Beim ersten Turnier trägt der unbekannte Prinz ein weisses mit Silber besticktes Gewand und reitet einen Schimmel. Beim zweiten Turnier erscheint er ganz in rot, das Kleid mit Gold besetzt, das dritte Turnier gewinnt er auf einem pechschwarzen Ross, Zaumzeug und Kleid mit Diamanten bestickt. Dass er danach die Prinzessin heiratet, ist klar.
Ich sitze im Bett, auf meinen Knien das Buch, gestützt von einem Kissen, an mich gekuschelt meine Lebensgefährtin. Oft lese ich ihr abends vor, ganz besonders wenn wir mit dem Campingbus unterwegs sind gehört das Ritual dazu. Meist lese ich Märchen vor oder Kinderbücher.
Die Märchen der jeweiligen Gegend haben uns auf vielen Reisen begleitet. Letztes Jahr waren es die aus dem Jura, vor zwei Jahren Norddeutsche Märchen, zwei Jahre vorher waren es die Sizilianischen.
Die Märchen erzählen uns anderes über die jeweilige Gegend als die gängigen Reiseführer.
Wir erfahren von seltsamen Bräuchen, von Feen, die genau in der Höhle wohnten, die wir besuchten, lernen die Landessitten aus völlig neuem Blickwinkel kennen. Jetzt sitze ich in der Ostschweiz, direkt an der Thur.
Gestern Nacht hörten wir, dass die Thurgauer Bauern als besonders pfiffig galten, sogar den Teufel überlisteten sie. Er wurde in ein Fass Most geworfen, danach in einen Geissenstall gesperrt und zuletzt auf einen Ziegenbock gesetzt. Kein Wunder hatte sich der Teufel geschworen, den Thurgau niemals mehr zu besuchen.
Manchmal schläft meine Lebensgefährtin ein während des Vorlesens. Jedenfalls kann sie sich am nächsten Tag nicht mehr an den Inhalt des Märchens erinnern. Das ist egal, sagt sie, ich höre deiner Stimme zu.
Laut lesen, so beschreibt es Alberto Manguel in «Eine Geschichte des Lesens»1, sei früher das Übliche gewesen, damals, als nur die Mönche lesen konnten. Ein Bild zeigt einen Saal voller Mönche an Stehpulten. Bei der Vorstellung, dass die gleichzeitig alle laut lesen, rauschen mir die Ohren. Liest aber nur eine Person laut vor, trägt diese Stimme, trägt der Text durch Raum und Zeit.