Die Freude am Unterwegs sein - demenzjournal.com

Sich hinauswagen

Die Freude am Unterwegs sein

Finde ich das richtige Gleis? Verlaufe ich mich nicht? Und falls ich eine Fahrkarte brauche: Kann ich den Apparat bedienen? pixabay

Eine Zugfahrt von Zürich nach Bern kann Unsicherheiten vertreiben. So erlebte es unsere Autorin, die dank Reise und Begegnungen gestärkt nach Hause kam. Zu Hause sitzen? Nein. Sich hinauswagen, unbedingt, ist ihr Fazit.

Eine Reise. Zwar nur nach Bern, aber eine Reise mit mir allein. Das sollte ich schaffen, trotz der unruhigen Nacht. Die erste Enttäuschung auf dem Zürcher Bahnhof. Der Zug fährt nicht auf dem vertrauten Gleis 18, sondern auf Gleis 31, tief im Bauch des Bahnhofs. Zum Glück bin ich früh genug da.

Seit einigen Jahren bin ich immer zu früh auf Bahnhöfen, nur um keinen Zug zu verpassen. Ich traue mir nicht mehr so recht. Finde ich das richtige Gleis? Verlaufe ich mich nicht? Und falls ich eine Fahrkarte brauche: Kann ich den Apparat bedienen? Gibt es Neuerungen, die mich verwirren? Mich sicher fühlen ist keine Selbstverständlichkeit mehr.

Das Ticket habe ich in der Tasche, gelöst am Internetschalter der SBB. Zwar gelang es mir nicht, ein Retourbillet zu lösen, nur zwei Einzelbillette, für die Hinfahrt ein Sparbillett, für die Rückfahrt hingegen zahlte ich den vollen Preis. Wer das versteht? Ich jedenfalls nicht.

Das Gleis 31 zu finden erweist sich als weniger schwierig als gedacht, der Weg ist gut ausgeschildert. Unterwegs kaufe ich mir einen Tee, einfach weil ich so gern im Zug sitze und beim Hinausschauen Tee trinke. Nun stehe ich auf dem richtigen Perron, noch immer viel zu früh.

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Achtung, zurücktreten. Von rechts fährt ein Zug durch, bläst mir die Kapuze vom Kopf, dann ein Zug von links. Wie wird das alles organisiert? Ich staune darüber, dass es nicht häufiger zu Zusammenstössen kommt. Nochmals ein Schnellzug. Stecken da Menschen dahinter oder die viel besprochene künstliche Intelligenz?

Achtung, eine Gleisänderung. Nach Bern fährt der Zug nun auf Gleis 32, dafür derjenige nach Genf auf Gleis 31. Einmal mehr wundere ich mich darüber, dass die Welt funktioniert. Was, wenn der Strom ausfällt? In welchem Tunnel stecke ich dann fest? Die Reise nach Bern ist voller Tunnels, die Aussicht nicht mehr wie sie war.

Nicht ans Steckenbleiben denken, mahne ich mich, sonst gehst du noch nach Hause, ohne in den Zug zu steigen, der gerade einfährt.

Ich finde  ein leeres Abteil mit aufklappbarem Tischchen, auf dem der Tee und auch mein Schreibheft Platz finden. Leicht aufgeregt warte ich auf die Billett-Kontrolle. Ich habe entdeckt, dass die Nummer des Zuges, so wie sie auf der Anzeigetafel stand, nicht mit der Nummer auf meinem Fahrschein übereinstimmt. Die Abfahrtszeit schon, aber die Zugnummer nicht. Sie müsste aber übereinstimmen, weil ich mit dem Sparbillett nur den vorgesehenen Zug benutzen darf.

Der junge Kontrolleur nickt mir zu, alles in Ordnung. Ich atme auf. Auch wenn ich nicht verstehe, wieso diese Nummern nicht übereinstimmen. Man muss nicht alles mit dem Kopf versteh’n, sagt Mascha Kaléko in ihrem Gedicht Sozusagen grundlos vergnügt. Na also.

Der Tee ist abgekühlt, ich trinke ihn trotzdem. Ich bin unterwegs, schreibe ich auf, ich bin in Bewegung. Da fliegt noch ein Zitat durch meinen Kopf, das ich aufschreibe: Leben wie die Vögel/immer in Bewegung sein. Das schrieb Maria Lutz-Gantenbein, als sie über 80 Jahre alt war.

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Am Bahnhof Bern erwartet mich die Schreibkollegin. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Zwanzig, dreissig, vierzig Jahre? Wir umarmen uns wie alte Freundinnen, gehen Hand in Hand über den Bahnhofplatz zum Generationenhaus, dem ehemaligen Burgerspital.

Ich bin überwältigt: Ein altes, grosszügiges Gebäude aus Sandstein, da und dort Schmiedeeisen, ein Innenhof, ein Café ohne Konsumationszwang, eine Bibliothek, an Zimmertüren hängen Hinweise auf verschiedene Beratungsstellen.

Das will ich in Zürich auch, sage ich, als wir an den jungen Menschen vorbeigehen, die in Gruppen um Tische sitzen, lesend, schreibend, diskutierend, als wir vorbeigehen an Frauen in unserem Alter, alten Frauen also, die bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen, so wie wir wenig später auch, nur ohne Kuchen.

Ich bin beglückt vom Ort, beglückt von der Begegnung.

So lange haben wir uns nicht gesehen, haben uns auch damals kaum gekannt. Und doch wissen wir voneinander, haben ähnliche Leben gelebt, Leben in denen Wörter und Sätze die wichtigste Rolle spielten.

Sie schrieb und schreibt noch in Frankreich, ich schrieb in Italien, sie reiste jeweils nach Bern zu ihrer Lebensgefährtin, ich zur meinigen nach Zürich. Und bei beiden geht es jetzt ums Aufräumen. Wie organisiert sie sich, wie ich? Wo finden wir Unterstützung?

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Wie gut reisen tut, denke ich, als ich dösend im Zug sitze, und meine eigentlich das Treffen mit der Schreibkollegin. Ich mag weder lesen noch schreiben, denke über das Gespräch nach, drehe die fremden Gedanken in meinem Kopf. Einige gesellen sich zu meinen eigenen, andere verliere ich irgendwo zwischen Bern und Zürich.

Beim Aussteigen in Zürich, auf Gleis 31 natürlich, versperrt mir ein riesiger Koffer den Weg. Eine kleine rundliche Frau versucht, diesen Koffer, einen zweiten kleineren und ein weiteres Gepäckstück irgendwie aus dem Zug zu befördern. Als ich helfend eingreife, streckt sie mir einen Zettel entgegen. Where? fragt sie. Gleis 43 lese ich.

Ja, ich weiss wo das ist, behaupte ich, ohne zu wissen, woher meine plötzliche Sicherheit kommt. Und tatsächlich: Ohne zu zögern geleite ich die fremde Reisende an den gesuchten Ort, zunächst hinauf, dann quer, rechts und links, und wieder hinunter in die Tiefe. Dort verabschiede ich mich und gehe ohne mich zu verlaufen zum Ausgang Sihlquai.

Beschwingt und verjüngt durch die Begegnungen steige ich ins Tram. Doch es sind nicht nur diese, die meine Sicherheit stärkten. Es ist das Reisen an sich, die Freude am Unterwegs sein. Wie endet noch Mascha Kalékos Gedicht? Ich freu mich, dass ich … Dass ich mich freu. Eben.


Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe, Band 1, dtv 2012
Maria Lutz-Ganzenbein: Meine Trauer trag ich zum Gürteltier, Pendo 1983