Etwas lernen aus dem Leben - demenzjournal.com

Gespräch mit einem Betroffenen

Etwas lernen aus dem Leben

Heute lebt Roman in der Sonnweid. Es geht in unserem Gespräch um das Existentielle im Leben. Bild Mara Truog

Michael Schmieder, ehemaliger Leiter des Demenzzentrums Sonnweid, hat mit Roman den Master in Ethik gemacht. Jetzt, knapp 20 Jahre später, lebt Roman als Betroffener in der Sonnweid, wo sich die beiden regelmässig begegnen. Ein Gespräch über Glück, Sinnhaftigkeit, Wünsche und Frauen.

alzheimer.ch: Roman, ist dein Leben gut?

Roman: (ohne zu überlegen) Ja, es war ein gutes Leben – auch wenn ich nicht immer 100-prozentig zufrieden bin, ist es auf der guten Seite.

Was war das Beste in deinem Leben?

(lange Pause) Das Beste, was war das? … Also, freundschaftliche, emotionale Beziehungen sind extrem wichtig und gut gewesen. Sind das Wichtigste.

Mit welchem Menschen konntest du das am besten leben?

Mit meiner Partnerin, der Heidi. Mit ihr konnte ich das am besten leben.

Dies waren die letzten drei Fragen, die ich Roman am Ende eines langen Interviews gestellt hatte. Roman ist ein 80-jähriger, weitgereister, belesener, vielsprachiger Mann, der mit mir den ersten Studiengang zum Master in angewandter Ethik absolviert hat.

Nach vielen Jahren kamen wir wieder in Kontakt. Heute lebt er in der Sonnweid. Es ging in unserem Gespräch um das Existentielle im Leben, zuerst um das Glück.

Roman, bist du ein glücklicher Mensch?

Jesses Gott … (lange Pause).

Ich frage umgekehrt: Bist du ein unglücklicher Mensch?

Nein, das bin ich nicht.

Was braucht es, dass man nicht unglücklich ist?

(lange Pause) Also, was braucht es, damit man nicht unglücklich ist? (wieder lange Pause) Ein zufriedenes Leben.

Und was braucht es zu einem zufriedenen Leben?

Das ist ein Stück schwieriger…

Ich habe dich gefragt, ob du unglücklich bist. Dann hast du gesagt, nein, unglücklich bin ich nicht …

Ich glaube schon, ja, ich habe ein komfortables Leben, wenn man das so sagen kann.

Viele Freunde habe ich nicht, aber die Bekannten und Freunde, die ich habe, das ist schon zufriedenstellend.

Das ist wichtig. Was möchtest du sonst noch wissen?

Ich glaube, man kann zufrieden sein, ohne glücklich zu sein. Glück ist ja wie eine Stufe höher.

Das ist eine schwierige Sache, Glück. Ich bin nicht sicher, ob ich glücklich bin im Leben.

Ich glaube, das Glück ist immer nur der Moment.

Ja, das ist möglich.

Für mich entsteht Glück nur, wenn es wechselt … 

Wenn es immer gleich wäre, wäre das gar nicht interessant.

Es verliert etwas.

Ja, ja.

In einer Beziehung zu einer Frau ist es auch so, wenn es immer gleich wäre.

Wobei es variiert – natürlich während dieser Zeit, in der du die Beziehung hast, bist du dauernd glücklich? Ich weiss nicht. Variationen gibt es natürlich schon auch, gut.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Du hast die Frauen gern gehabt.

Ich habe sie immer noch gern, das bleibt.

Was fasziniert dich an Frauen?

Also der Sex natürlich.

Das lassen wir jetzt mal weg …

Aber eine Frau im Gegensatz zu einem Mann … Sie sind schon ein wenig anders, aber Sexualität ist natürlich schon wichtig.

Kannst du dein Leben hier in der Sonnweid so leben, wie du möchtest, wie du denkst, dass es jetzt gut ist?

Ja, eigentlich schon.

Gibt es etwas, was du gerne anders hättest?

Gottfriedstutz! Manchmal schon, ja.

Was denn?

Ein reicheres Leben, die Ver­schiedenheit.

Ist es manchmal eintönig?

Ja, manchmal schon.

Hast du Wünsche?

Was ich wollte – puh, das weiss ich jetzt nicht. Ich könnte nicht sagen, ich möchte mehr Geld oder mehr Freunde, oder ich möchte eine Freundin mehr, oder eine andere. Ich weiss nicht, was ich sagen soll.

Wie stellst du dir das Lebensende vor?

Ich stelle mir gar nicht viel vor.

Also, ich habe das Gefühl, wir müssen alle mal gehen, sterben tun wir alle, das ist klar.

Das ist jetzt nicht unbedingt mit irgendetwas Speziellem verbunden. Wieso stellst du mir solche Fragen?

Weil es mich interessiert, was du denkst.

Warum interessiert dich, was ICH denke?

Weil du schon viel übers Leben nachgedacht hast.

Ja, früher schon.

Was ist die Quintessenz des Lebens?

Oh, Jesses Gott, was ist die Quintessenz des Lebens? Ich glaube, die gibt es gar nicht. ­Wir leben so, wie wir uns entwickelt haben, wie wir entstanden sind.

Was ist der Sinn des Ganzen?

Das ist natürlich, sowieso, wenn man darüber nachdenkt. Ich weiss nicht, was überhaupt ein Sinn vom Leben ist. Was kann ein Sinn sein? Was heisst das überhaupt, der Sinn?

Vielleicht ist es eine Erkenntnis. Für mich ist eine der grössten Erkenntnisse im Leben, zu spüren, dass der Mensch eine Gemeinschaft braucht. Er möchte immer in Beziehung sein zu anderen Menschen.

Das scheint mir nicht falsch.

Wir sind keine isolierte Wesen.

Ja, das stimmt, das ist eine wichtige Erkenntnis.

Könnte es sein, dass man gerne etwas vergessen möchte?

Diese Überlegung habe ich mir bis jetzt noch nicht gemacht.

Gibt es Dinge in deinem Leben, die du gerne vergessen möchtest?

Nein, das habe ich noch nicht überlegt, es kommt mir nichts in den Sinn.

Wenn nichts da ist, das man vergessen möchte, ist das toll. Das zeugt von einem guten Leben. Ist dein Leben gut?

(ohne zu überlegen) Ja.

Wie ist es zur Publikation dieses Interviews gekommen? Ich las Roman den Text vor, bat ihn um Erlaubnis, seine Worte publizieren zu dürfen. Er war damit einverstanden. Ebenso fragte ich seine Partnerin, ob sie mit einer Veröffentlichung einverstanden sei. Sie war sehr dafür.