«Heute kommt dein Sohn Michael zu uns» - demenzjournal.com
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50 Jahre Ehe

«Heute kommt dein Sohn Michael zu uns»

Früher haben die Maiers, die in einem norddeutschen Dorf bei Bremen wohnen, viel gemeinsam unternommen. Jetzt ist vieles schwierig geworden, weil Roswitha Maier zunehmend orientierungslos ist. Symbolbild unsplash

Roswitha Maier leidet an einer Demenz. Ihr Mann, mit dem sie seit fast 50 Jahren verheiratet ist, kümmert sich liebevoll um sie. Seine Sorgen und Ängste kann ihm allerdings niemand nehmen.

Früher war es für Roswitha Maier* völlig normal, wenn sich ihr Mann nach dem Essen hinlegte, um seinen Mittagsschlaf zu halten. Heute kann es passieren, dass sie dazwischen geht und erstaunt fragt: «Was macht denn dieser fremde Mann in meinem Bett?»

Das sind die Momente, die für den Ehemann besonders traurig sind. Es gibt mittlerweile ein neues Normal, und das bedeutet, dass ihn seine Frau immer öfter nicht mehr erkennt.

2016 bekam Roswitha Maier die Diagnose Alzheimer-Demenz. «Ich hatte es schon geahnt», sagt ihr Mann, «sie hat Dinge verlegt, konnte im Gespräch nicht mehr richtig folgen. Auch im Freundeskreis ist das aufgefallen.»

Seine Schwiegermutter hatte ebenfalls an einer Demenz gelitten, so kam die Diagnose für ihn, wie er meint, nicht überraschend. «Damals sagte man, sie sei vergesslich, man sprach das Wort Demenz nicht offen aus», so die Erfahrung des 80-Jährigen.

Erinnerungen sind ein starkes Fundament.

Früher haben die Maiers, die in einem norddeutschen Dorf bei Bremen wohnen, viel gemeinsam unternommen: Fahrten mit dem Wohnwagen, Radtouren über mehrere Tage, grössere Reisen, einmal mit dem Glacier Express durch die Schweiz, das war vor drei Jahren.

Heute wären solche Reisen schwierig, weil Roswitha Maier zunehmend orientierungslos ist. Mitunter fragt sie ihren Mann, ob sie nicht gemeinsam eine kleine Radtour machen wollen. Im letzten Jahr war das noch möglich.

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Und jetzt? «Mal sehen», antwortet Emil Maier unbestimmt. Ein kleiner Trost ist der tägliche Spaziergang, eine oder auch mal zwei Stunden. «Wir sind keine Stubenhocker», sagt der Norddeutsche.

Fast 50 Jahre ist das Paar verheiratet, für Emil Maier eine glückliche Zeit, es gab keine grösseren Einbrüche.

Jetzt muss er damit zurecht kommen, dass ihm seine Frau mehr und mehr entgleitet, auch wenn sich ihre Persönlichkeit durch die Krankheit nicht verändert hat, wie er meint.

«Sie ist nach wie vor ein sehr lieber, warmherziger Mensch.» In der Familie sei es völlig selbstverständlich, sich zu umarmen, auch mit den beiden Kindern. Daran hat auch Corona nichts geändert. Mittlerweile sind er und seine Frau geimpft.

In der Ehe war es die klassische Rollenverteilung: Er, gelernter Landmaschinenschlosser, arbeitete als Ausbilder in einem Berufsförderungswerk, sie war zu Hause und kümmerte sich um Haushalt und Kinder. Die Demenz hat neue Rollen geschaffen: Emil Maier hat den Part des Hausmanns übernommen.

Darüber hinaus ist er der Rund-um-die-Uhr-Betreuer seiner Frau. Er passt auf, dass sie nicht allein aus dem Haus geht und wegläuft, dass sie nicht zu sehr in Rage gerät, wenn sie ihren Hausschlüssel oder die Brille nicht findet.

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Wenn er nachfragt, was sie gelesen hat, weiss sie es in aller Regel nicht mehr. Jedoch habe sie, so der Ehemann, die grossartige Gabe, drum herum zu reden, so dass man meinen könnte, sie habe nichts von dem Gelesenen vergessen. So wie sie in vielen anderen Situationen ihre Vergesslichkeit sehr gut zu überspielen weiss.

Steht der Besuch des Sohnes an, sagt er seiner Frau vorher: «Heute kommt dein Sohn Michael zu uns.» Damit sie den Sohn nicht für den Briefträger oder Paketboten hält. Das alles zehrt an seinen Kräften, er hat abgenommen und wiegt mittlerweile nur noch 68 Kilo bei normaler Körpergrösse.

Kann er sich überhaupt vorstellen, seine Frau in ein Heim zu geben? «Wenn ich es körperlich nicht mehr schaffe, geht es wohl nicht anders. Aber im Heim würde sie schnell abbauen, und ich würde mir deshalb ständig Vorwürfe machen.»

Nachts sind die Sorgenschleifen in seinem Kopf besonders hartnäckig.

Das sind die Nächte, in denen seine Frau aufwacht und immer wieder fragt: «Wo bin ich hier eigentlich?» Jedes Mal antwortet er geduldig und hat, wenn die Fragen endlich aufhören, Mühe, wieder einzuschlafen.

Dazu kommt die Furcht vor der Einsamkeit. Wäre seine Frau im Heim, wäre er ganz allein in der Neubauwohnung mit den alten Möbeln. Mehr als 50 Jahre hat er alles mit seiner Frau zusammen gemacht. Und dann? Wie fühlt sich Alleinsein an?

Gerade in Zeiten von Corona, in denen Besuche komplizierter sind, fällt ihm der Gedanke, sich von seiner Frau zu trennen, besonders schwer. Gelegentlich sagt Roswitha Maier fast ein wenig provokativ: «Steck mich doch in ein Heim!» Das macht ihm die Entscheidung auch nicht leichter.

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Die Tochter der Maiers wohnt mit ihrer Familie ganz in der Nähe, auch Sohn Michael aus Hamburg besucht die Eltern regelmässig und kümmert sich um Anträge und Formulare. Doch Kinder können den Ehepartner nicht ersetzen. «Meine Eltern haben immer wie Pech und Schwefel zusammengehalten», sagt der Sohn. «Mein Vater hat das Prinzip der Loyalität verinnerlicht: in guten wie in schlechten Zeiten.»

Michael Maier hat sich mit der Krankheit seiner Mutter arrangiert, wie er sagt, auch wenn ihr Zustand ihn bekümmert. Gespräche? Sind schwierig geworden, meint der 40-Jährige; über das Wetter und die Vögel im Garten gehe es meist nicht hinaus.

«Ich versuche, mit vielen Menschen im Freundes- und Bekanntenkreis über die Demenz zu reden, das hilft mir sehr. Dabei mache ich immer wieder die Erfahrung: Unser Fall ist kein Einzelfall, es sind viele Familien betroffen.» Er hat ein Wochenendseminar für Angehörige von Demenzpatienten besucht, sein Vater anschliessend auch. «Man bekommt viele nützliche Tipps», weiss der Sohn.

Derzeit geht seine Mutter einmal in der Woche in die Tagespflege. Wenn Emil Maier seine Frau fragt, was sie dort gemacht, was sie gegessen hat, weiss sie es nicht mehr. Oder sie antwortet kurz und knapp: «Wir haben nichts gemacht.» Die Pflegekräfte hätten den Eindruck, so der Sohn, dass sich seine Mutter dort wohl fühle, dass sie offen und gesprächig sei.

Er versucht den Vater zu überzeugen, seine Frau mehrmals in der Woche in die Einrichtung gehen zu lassen, damit er mehr entlastet wird. Doch der Vater wehrt immer wieder ab, er habe im Moment nicht den Kopf, darüber nachzudenken, er sei zu sehr beansprucht von allem. Ein Teufelskreis, sagt der Sohn.

Es gibt aber auch Momente, in denen Emil Meier entspannen kann – mit Hilfe seiner Frau. Sie kraule ihm sehr gern den Kopf, massiere seinen Nacken, völlig intuitiv, erzählt er, ohne professionelle Ausbildung. Wenn er von den Massagen schwärmt, ist seine sonstige Zurückhaltung dahin. «Sie massiert mich genauso einfühlsam, wie sie es früher immer gemacht hat. Das ist sehr wohltuend.»

Ein anderes Ritual: Das Paar liest gemeinsam die Reiseberichte, die sie damals von ihren Touren gemacht haben. Dann sagen beide: «Das war einfach gut.»

Rituale können Rettungsanker sein, zumindest für kurze Zeit. Auch Humor kann helfen.

Wenn beide nachmittags zum Kaffee ein paar Kekse essen, sagt er zu ihr: «Stell dir vor, das ist jetzt ein fettes Stück Sahnetorte.» Dann lachen beide. Emil Meier ist dankbar, dass seine Frau ihren Humor nicht verloren hat.

Allerdings ist sie ängstlicher geworden. Schon früher war sie häufig in Sorge, befürchtete, dass jemandem aus der Familie etwas zustossen könne. Jetzt hat sie vor allem Angst, dass ihrem Mann etwas passiert. «Was wäre ich ohne dich, du bist meine Stütze» sind Sätze, die immer wieder kommen. «Ich darf  nicht ausfallen», sagt ihr Mann. Auch diesen Druck muss er aushalten.

Beim gemeinsamen Spaziergang kann es jedoch passieren, dass sich die Rollen vertauschen. Dann achtet sie darauf, dass er nicht vom Gehweg abkommt und womöglich stürzt. In diesem Moment wird sie zu seiner Beschützerin.

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* Auf Wunsch der Betroffenen wurden alle Namen von der Redaktion geändert.