Glaube nicht alles, was du denkst! - demenzjournal.com

Reflexionen

Glaube nicht alles, was du denkst!

Wer schaut eigentlich noch die Welt an? Die Blumen, Bäume, Menschen, die Schnecke auf dem Weg, auf die ich auf keinen Fall treten will? Kelly Sikkema/unsplash

Letzthin fiel unserer Bloggerin eine Karte mit dieser Aufforderung in die Hände. Und sofort spielten sich in ihrem Kopf Szenen ab, die zu dieser Aussage passen: Oft ist es besser, das Denken – und manchmal auch die Gefühle – ein zweites und drittes Mal zu begutachten, bevor man sie als unumstössliche Wahrheit betrachtet.

Am Rand der Wiese hinter unserer Siedlung sitzt ein Mädchen. Sie sitzt allein, die Beine untergeschlagen, vornübergebeugt. Etwas entfernt werfen sich weitere Kinder einen Ball zu, eines fährt mit dem Kindervelo im Kreis. Das Mädchen, das ich auf höchstens sechs schätze, sitzt allein.

Schreibt sie eine Kurznachricht? frage ich mich. In diesem Alter? Im Näherkommen entscheide ich, dass sie älter ist, immer noch sehr jung, aber doch in einem Alter, in dem SMS schreiben möglich ist.

Innerlich schüttle ich den Kopf. Ich bin aus der heutigen Zeit gefallen.

Jetzt gehe ich an der Kleinen vorbei, schau aufmerksam zu ihr hin. Sie bemerkt mich nicht, bleibt konzentriert über ihre Hände gebeugt. Vor ihr im Gras liegen Margeriten, diese kleinen, die wir Müllerblüemli nannten. Ihr Hände sind damit beschäftigt, die Blümlein zu einem Kranz oder einer Kette zu fügen. Genauso, wie wir es taten, damals, vor vielen Jahren.

Mit dem Fingernagel ritzten wir den Stiel, zogen den Stiel der nächsten Blume durch den entstandenen Riss, bis sie mit dem Köpfchen anstand. Die Ketten, zum Kreis geschlossen, legten wir uns um dem Hals oder auf den Kopf, je nach Länge. Was wohl das Mädchen mit seiner Blumenkette tut?

Eine andere Szene. Ich spaziere mit meiner kleinen Hündin an der Limmat, als aus dem angrenzenden Park ein grösserer Hund angerannt kommt, schwarz mit weisser Zeichnung. So, wie er sich auf meine Hündin stürzt, muss er jung sein. Hinter ihm her kommt eine ebenfalls junge Frau gerannt, die ihn gern einfangen oder zumindest bremsen möchte.

Aber schon entdeckt der Hund ein weiteres Objekt: Etwas entfernt kommt uns eine alte Frau entgegen – vielleicht so alt wie ich – mit einem Hund in der Grösse von meinem. Offensichtlich hat sie Angst vor diesem stürmischen Junghund, und zwar nicht für sich, sondern für ihren Hund.

Sie drückt ihn gegen die Mauer neben dem Weg, schützt ihn mit ihrem Körper. Nun sind wir alle auf gleicher Höhe, die junge Frau, ausser Atem, leint ihren Hund an und entschuldigt sich wortreich. Er ist ja nicht böse, er ist nur jung, äxgüsi viel mal. Noch immer drückt die alte Frau ihren Hund an die Wand. Natürlich ist er nicht böse, sagt sie, aber ich mag das Gekläffe einfach nicht.

Zuwendung

«Hast du je Hilfe gebraucht?»

Hilfe wird gegeben, angeboten oder verweigert. Hilfe wird angenommen oder abgelehnt. Angesichts schwerer Erkrankungen oder des Todes überfällt uns oft Hilflosigkeit. Esther Spinner … weiterlesen

Mein Hund bellt alle Hunde an und hört nicht mehr auf. Der Kleine an der Wand fletscht die Zähne, gleich wird es losgehen. Die Besitzerin winkt die junge Frau und ihren Hund weiter. Nochmals Glück gehabt, sagt sie zu mir, wissen Sie, er ist wirklich unmöglich.

Zwei Szenen, zwei Beobachtungen. Zu beiden dachte ich mir das Falsche.

Die Frau in meinem Alter betrachtete ich als ängstlich – vielleicht weil ich selbst oft ängstlich bin? Dem Mädchen schob ich ein Verhalten unter, das mich öfters nervt.

Ich mag sie nicht mehr sehen, alle diese Menschen, die auf ihre Handys starren und Nachrichten lesen oder tippen: Die Frau mit dem Kinderwagen, der Mann mit dem Kind auf dem Dreirad, das mittelalte Paar. Wer schaut eigentlich noch die Welt an? Die Blumen, Bäume, Menschen, die Schnecke auf dem Weg, auf die ich auf keinen Fall treten will?

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Oder haben die Handymenschen die Fähigkeit, mit einem Auge aufs Handy und mit dem anderen in die Welt zu schauen? Glaube nicht alles, was du denkst, ermahne ich mich, es könnte alles ganz anders sein.

Gilt dieser Satz wohl auch, wenn ich über mich nachdenke? Wenn ich von mir glaube, dass ich faul und energielos bin, dass ich eine schlechte Schriftstellerin bin, dass alle Menschen täglich turnen, nur ich nicht. Und so weiter.

Was, wenn ich das, was ich über mich denke, gar nicht glauben müsste?

Ich bin nicht faul, nur manchmal müde, ich bin eine gute Schriftstellerin, so wie viele andere auch. Und ich turne immerhin ab und zu. Wären solche Gedanken hilfreicher? Wahrscheinlich schon.

Und noch ein Gedanke stellt sich ein: Was denke ich, denken andere über mich? Manchmal stelle ich mir die fremden Gedanken vor – und wahrscheinlich stimmen nur wenige. Ab und zu erfahre ich sie, so wie letzthin in der Bibliothek.

Als ich ein Buch in der Hand hielt, das für 2 Franken verkauft werden sollte, sprach die Frau mich an: Ein tolles Buch, sehr interessant aufgebaut. Ich kaufte es und war begeistert. Seither sprechen wir hin und wieder miteinander, empfehlen uns das eine oder andere Buch.

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Fallbeispiele

Fallbeispiele wecken Emotionen und verbinden die Praxis mit der Theorie. Sie helfen mit, das  Verhalten von Menschen mit Demenz zu verstehen. weiterlesen

Bei unserem bisher letzten Gespräch erzählte ich ihr von einem Sachbuch, das meine Partnerin gerade lese. Sie riss die Augen auf. Bist du lesbisch? Das hätte ich nicht gedacht. Man sieht dir das wirklich nicht an. Und geschminkt bist du auch.

Jetzt war es an mir, die Augen aufzureissen. Die Antwort aber blieb mir im Halse stecken. Sie verabschiedete sich abrupt und seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Nur einmal schien mir, ich sähe sie um die Ecke eines Gestells streifen. Das war doch ihr gelber Pulli, den ich so mag. Ich schaute nicht nach, schlug einen anderen Weg ein.

Ich dachte daran, dass mir laufend Ähnliches passiert. Das schnelle Urteilen, das Vor-Urteilen, das zum Ver-Urteilen führen kann, ist mir gut bekannt. Also muss ich mich selbst an der Nase nehmen und nicht alles glauben, was ich denke. Oder mich an den Satz auf einer anderen Postkarte halten: Auch das Gegenteil ist nicht immer wahr.