«Vom alten Ort zum neuen Ort, nicht mehr hier und noch nicht dort» - demenzjournal.com
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Züglete

«Vom alten Ort zum neuen Ort, nicht mehr hier und noch nicht dort»

In der Schweiz ziehen wir nicht um, wir zügeln. Vielleicht sind es nicht nur die Bücher und Möbel, die wir zügeln. Vielleicht ist es das eigene Leben, an das man Zügel legt und es in eine neue Richtung lenkt. Bild unsplash

Der Titel ist eine Vers-Zeile die ich vor knapp 20 Jahren schrieb. Jetzt, wo es erneut ans Umziehen geht, kommt sie mir wieder in den Sinn. Seit einigen Wochen lebe ich zwischen hier und dort.

Bei einem meiner Umzüge vor etwa 20 Jahren besichtigte ein möglicher Nachmieter meine Wohnung. Er schaute sich genau um, stellte viele Fragen zur Umgebung und der Nachbarschaft. «Wissen Sie», sagte er, «das soll meine letzte Wohnung sein, da muss alles stimmen.»

Ich schaute ihn verblüfft an. Viel älter als ich war er nicht. Mit meinen damals 52 Jahren stellte ich mir vor, dass ich noch mehrmals umziehen würde, so, wie ich während meines bisherigen Lebens oft umgezogen war. Der Höhepunkt waren die zehn Jahre, in denen ich zehn Mal umgesiedelt war.

Nun ziehe ich erneut um, und die Wohnung, in der ich in Zukunft leben werde, könnte sehr wohl meine letzte sein. Denn alles stimmt. Die Wohnung geht quer durchs ganze Haus und hat hinten und vorne ein Gärtli. Und im Haus gegenüber wohnt meine Lebensgefährtin, sozusagen über die Gasse. Ich freue mich, dass wir nach drei Jahren Abstand wieder nahe beisammen sind.

Umziehen nennt man in der Schweiz zügeln, So wie man Pferde zügelt, zügelt man in der Schweiz die Möbel.

Dazugehörige Wörter sind laut Wörterbuch die Zügelfirma und der Zügelmann, für die Zügelfrau ist das Wörterbuch aus dem Jahr 1989 zu alt. Der ganze Vorgang heisst Züglete.

Das Wörterbuch der Synonyme und Antonyme listet mehrere Wörter auf für den Umzug: ausziehen, fortziehen, übersiedeln, umsiedeln, sich verändern, verziehen, wegziehen, seine Wohnung aufgeben, seinen Haushalt oder Wohnsitz auflösen, verlegen, einen Wohnungswechsel vornehmen, an einen anderen Ort ziehen.

In der Schweiz aber ziehen wir nicht um, wir zügeln. Vielleicht sind es nicht nur die Bücher und Möbel, die wir zügeln. Vielleicht ist es das eigene Leben, an das man Zügel legt und es in eine neue Richtung lenkt.

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Mitten in meiner eigenen Züglete kommt mir der letzte Umzug meiner Mutter in den Sinn. Sie konnte nicht länger alleine leben in der Dreizimmer-Wohnung im dritten Stock ohne Lift. Ihr Atem war kurz geworden, mit einem Schlauch war sie mit einer Sauerstoff-Flasche verbunden. Trotz dieser Unterstützung brachten sie alltägliche Verrichtungen ausser Atem.

Die Hilfe der Spitex, meiner Schwester und mir reichte nicht mehr aus. Sie brauchte einen Pflegeplatz und zwar dringend. Einfach war das nicht. Die meisten Heime waren auf Monate hinaus ausgebucht, andere wollten keine Patientin mit einer Sauerstoff-Flasche.

Eine betreute Wohngruppe, in der ein Platz frei geworden war, lehnte hingegen meine Mutter ab. Sie wolle nicht mit lauter dementen Alten zusammen leben. Mit viel Glück fand ich ein winziges Einzelzimmer in einem kleinen Pflegeheim. Das war meiner Mutter gerade recht. Lieber ein kleines Zimmer als eine unsympathische Zimmernachbarin.

Ein letzter Rundgang durch ihre Wohnung verweigerte meine Mutter. Was soll’s, ich kenne die Zimmer. Erst Jahre später verstand ich, wie schmerzlich der Abschied für sie gewesen sein muss. Es ging nicht nur um die Wohnung, sondern um den Abschied von ihrer Selbständigkeit, von ihrem ganzen bisherigen Leben.

Dies war keine Züglete, bei der sie die Zügel in der Hand hielt, kein Wunschumzug in eine grössere, hellere, besser gelegene Wohnung.

Ihr Gesundheitszustand zwang sie zu dieser Umsiedlung. Selbst um die Treppen hinunter zu steigen fehlte ihr die Kraft.

Das Zimmer am neuen Wohnort war so schmal, dass neben dem Bett nur ein kleiner Tisch und zwei Stühle Platz fanden, dazu ihr eigener Nachttisch und am Fussende des Bettes der Fernseher. Doch der Tisch reichte aus, um Scrabble zu spielen, was wir ein- oder zweimal die Woche taten.

Zum Glück hatten wir dieses Spiel. Denn zu erzählen gab es nicht viel. Meine Mutter erlebte wenig, für meine Erlebnisse interessierte sie sich kaum. Nach einiger Zeit gewöhnte sie sich an den neuen Ort, knüpfte Beziehungen vor allem zum Pflegepersonal und fühlte sich gut betreut.

Meine Mutter lebte noch, als wir Töchter ihre Wohnung räumten. Zu allen Fragen schüttelte sie den Kopf: Ist mir egal.

Kein Brockenhaus – auch das ein schweizerisches Wort – wollte die Möbel. Erst jetzt, als meine Mutter nicht mehr durch die Räume ging, sah ich, wie abgenutzt das Sofa und die Fauteuils waren, sah die angestossenen Teller im Schrank und die dünn gewordenen Leintücher.

Wir verteilten den Schmuck unserer Mutter: Mir blieb eine Brosche, die ich jetzt, bei meinem eigenen Umzug, wieder in die Hand nehme; dazu ein Armband. Beides trug ich nie. Gerade die Brosche hatte mir immer besonders gut gefallen, ein aus Gold geformter Musikschlüssel, den meine Mutter oft am Mantelrevers trug.

An meine Kleider passt die Brosche nicht, genau so wenig wie das  Armband an mein Handgelenk. Hingegen trage ich ihren Ring, ein schmaler Reif mit einer Reihe glänzender Steine. Immer, wenn ich eine Lesung oder einen Vortrag halten soll, streife ich ihn über. Mit ihrem Ring fühle ich mich sicherer.

Auch einige Bücher trug ich aus ihrer Wohnung in meine. Noch vor wenigen Tagen standen sie in meinem Gestell, jetzt sind sie in Kisten verpackt, warten auf den neuen Ort, an dem sie in die bekannten Bücherregale einsortiert werden.

Vielleicht führt mich mein letzter Umzug auch ins Pflegeheim, vielleicht ist aber schon dieser Umzug der letzte, einer, bei dem ich die Zügel noch in der Hand habe.

Ich entscheide, was entsorgt wird und was weiterleben darf. Noch redet mir niemand drein, wenn ich ein paar Tassen zu viel behalte, weil ich sie mag. Ich spare mir die Ratgeber, die in den Buchhandlungen ausliegen und die beim Räumen helfen sollen. Selbst die Blumenvase mit dem Sprung darf mitkommen, schliesslich hat die Vase ihre eigene Geschichte.

Damals räumte Eugen die Wohnung meiner Mutter. Er hatte nicht nur einen Umzugsbus, er betrieb auch ein kleines Brockenhaus. Sorgfältig schlug er Teller um Teller in Zeitungspapier, verpackte Glas um Glas in Kisten, rollte die Teppiche ein.

Mit Eugen bin ich selbst mehrmals umgezogen, jetzt ist es sein Sohn, der meine Möbel in die neue Wohnung fahren wird. Bis dahin lebe ich im Dazwischen und hoffe, gut am neuen Ort anzukommen.


Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen Besonderheiten, Dudenverlag Mannheim, Wien, Zürich 1989

Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. De Gruyter, Berlin, New York 2004

Wörterbuch der Synonyme und Antonyme. Sinn- und sachverwandte Wörter und Begriffe sowie deren Gegenteil und Bedeutungsvarianten. Fischer TB, 2015