Mitten in meiner eigenen Züglete kommt mir der letzte Umzug meiner Mutter in den Sinn. Sie konnte nicht länger alleine leben in der Dreizimmer-Wohnung im dritten Stock ohne Lift. Ihr Atem war kurz geworden, mit einem Schlauch war sie mit einer Sauerstoff-Flasche verbunden. Trotz dieser Unterstützung brachten sie alltägliche Verrichtungen ausser Atem.
Die Hilfe der Spitex, meiner Schwester und mir reichte nicht mehr aus. Sie brauchte einen Pflegeplatz und zwar dringend. Einfach war das nicht. Die meisten Heime waren auf Monate hinaus ausgebucht, andere wollten keine Patientin mit einer Sauerstoff-Flasche.
Eine betreute Wohngruppe, in der ein Platz frei geworden war, lehnte hingegen meine Mutter ab. Sie wolle nicht mit lauter dementen Alten zusammen leben. Mit viel Glück fand ich ein winziges Einzelzimmer in einem kleinen Pflegeheim. Das war meiner Mutter gerade recht. Lieber ein kleines Zimmer als eine unsympathische Zimmernachbarin.
Ein letzter Rundgang durch ihre Wohnung verweigerte meine Mutter. Was soll’s, ich kenne die Zimmer. Erst Jahre später verstand ich, wie schmerzlich der Abschied für sie gewesen sein muss. Es ging nicht nur um die Wohnung, sondern um den Abschied von ihrer Selbständigkeit, von ihrem ganzen bisherigen Leben.
Dies war keine Züglete, bei der sie die Zügel in der Hand hielt, kein Wunschumzug in eine grössere, hellere, besser gelegene Wohnung.
Ihr
Gesundheitszustand zwang sie zu dieser Umsiedlung. Selbst um die Treppen hinunter zu steigen fehlte ihr die Kraft.
Das Zimmer am neuen Wohnort war so schmal, dass neben dem Bett nur ein kleiner Tisch und zwei Stühle Platz fanden, dazu ihr eigener Nachttisch und am Fussende des Bettes der Fernseher. Doch der Tisch reichte aus, um Scrabble zu spielen, was wir ein- oder zweimal die Woche taten.
Zum Glück hatten wir dieses Spiel. Denn zu erzählen gab es nicht viel. Meine Mutter erlebte wenig, für meine Erlebnisse interessierte sie sich kaum. Nach einiger Zeit gewöhnte sie sich an den neuen Ort, knüpfte Beziehungen vor allem zum Pflegepersonal und fühlte sich gut betreut.
Meine Mutter lebte noch, als wir Töchter ihre Wohnung räumten. Zu allen Fragen schüttelte sie den Kopf: Ist mir egal.
Kein Brockenhaus – auch das ein schweizerisches Wort – wollte die Möbel. Erst jetzt, als meine Mutter nicht mehr durch die Räume ging, sah ich, wie
abgenutzt das Sofa und die Fauteuils waren, sah die angestossenen Teller im Schrank und die dünn gewordenen Leintücher.
Wir verteilten den Schmuck unserer Mutter: Mir blieb eine Brosche, die ich jetzt, bei meinem eigenen Umzug, wieder in die Hand nehme; dazu ein Armband. Beides trug ich nie. Gerade die Brosche hatte mir immer besonders gut gefallen, ein aus Gold geformter Musikschlüssel, den meine Mutter oft am Mantelrevers trug.
An meine Kleider passt die Brosche nicht, genau so wenig wie das Armband an mein Handgelenk. Hingegen trage ich ihren Ring, ein schmaler Reif mit einer Reihe glänzender Steine. Immer, wenn ich eine Lesung oder einen Vortrag halten soll, streife ich ihn über. Mit ihrem Ring fühle ich mich sicherer.
Auch einige Bücher trug ich aus ihrer Wohnung in meine. Noch vor wenigen Tagen standen sie in meinem Gestell, jetzt sind sie in Kisten verpackt, warten auf den neuen Ort, an dem sie in die bekannten Bücherregale einsortiert werden.
Vielleicht führt mich mein letzter Umzug auch ins Pflegeheim, vielleicht ist aber schon dieser Umzug der letzte, einer, bei dem ich die Zügel noch in der Hand habe.
Ich entscheide, was entsorgt wird und was weiterleben darf. Noch redet mir niemand drein, wenn ich ein paar Tassen zu viel behalte, weil ich sie mag.
Ich spare mir die Ratgeber, die in den Buchhandlungen ausliegen und die beim Räumen helfen sollen. Selbst die Blumenvase mit dem Sprung darf mitkommen, schliesslich hat die Vase ihre eigene Geschichte.
Damals räumte Eugen die Wohnung meiner Mutter. Er hatte nicht nur einen Umzugsbus, er betrieb auch ein kleines Brockenhaus. Sorgfältig schlug er Teller um Teller in Zeitungspapier, verpackte Glas um Glas in Kisten, rollte die Teppiche ein.
Mit Eugen bin ich selbst mehrmals umgezogen, jetzt ist es sein Sohn, der meine Möbel in die neue Wohnung fahren wird. Bis dahin lebe ich im Dazwischen und hoffe, gut am neuen Ort anzukommen.