Trotz Demenz: Der Mensch bleibt - demenzjournal.com

Personzentriert betreuen

Trotz Demenz: Der Mensch bleibt

Ein älterer Mann wischt einen Kiesweg.

Menschen mit Demenz haben eine Menge Ressourcen. Symbolbild Dominique Meienberg

Es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit Demenz. Altentherapeutin Ruth Wetzel rät stattdessen dazu, dem Menschen mit seiner Geschichte und seinen individuellen Bedürfnissen zu begegnen. Drei Fallbeispiele zur sinnvollen Alltagsgestaltung und Aktivierung von Menschen mit Demenz.

«Ich wollte mal OP-Schwester werden. Aber wie dort über die Patienten gesprochen wurde, hat mir nicht gefallen», erzählt Ruth Wetzel. Die «Unterschenkelfraktur» anstelle des Namens ­– mit Entpersönlichung dieser Art konnte die Krankenschwester nichts anfangen. Als sich mit Dokumentationswahn und Ökonomisierung auch der Umgang auf der Station änderte, bildete sich Ruth Wetzel in den Neunzigern zur gerontopsychiatrischen Fachkraft weiter. Jetzt hat sie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung über personzentrierte Aktivierung bei Demenz veröffentlicht: «Was mit Demenz noch alles geht».

«Herausforderndes Verhalten» als Aufforderung

Der Mensch im Zentrum, das ist Ruth Wetzels Motto. Die Voraussetzung für gute Betreuung und Pflege. Weil es noch kein wirksames Demenzmedikament gibt, müssen wir uns auf das Leben mit Demenz einlassen. «Der Mensch bleibt», so Ruth Wetzel, «mit seiner Biografie, seinen Vorlieben und Bedürfnissen.» Bedürfnisse können sich täglich ändern, und je weiter die Erkrankung fortschreitet, desto weniger kann sie der Betreffende artikulieren. Aber:

«Wir müssen hinschauen und beobachten: Was passiert da?»

Fühlt sich ein Mensch unverstanden, teilt er das mit. Wenn es nicht mehr anders geht mit Schreien, aggressivem oder agitiertem Verhalten. Doch dieses sogenannte «herausfordernde Verhalten» ist eigentlich ein «aufforderndes», das auf ein unerfülltes Bedürfnis hinweist.

Erinnerungen des Körpers nutzen

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Wer Biografie und Vorlieben kennt, kann solche Signale besser deuten. Oder gezielt an Ressourcen anknüpfen und Erinnerungen wecken, sprich aktivieren. Die Kraft des personzentrierten Ansatzes erlebte Ruth Wetzel schon oft. An ein Erlebnis erinnert sie sich besonders gut:

Wir betreuten in unserem Pflegeheim eine Frau mit Alzheimer. Von ihrer Tochter erfuhren wir, dass sie Doktor der Physik gewesen war und einige Zeit in Paris gelebt hatte. Ihr Standardsatz war: ‹Und was tun wir jetzt?›. Den sagte sie sehr oft. Das belastete die Tochter, denn ihre Mutter war eine gebildete, mehrsprachige Frau gewesen. Eines Tages kamen Praktikantinnen aus dem Gymnasium zu uns. Da bat ich sie, die Frau Doktor auf Französisch zu begrüssen – was sie taten. Und plötzlich parlierte diese Frau über ihre Zeit in Paris und die schönen Franzosen! Inzwischen kommt regelmässig ihre tschechische Nachbarin und die beiden reden tschechisch. Kein einziges ‹Und was tun wir jetzt›!

Sinnvolle Alltagsgestaltung planen

Auch wenn die Erinnerung schwindet, wird sie nicht völlig zerstört. Vieles kann lange getriggert werden. «Die Grundlage ist, die Biografie zu kennen, ergänzt durch eine Anamnese», betont Ruth Wetzel. Das ist Schritt 1 des 6-Phasen-Modells, das sie in ihrem Buch vorstellt (Grafik).

sechs Phasen der Aktivierung
Planung einer personzentrierten Aktivierung mit dem 6-Phasen-ModellGrafik Viktoria Hug

Auf der Basis dieser Informationen über den zu Betreuenden werden Probleme und Ressourcen definiert. Zu den Ressourcen zählen die vorhandenen Fähigkeiten, Vorlieben und Interessen. Sind die Betreuungsziele festgelegt, wird die Aktivierung individuell geplant – inklusive Ort, Termin und ob die Tätigkeit einzeln oder in Kleingruppen stattfindet. Aktivierungen können zum Beispiel stattfinden mittels:

  • Erinnerungsarbeit
  • Tiergestützte Aktivierung und Naturerleben
  • Musik
  • Bewegung
  • Essen, Backen, Kochen
  • Rituale, Feste und Spiritualität

Die Aktivierung sollte auch dokumentiert und ausgewertet werden. Das gewährleistet die Qualität der Betreuungsarbeit.

demenzwiki

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Ruth Wetzel stellt drei Wege der Aktivierung anhand von Fallbeispielen vor:

Die biografische Schatzkiste

Ich erinnere mich an einen Heimbewohner, der mit einer mit Puppen gefüllten Glasvitrine ins Pflegeheim einzog. Er zeigte mir stolz seine Sammlung und erzählte mir, dass er zu jedem Geburtstag von seiner Cousine eine Puppe geschenkt bekommen habe. Das war seine Schatzkiste!

Eine biografische Schatzkiste hat jeder, wenn auch in verschiedener Form. Der eine schreibt Tagebücher oder besitzt Poesie- und Fotoalben. Der andere sammelt Erinnerungsstücke in Schränken, Regalen oder Kisten. Diese Schätze können in einer Kiste gesammelt und als Anlässe für Gespräche, Handlungen oder haptisches Erleben genutzt werden. Sie dienen der Beziehungsgestaltung, schaffen Erfolgserlebnisse und Sicherheit.

Tipp

Bitten Sie Angehörige, beim Einzug des oder der Betroffenen wichtige Erinnerungsstücke von ihm oder ihr mitzubringen, z.B. Fotos, Talisman, Sammlerstücke, Poesiealbum, Rosenkranz, Schmuck, Postkarten, Gebetbuch etc.

In Schatzkisten werden Erinnerungsstücke aufbewahrt.
Die Schatzkisten mit Erinnerungsstücken sind individuell gestaltet.Bild Ruth Wetzel

Fallbeispiel: Herr Berger

Herr Berger lebt seit einigen Jahren in Folge einer Hirnblutung in einem Pflegeheim. Er ist nicht mehr so mobil, kann sich zeitlich und örtlich nicht immer orientieren und hat Wortfindungsstörungen. Früher war er Musiklehrer. Er liebt Klassik, Kirchen- und Kammermusik, singt gerne, gab private Klavierkonzerte und leitete den Kirchenchor. Sein Idol: Mozart.

Unter Berücksichtigung seiner Vorlieben und Ressourcen wird Herr Bergers biografische Schatzkiste bestückt mit

  • laminierten Bildern berühmter klassischer Musiker
  • Notenheften und Stimmgabel
  • Fotos von Herrn Bergers Konzerten
  • passenden Höreinspielungen

Ich erinnere mich an den ersten Besuch bei ihm mit seiner Schatzkiste. Ich klopfe an die Zimmertür. Herr Berger sitzt im Rollstuhl an seinem Tisch. Ich nehme Blickkontakt auf, indem ich mich ihm gegenübersetze. Nach der wertschätzenden Begrüßung lade ich ihn zu einem Begrüßungsritual ein. Wir singen «Danke für diesen guten Morgen». Er singt mit Freude kräftig mit.

Ich lade ihn ein, mir seine Schatzkiste zu zeigen. Kaum steht die Kiste mit einem Klavierbild auf dem Deckel vor ihm, öffnet er sie unaufgefordert. Die Tür zur Erinnerung steht offen. Herr Berger greift selbständig nach den Bildern und legt sie ordentlich in einer Reihe vor sich hin. Ich lobe seine strukturierte Vorgehensweise. Er strahlt. «Herr Berger, ich kenne mich mit den Musikern nicht aus. Können Sie mir helfen?», frage ich ihn. Daraufhin zeigt und benennt er mir zuerst Mozart. Einige bekannte Musikstücke nennt er mir mit Sprachpausen – aber auch mit Rührung. Wir hören uns eine Sequenz aus der Zauberflöte an. Nach einer gewissen Zeit packen wir die Sachen gemeinsam wieder in seine Schatzkiste und stellen diese in sein Regal. Ich leite die Verabschiedung mit dem Lied «Auf Wiedersehen» ein. Er singt mit, reicht mir die Hand zum Abschied. Ich gehe winkend aus seinem Zimmer. Er winkt zurück.

Natur erleben in der Gartentherapie

Fallbeispiel: Frau winter

Die 79-jährige Frau Winter lebt mit Parkinson und mittelschwerer Demenz in einem Pflegeheim. Sie liebte es, in ihrem Garten zu arbeiten, was ihr nun fehlt. Ihr ist oft langweilig, sie ist vergesslich, zeitlich und örtlich desorientiert und kann ihre Bedürfnisse nicht mehr formulieren.

Unter Berücksichtigung der früher so geliebten Gartenarbeit suchen wir nach Wegen, Frau Winter diese nach ihren Ressourcen in ihrer Tagesstruktur zu ermöglichen.

Wir treffen uns als Gruppe in einem Stuhlkreis am Hochbeet. Nach der persönlichen Begrüssung erkundige ich mich nach dem Wohlbefinden jedes Einzelnen, damit ich weiss, worauf ich achten muss. Dann informiere ich über unsere Aufgaben – wir wollen Setzlinge pflanzen – und wir ziehen gemeinsam unsere Schürzen an. Das ist ein Trigger: Jetzt wird gearbeitet!

Mit ihren Rollatoren begeben sich alle zum Hochbeet. Als Frau Winter die Kräutertöpfe sieht, hat sie ihre Aufgabe gefunden. Frau Fuchs schliesst sich ihr an mit den Worten: «Wir sind die Kräuterhexen!» Beide lachen. Ich beobachte die fleissigen Gärtnerinnen, die vor Begeisterung strahlen.

Wir giessen die Pflänzchen und beschriften die Pflanzenschilder, ehe wir die Schürzen in einen Korb legen. Ich schliesse mit den Worten: «Nach getaner Arbeit sollst …» «… du ruhen», ergänzt Frau Winter. Ja, sie haben viel geschafft! Das würdige ich, indem ich laut darüber reflektiere und mich bei jedem bedanke. Als Schlussritual fassen wir uns bei den Händen und wünschen uns guten Appetit, denn bald gibt es Mittagessen.

Hände pflanzen einen Setzling ein
Gartenarbeit regt die Sinne an und schenkt Erfolgserlebnisse – wenn man gerne gartelt.Bild Ruth Wetzel

Spiritualität heißt Verbundenheit

Spiritualität ist im Wesen des Menschen angelegt, egal welcher Kultur und Religion er angehört. Sie geschieht immer in Verbindung von Systemen, wie Mensch und Natur, Mensch und Kultur oder auch im Kontakt mit zwei Menschen. In dieser Beziehung kommt es zu einer tiefen emotionalen Verbundenheit, zu einem Gefühl der Anerkennung und Zugehörigkeit.

Fallbeispiel: Frau Heinrich

Es ist Sommer. Ich beobachte in meiner Mittagspause, die ich im Demenzgarten verbringe, eine sehr berührende Begebenheit. Ein älterer Mann steht hinter seiner Frau im Rollstuhl vor einem Wegkreuz. Ich beobachte, wie Frau Heinrich ihre Hände faltet. Sie richtet den Blick auf das Kreuz und murmelt unverständliche Laute vor sich hin. Herr Heinrich legt seine Hände auf ihre Schultern.

Diese berührende Situation dauert ein paar Minuten. Dann hören die murmelten Laute auf, Frau Heinrichs Hände liegen wieder auf ihren Oberschenkeln. Herr Heinrich flüstert seiner Frau etwas ins Ohr, das ich nicht verstehe. Aber es fühlt sich liebevoll und zufrieden an. Später erzählt mir Herr Heinrich: «Meine Frau ist sehr gläubig. Da sie aufgrund ihrer Demenz kaum noch sprechen kann, erlebe ich im stillen Gebet einen gemeinsamen Frieden mit ihr.»

Oft braucht es also gar nicht viel. Voraussetzung ist, dass man die Geschichte des Betreffenden kennt und sich auf seine Welt einlässt. Auf die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben eines Menschen eingehen, das ist Wertschätzung und Zugewandtheit.

Was Ruth Wetzel sich wünscht, sollte sie an Demenz erkranken? «Ich möchte Wertschätzung erleben, Teilhabe an der Gesellschaft. Ich will nicht beiseitegeschoben werde, weil ich anders rede oder plötzlich anfange zu singen. Das könnte tatsächlich passieren – ich singe gern!»


Cover des Buches «Was mit Demenz noch alles geht»

In «Was mit Demenz noch alles geht» stellt die erfahrene Altentherapeutin Ruth Wetzel Schritt für Schritt die personzentrierte Aktivierung von Menschen mit Demenz vor – inklusive Arbeitsblättern, Denkanstößen u.v.m. Das Buch gibt es für 24,90 € beim Reinhardt Verlag.

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