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Vorlesetag

Die heilende Kraft des Vorlesens

Erlebnisberichte regen eigene Erinnerungen an, ablenkende Lektüre kann etwas Leichtigkeit in einen beschwerlichen Alltag bringen. Bild unsplash

Am vierten Schweizer Vorlesetag haben über 8000 Vorleserinnen und Vorleser Geschichten vorgelesen. Unter ihnen befanden sich auch dieses Jahr wieder viele bekannte Persönlichkeiten. Vorlesen kann man aber nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen und älteren Menschen.

Beim ersten Turnier trägt der unbekannte Prinz ein weisses mit Silber besticktes Gewand und reitet einen Schimmel. Beim zweiten Turnier erscheint er ganz in rot, das Kleid mit Gold besetzt, das dritte Turnier gewinnt er auf einem pechschwarzen Ross, Zaumzeug und Kleid mit Diamanten bestickt. Dass er danach die Prinzessin heiratet, ist klar.

Ich sitze im Bett, auf meinen Knien das Buch, gestützt von einem Kissen, an mich gekuschelt meine Lebensgefährtin. Oft lese ich ihr abends vor, ganz besonders wenn wir mit dem Campingbus unterwegs sind gehört das Ritual dazu. Meist lese ich Märchen vor oder Kinderbücher.

Die Märchen der jeweiligen Gegend haben uns auf vielen Reisen begleitet. Letztes Jahr waren es die aus dem Jura, vor zwei Jahren Norddeutsche Märchen, zwei Jahre vorher waren es die Sizilianischen.

Die Märchen erzählen uns anderes über die jeweilige Gegend als die gängigen Reiseführer.

Wir erfahren von seltsamen Bräuchen, von Feen, die genau in der Höhle wohnten, die wir besuchten, lernen die Landessitten aus völlig neuem Blickwinkel kennen. Jetzt sitze ich in der Ostschweiz, direkt an der Thur.

Gestern Nacht hörten wir, dass die Thurgauer Bauern als besonders pfiffig galten, sogar den Teufel überlisteten sie. Er wurde in ein Fass Most geworfen, danach in einen Geissenstall gesperrt und zuletzt auf einen Ziegenbock gesetzt. Kein Wunder hatte sich der Teufel geschworen, den Thurgau niemals mehr zu besuchen.

«Das Weltgericht» von Hieronymus Bosch (Ausschnitt).Bild PD

Manchmal schläft meine Lebensgefährtin ein während des Vorlesens. Jedenfalls kann sie sich am nächsten Tag nicht mehr an den Inhalt des Märchens erinnern. Das ist egal, sagt sie, ich höre deiner Stimme zu.

Laut lesen, so beschreibt es Alberto Manguel in «Eine Geschichte des Lesens»1, sei früher das Übliche gewesen, damals, als nur die Mönche lesen konnten. Ein Bild zeigt einen Saal voller Mönche an Stehpulten. Bei der Vorstellung, dass die gleichzeitig alle laut lesen, rauschen mir die Ohren. Liest aber nur eine Person laut vor, trägt diese Stimme, trägt der Text durch Raum und Zeit.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Als ich ein Kind war, las mir mein Vater vor, nur mir allein, da meine Schwestern sich nicht mehr für Mein Name ist Eugen oder Tom Sawyers Abenteuer erwärmen konnten. In meiner Erinnerung liest er ohne zu stocken mit angenehmer Stimme. 

Vater las die Bubengeschichten, die ihn wohl selbst faszinierten, seiner jüngsten Tochter vor, die trotz des Vorlesens nicht zum gewünschten Sohn wurde.

Vielleicht las er mir auch die «Rote Zora» vor, eine Geschichte mit einer mutigen Heldin.

Das Vorlesen schaffte einen gemeinsamen Raum, in dem mein Vater und ich zusammengehörten. Die Wörter und Sätze umhüllten uns wie ein Zelt, das erfüllt war von seiner Stimme. Die Geschichte wurde zum gemeinsamen Erlebnis, fast war es, als ob wir den gleichen Traum träumten. Die Zeit verschwamm, ich lebte in der jeweiligen Geschichte, die mein Vater für mich allein vorlas.

ebenfalls von Esther Spinner

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Alle diese Geschichten sind mir im Kopf geblieben, noch heute erinnere ich mich an die Namen der Hauptpersonen und den Ablauf der Erzählungen, sehe noch das Schlafzimmer vor mir, das Doppelbett meiner Eltern und das gedämpfte Licht der Nachttischlampe.

Viele Jahre später wurde ich als Autorin für Lesungen angefragt. Einige Jahre lang fuhr ich in der ganzen deutschen Schweiz umher und hielt Lesungen in Kirchgemeindehäusern, Frauenzentren oder Berufsschulen. Ich lernte, dass Lesungen eine Möglichkeit sind, die eigenen Bücher zu verkaufen.

Anfangs war ich sehr unsicher, wusste nicht, ob meine Stimme tragen würde, ob sich überhaupt jemand für meine Texte interessierte. Ich sass jeweils äusserlich ruhig auf dem Podium mit eiskalten Händen, die sich erst erwärmten, nachdem ich das letzte Wort gelesen hatte und das Buch zuklappte. Auch bei öffentlichen Lesungen funktionierte das, was ich aus der Kinderzeit kannte:

Die Sätze verbanden mich mit dem Publikum, die Lesung wurde zu einem gemeinsamen Erlebnis. Ich las, ohne zu stocken.

Doch erst an einer Weiterbildung mit der Schauspielerin Esther Uebelhart lernte ich, dass es um den Atem geht, um den Rhythmus, dass dieser Atem nur fliessen kann, wenn ich aufrecht sitze.

Natürlich hatte ich mich jeweils auf die Lesungen vorbereitet, doch erst jetzt las ich mir selbst den Text laut vor, übte schwierige Wörter mehrmals, unterstrich in längeren Sätzen, wo die Betonung liegen sollte und markierte die Pausen mit einem Strich.

Für das Vorlesen zu Hause oder im Campingbus gelten diese Regeln nicht. Aber im halböffentlichen Rahmen, zum Beispiel in einem Pflegezentrum, bringt es viel, wenn sich jemand auf das Vorlesen vorbereitet.

Dabei ist auch die Wahl des Textes wichtig, der vorgelesen werden soll. Je nach Publikum eignen sich kürzere Texte besser, die in einer bestimmten Zeit zu Ende gelesen werden können. Einen Roman vorzulesen, setzt voraus, dass die Zuhörerinnen sich an die vorhergehende Lesung erinnern können. Kurze Zusammenfassungen zu Beginn des Vorlesens können dabei hilfreich sein.

Erlebnisberichte regen vielleicht eigene Erinnerungen an, ablenkende Lektüre kann etwas Leichtigkeit in einen beschwerlichen Alltag bringen.

Nicht zu vergessen die Gedichte. Gedichte vorzulesen hat heilende Kraft. Die Autorin Ruth Klüger berichtet vom Gedichte-Aufsagen im Konzentrationslager: «Verse sind, indem sie die Zeit einteilen, im wörtlichen Sinne ein Zeitvertreib. Ist die Zeit schlimm, dann kann man nichts Besseres mit ihr tun, als sie zu vertreiben, und jedes Gedicht wird zum Zauberspruch.»

Ab und zu verliert sich eines, ein neues kommt hinzu, ich gehe im Rhythmus der Gedichte und denke an die Aussage des Dichters Reiner Kunze3: Ein Gedicht ist wie ein Haus, es sollte die Erde bewohnbarer machen.

Den Zauber der Gedichte erlebte auch eine Gruppe Frauen, alle über 90 Jahre alt, die sich in einer Altersresidenz mit Gedichten beschäftigten2. Ein pensionierter Gymnasiallehrer begleitete sie dabei. Er brachte zu einem gewählten Thema Gedichte aus verschiedenen Jahrhunderten. Nach dem Vorlesen wurde diskutiert. Auch hier vertrieben Gedichte die Zeit, liessen Ängste und Schmerzen verblassen und brachten Licht in dunkle Tage.

Mir selbst sind Gedichte immer wieder ein Trost. Die Art, wie sich Rhythmus und Wörter verbinden vermittelt mir Sicherheit. Die gebundene Sprache der Gedichte liebe ich ebenso wie die Bilder, Farben und Düfte, die sie vor meinen Innern ausbreiten. Unsterblich duften die Linden – was bangst du nur? lese ich bei der Dichterin Ina Seidel. Jedes Jahr im Juni denke ich an ihre Zeile. Es gibt nichts zu Bangen, solange die Linden blühen und duften.

Mir selbst Gedichte vorzulesen, hilft mir, unzugängliche Texte zu verstehen. Die doppelte Wahrnehmung über Auge und Ohr bringt oft neue Einsichten. Einige Gedichte lerne ich auswendig, sage sie mir vor auf meinen Hundespaziergängen.


Der vierte Schweizer Vorlesetag fand am am 26. Mai 2021 statt.

1 Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Verlag Volk und Welt, 1998.

Dorothee Vögeli: Der Zauber der Liebe. Eine Gruppe von Hochbetagten in einem Zürcher Alterszeim befasst sich vierzehntäglich mit Lyrik. NZZ, 13.10.2012.

3 Reiner Kunze in 'Zitatenlexikon des 20. Jahrhunderts', Markus M. Rohner. Verlag by carta 1998.