicht nach vorne schauen.

Ängste nehmen und Geborgenheit geben

Am liebsten würde ich das Kriegsgeschehen vor meinen Töchtern verstecken. Aber das geht ja nicht und es würde ihnen auch nicht helfen. Sie sehen die Schlagzeilen der Zeitungen, die Nachrichten in der S-Bahn und im Internet. Auch, wenn ich vielleicht nicht alles erklären kann, so ist es doch meine Aufgabe, sie zu begleiten und für sie da zu sein. Was da in der Ukraine passiert, macht meine Kinder betroffen und besorgt sie.

Ich bin dankbar, dass Papa so gern Sportveranstaltungen im Fernsehen schaut. Der Fernseher läuft häufiger, als mir lieb ist, aber es sind vor allem Skirennen und Skispringen. Abends schauen wir «Logo», denn die Kinder möchten wissen, was passiert, und ich weiss, dass ich das aktuelle Geschehen nicht von ihnen fernhalten kann.

«Ich habe ein bisschen Angst», sagte meine mittlere Tochter.

Was sagt man in so einem Moment? Was hättest du gesagt? Ich erinnere mich nicht an solche Gespräche aus meiner Kindheit. Aber ich erinnere mich daran, dass du mich in den Arm genommen hast, wenn ich Angst hatte und wenn ich traurig war.

Ich sage meiner Tochter, wie es ist und dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass es hier in Deutschland einen Krieg gibt. Ich nehme sie in den Arm und halte sie und spüre, dass ihre Sorge ein bisschen kleiner geworden ist. Auch mir hilft diese Nähe. Denn auch ich denke daran, wie es den vielen Müttern mit ihren Kindern auf der Flucht wohl geht und das macht mich traurig und wütend.

Fernsehbilder können negative Erinnerungen triggern

Aber wie ist es mit dir? Verstehst du, was da passiert in der Ukraine? Machen dir die Fernsehbilder Angst? Ich habe mittlerweile mehrfach den Hinweis gelesen, dass Menschen mit Demenz Fernsehnachrichten meiden sollten, da diese zu Retraumatisierungen führen können. In einer Nachlese einer Vortrags der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg habe ich mich ein wenig informiert:

  • Schätzungsweise zwölf Prozent der Deutschen über 60 Jahre zeigen Symptome einer Traumatisierung.
  • Diese kann unterschiedliche Ursachen haben, die meisten Traumatisierungen wurden durch die beiden Weltkriege verursacht.
  • Nicht bearbeitete Traumata können Jahrzehnte später aufbrechen, besonders leicht im hohen Alter oder bei einer Demenz.

Was heisst das nun? Nun ja, du bist erst lange nach dem zweiten Weltkrieg geboren und hast keine eigene Erfahrung damit gemacht. Dieser Gedanke hat mich beruhigt.

Wer Menschen verstehen will, muss wissen, was sie geprägt hat

Geschichte

Bundesrepublik Deutschland – zwischen Trümmern und Revolte

Nationalsozialismus, Weltkrieg, Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, sexuelle Befreiung und Studentenrevolte: Von 1940 bis 1980 gab es in der damaligen Bundesrepublik Deutschland eine grosse Dichte von … weiterlesen

Dann allerdings: Du hast als Jugendliche in der DDR gelebt. Du wurdest nicht ausgebildet im Gebrauch von Waffen, aber Mädchen mussten einen Lehrgang für Zivilverteidung durchlaufen.

Ich kenne die Bilder von dir mit Gasmaske und Uniform und fand sie immer sehr kurios, aber wie erging es dir damals?

Hattest du Angst vor einem Konflikt oder war es für dich nur eine der vielen Dinge, die man nun mal gelernt hat in der DDR? Militärische Konflikte haben natürlich auch in deiner Kindheit und Jugend stattgefunden. Du hast den Bau der Mauer mitbekommen und dass Polizisten an den Grenzen patroullieren.

Auch in deiner Kindheit und Jugend gibt es Ereignisse, die dich beschäftigt haben und vielleicht verängstigt. Bislang war Biografiearbeit für mich immer etwas, das geholfen hat, Glücksmomente zu bescheren.

Entfremdung

«Biografiearbeit kann bedrohlich sein»

Christoph Held will der psychotischen Seite einer Demenzerkrankung mehr Beachtung schenken. Nostalgiezimmer findet der Heimarzt, Gerontopsychiater und Buchautor heuchlerisch, virtuelle Vergangenheitswelten furchtbar. weiterlesen

Aber natürlich spielt auch die Biografie eine Rolle, wenn es um traumatische Erfahrungen geht. Die aktuellen Fernsehbilder können dich also natürlich beunruhigen und besorgen und möglicherweise negative Erfahrungen triggern.

Vielleicht sind es auch meine Ängste und Sorgen, die ich auf dich übertrage, ganz unbewusst und unbeabsichtigt. Und deswegen ist es wichtig, dass ich auf dich schaue und auch auf mich. Denn wie ich mit der Situation umgehe, ob ich Panik und Sorgen verbreite, kann dich unnötig ängstigen.

→ Die Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg hat Tipps zum Verhalten in der aktuellen Situation veröffentlicht.

Liebe Mama, lass uns die Sonne geniessen!

Du kannst mir leider nicht sagen, wie es dir geht und ob dich die Nachrichten beunruhigen. Aber ich kann an deiner Mimik oft merken, ob du in Ruhe bist oder aufgeregt oder traurig. Ich versuche in all dem Trubel besser auf dich zu schauen. Du wirkst ruhig und schläfst sehr viel, so wie häufig in der letzten Zeit. Also, scheinbar alles gut – und das beruhigt mich.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

Jetzt spenden

Zum Glück ist das Wetter schön und so habe ich beschlossen, dass wir die Tage, so gut es geht, draussen verbringen. Das Spazierengehen klappt nur bedingt. Aber wir sitzen auf der Terrasse. Ich habe die Gartenmöbel herausgeholt und so können wir gut eingepackt mit Jacke, Decke und Mütze draussen sitzen.

Die Sonne geniessen, uns an den Frühlingsboten erfreuen und Ruhe spüren.

So geht es dir gut – und mir auch. Denn es hilft mir, Ruhe zu finden in diesen unruhigen Zeiten und die brauche ich ganz dringend, um für meine Familie da zu sein.

Ich informiere mich, wenn ich alleine bin. Ich entscheide, was ich sehe und was nicht. Weisst du, Mama, die Ruhe mit dir gibt mir auch ein wenig Kraft, diesen Krieg nicht ohnmächtig zu erleben. Mit den Kindern habe ich besprochen, was wir tun können und wollen.

Liebe Mama, ich hoffe, dass du gut durch diese Zeit kommst, ohne Angst und Sorgen. Und falls doch, dann werden wir dich trösten und in den Arm nehmen, so wie du es früher mit mir getan hast.

Deine Peggy