Als Kind lernte ich, dankbar zu sein dafür, dass wir mehr hatten als andere. Genügend zu essen, ein warmes Bett. Das war, hiess es, nicht für alle Kinder auf der Welt eine Selbstverständlichkeit. Deshalb hatte ich dankbar zu sein, klaglos meine Schulaufgaben zu erledigen und meine Ämtli im Haushalt. Auch das Beten vor dem Essen und vor dem Schlafen gehörte zur Dankbarkeit.
Spätestens als ich merkte, dass ich meinen Eltern dankbar sein sollte dafür, dass sie mich ungefragt in die Welt gesetzt hatten, spätestens da verliess mich die Dankbarkeit. In der Pubertät und darüber hinaus trug ich die Nase hoch. Wieso sollte ich dankbar sein und wofür? Hatten nicht die anderen zu danken, dass ich war, wie ich war?
Mir gehörte die Welt, alles war möglich, alles zu erreichen, und zwar aus eigener Kraft. Dankbar sein? Sicher nicht.
Viele Jahre später schlich sich die Dankbarkeit wieder in mein Leben. Ich ertappte mich dabei, dass ich mich laut bei meinen Pflanzen bedankte, bei meiner Wohnung, manchmal auch beim Stuhl, der mein Gewicht zu tragen hatte oder der warmen Dusche, die mich entspannte. Mein Dank schien ihnen nicht zu schaden.
Bei der Nähmaschine oder beim Computer bewirkte das Danke manchmal sogar Wunder: Das Gerät lief wieder fehlerlos, ohne dass ich wusste warum. Vielleicht war es wirklich das kleine Wort, das geholfen hatte, vielleicht aber war ich auch durchs Danke sagen etwas langsamer und ruhiger geworden, so dass ich an den richtigen Rädchen drehte oder die richtigen Tasten drückte.
WEITERE BEITRÄGE VON ESTHER SPINNER
Die Dankbarkeit ist nicht mehr aus meinem Leben entschwunden, jetzt, im Alter, brauche ich sie mehr denn je. Ich brauche sie, ich halte mich an ihr fest. Trotz und wegen allerlei unerfreulichem, das in meinem Körper passiert und rund um mich herum, halte ich zur Dankbarkeit und sie zu mir.
Es gibt vieles, wofür ich zu danken habe. Für Bücher zum Beispiel, die ich mit Freude und Genuss lese, die mich entführen aus dem manchmal grauen Alltag, mich die Arthrose in den Knien vergessen lassen. Ich bin dankbar für die Buchstaben, mit denen ich schreiben und spielen kann.
Dankbarkeit sei ein Gefühl, lese ich, und versuche zu ergründen, wie sich Dankbarkeit denn anfühlt. Etwas Warmes in meiner Brust, ein Herzschlag, der sich um weniges beschleunigt?
Ein Gefühl jedenfalls, dass sehr nahe der Freude und der Liebe ist. Ein positives und hoffnungsvolles Gefühl, das ich mir selbst verschaffen kann. Morgens zum Beispiel, wenn ich am Tisch sitze und aus dem Fenster der Amsel zuschaue, wie sie an den letzten Äpfeln im kahlen Baum herumpickt.
Ich trinke meinen Tee, ziehe mein Heft heran und schreibe ein paar Worte auf über diese Amsel – die ich Selma nenne, was ein Anagramm[i] ihres Namens ist – schaue dieser Selma zu wie sie pickt und zufrieden aussieht. So jedenfalls stelle ich mir so eine zufriedene Amsel vor. Das Zuschauen und Aufschreiben macht auch mich zufrieden. Und dankbar.