Was ist ein Ohrenkuss? - demenzjournal.com

Glück finden

Was ist ein Ohrenkuss?

Eine einfache und leichte Sprache schliesst Menschen mit Lese- und Rechtschreibeschwäche eben so ein wie Menschen mit Hirnverletzungen, kognitiven Einschränkungen oder Demenz. unsplash

Wie soll geschrieben werden, damit möglichst viele Menschen einen Text verstehen? Das ist gar nicht einfach. Das entdeckt unsere Autorin, und noch viel mehr. Zum Beispiel den Ohrenkuss. Und einen Text in leichter Sprache einer Autorin, die aus Kiew geflüchtet ist.

Vor einigen Jahren wurde ich angefragt, ob ich einen Schreibkurs anbieten würde für Menschen mit Trisomie 21. Ich war verblüfft. Können Menschen mit Trisomie 21 lesen, schreiben, rechnen? Ich lernte: Ja, sie können das und noch viel mehr. Zum Beispiel ein Magazin herausgeben mit dem Namen Ohrenkuss. Und das seit 1998.

Alle, ausser der Chefredakteurin und einer Redaktionsassistentin, sind Menschen mit Trisomie 21. Ihre Texte werden ohne Korrekturen angenommen und abgedruckt. «1998 dachte man noch: Menschen mit Down-Syndrom können nicht lesen und schreiben. Ohrenkuss-Autorin Anna-Lisa Plettenberg sagt dazu: Ich will, das alle wissen: Menschen mit Down-Syndrom können lesen, schreiben und rechnen. Und dass die schlau sind!»

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So steht es auf der Webseite von www.ohrenkuss.de . Und auch die Erklärung des Namens finde ich hier: «Den Namen Ohrenkuss … da rein, da raus, hat Gründungsmitglied Michael Häger erfunden. Das Team hat sich zu einer der ersten Redaktions-Sitzungen in einer Eisdiele getroffen. Die Sonne schien, das Team hatte eine gute Zeit zusammen und einen grossen Eisbecher vor sich stehen. Grund genug, um vor lauter Glück Chef-Redakteurin Katja de Bragança aufs Ohr zu küssen. Alle riefen sofort: Ohrenkuss, Ohrenkuss!»

Ohrenkuss zeichnet sich aus durch die einfache oder leichte Sprache, in der über Mode, über Wunder, über den Anfang der Welt und viele weitere Themen berichtet wird.

Nachdem ich mich eingehend mit Ohrenkuss beschäftigt hatte, wurde mein ausgeschriebener Kurs mangels Anmeldungen abgesagt. Leider wagte der Anbieter keinen zweiten oder dritten Versuch. Trotzdem las ich immer mal wieder nach, was bei Ohrenkuss so lief. Und merkte, dass ich wenig oder gar nichts über einfache Sprache weiss.

Einfache Sprache, erfahre ich im Internet, unterscheidet sich von leichter Sprache. Beides sind Sprachen die sich an ein breites Zielpublikum wenden. Sie schliessen Menschen mit Lese- und Rechtschreibeschwäche eben so ein wie Menschen mit Hirnverletzungen, kognitiven Einschränkungen oder Demenz. Und auch Menschen mit geringen Deutschkenntnissen.

Sie alle verstehen die Texte in einfacher oder leichter Sprache besser als das übliche Deutsch, das oft von langen Sätzen und vielen Fremdwörtern geprägt ist. Texte in einfacher oder leichter Sprache helfen mit, Sprachbarrieren zu überwinden.

Die einfache Sprache ist, wie die leichte Sprache, eine vereinfachte Form des Deutschen.

Doch im Gegensatz zur leichten Sprache ist die einfache Sprache komplexer. Die Sätze sind länger, Nebensätze sind möglich und Alltagsbegriffe werden als bekannt vorausgesetzt. Die einfache Sprache unterscheidet sich nicht stark von unserer Alltagssprache.

Die leichte Sprache hingegen verwendet nur bekannte Wörter aus dem Grundwortschatz. Fachbegriffe werden durch Alltagswörter ersetzt oder erklärt. Es gibt keine Sätze mit mehreren Aussagen, es gibt also kaum Nebensätze. Ironie, Metaphern oder Floskeln können die Leserinnen und Leser verwirren und werden deshalb weggelassen. Jeder Satz beginnt auf einer neuen Zeile. Das erhöht die Lesbarkeit.

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Alle diese Informationen habe ich mir im Internet zusammensuchen müssen. All das habe ich nicht gewusst. Ich selbst verwende weder einfache noch leichte Sprache. Das bedeutet, dass meine Texte sich nicht an alle Menschen richten.

Will ich das? Literarische Texte oder Fachartikel werden oft nicht von allen Menschen verstanden. Ich selbst kenne das Scheitern beim Lesen, wenn ein Artikel gespickt ist mit Fremdwörtern. Was also ist zu tun?

Sicher geht es darum, zu überlegen, für wen man schreibt. Wer soll den Text verstehen? Wer soll eine Anweisung umsetzen können? Gerade auch Menschen mit geringen Deutschkenntnissen sind überfordert von Bildern und Sprichwörtern.

Die Krokodilstränen, die als unecht gelten, der Gürtel, der enger geschnallt werden muss in prekären Zeiten, das Handtuch, das geworfen wird: Dies sind Bilder, die nicht einfach zugänglich sind. Ich selbst bin in Italien mit genau solchen Redensarten trotz guter Sprachkenntnisse oft überfordert.

Die Wiener Lehrerin Helga Glatschnig bot in den neunziger Jahren Deutschkurse für fremdsprachige Kinder an. Ihre überraschenden und bilderreichen Aussagen und Definitionen hat sie gesammelt und in einem Lexikon zusammengestellt.

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Ernst Jandl nennt die Kinder im Vorwort eine Art von Sprachkünstlern. «Blume ist Kind von Wiese» heisst das Buch, das verblüffende Einsichten vermittelt: HAFEN – Bahnhof für Schiffe. KATZE – In der Nacht ist sie den ganzen Tag wach. PHILOSOPHIE – Viel so viel, so viele Bücher, so viele Seiten, so viel denken, so viel Kopf.

Diese poetische Aussagen lassen mich die Welt neu sehen. Heute sind diese Sprachkünstlerinnen und Sprachkünstler längst erwachsen und im Berufsleben angekommen, haben studiert oder eine andere Ausbildung abgeschlossen. Es ist zu hoffen, dass sie ihre frühere Wortkunst, ihre Poesie, nicht ganz vergessen haben.

Damals, als sie in Wien ankamen, waren sie auf leichte oder einfache Sprache angewiesen, so wie die Menschen die jetzt aus der Ukraine flüchten. Auch sie brauchen diese Unterstützung.

Ohrenkuss arbeitet zusammen mit dem atelier normalno in Kiew, dessen Mitglieder zum Teil geflüchtet sind.

Anna Sapon schickte einen ersten Text aus Deutschland, einen Text, der die Kraft und Möglichkeiten der leichten Sprache aufzeigt. Der Text ist übersetzt aus dem Ukrainischen.

Auf der Reise von Kyjiw nach Deutschland hatten wir gutes Wetter.

Jetzt sind wir hier.

Bei Euch.

Es ist gut.

Ich bekomme hier Kraft.

Das ist schön.

Hier gibt es einen Garten.

Und viele Menschen mit Kindern.

Wie verbringe ich meine Zeit hier?

Wir arbeiten.

Wir zeichnen,

Wir singen Lieder.

Und wir haben ein deutsches Spiel gespielt.

Manchmal sind wir still.

Ich habe einen Wunsch.

Ich möchte in einem grünen Garten sein.

Und ich will lernen, Dart zu spielen.


Ich hoffe, dass Anna Sapon und alle anderen Flüchtlinge das Glück wieder finden, Glück, das die Kinder in Helga Glantschnings Buch so definieren: GLÜCK – Ein Mariakäfer. Ein Rauchfänger. Ist Urlaub gehen. Dass du Hund hast. Wenn man nicht vom Fahrrad runter fällt. Dass man geboren ist.


Helga Glantschnig: Blume ist Kind von Wiese oder Deutsch ist meine neue Zunge, Luchterhand,1993