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Blaue Zonen

Liebt und bewegt euch!

Michel Poulin, Forscher der Blauen Zonen

»Treffe ich jemanden zum ersten Mal, versuche ich, ihm neugierig und offen zu begegnen«, sagt Michel Poulin. Bild Geert Vanden Wijngaert

In gewissen Regionen der Welt werden die Menschen sehr alt. Michel Poulin hat diese »Blauen Zonen« untersucht und herausgefunden, warum dies so ist.

Von Jan Rübel, MUT Magzin für Lösungen

Professor Poulain, Sie begannen Ihre wissenschaftliche Karriere als Astrophysiker. Warum hörten Sie damit auf?

Nach meinem Diplom reiste ich nach Skandinavien, um das Phänomen des Nordlichts zu erforschen. Eine Aurora borealis ist das schönste Licht, das man sich vorstellen kann. Danach beschäftigte ich mich mit Satelliten, aber das wurde mir alles zu technisch und menschenfern, deshalb wechselte ich das Fach und wurde Lehrer für Mathematik, Chemie und Physik …

… und danach ausgerechnet Demograf. Warum das denn?

Meine Frau studierte damals Geschichte, und ich riet ihr, eine demografisch-historische Arbeit über mein Heimatdorf zu schreiben. Wir gingen das gemeinsam an – so begann meine Begeisterung für Demografie. Ich studierte also noch einmal, promovierte und gehörte schliesslich zu einer internationalen Forschergruppe, die sich mit dem Alter von Menschen beschäftigte.

Im Oktober 1999 hatten wir ein Treffen in Montpellier, bei dem ein Arzt aus Sardinien berichtete, dass es dort genauso viele männliche wie weibliche Hundertjährige gebe. Wir waren skeptisch und beschlossen bereits in der Kaffeepause, dass ich nach Sardinien reisen und diesen Fall untersuchen sollte.

Sie alle erwarteten offenbar, dass sich der Arzt geirrt hätte?

So war es, und dann fand ich bei meiner Reise durch 40 sardische Dörfer, dass es ungewöhnlich viele Hundertjährige gab, männliche wie weibliche. Das waren keine Zufälle, sondern in gewissen Dörfern echte Gruppen. Ich markierte sie auf meiner Karte mit einem blauen Stift; das war der Beginn der «blauen Zonen».

Wie reagierten Ihre Kollegen?

Sie waren nicht überzeugt. Sie schickten sogar hinter meinem Rücken eine Kontrollgruppe nach Sardinien, sie sollte meine Ergebnisse überprüfen.

Worauf gründete sich die Skepsis Ihrer Kollegen?

Überall auf der Erde gibt es sechs bis sieben Mal so viele weibliche wie männliche Hundertjährige, und viele Studien erklären, warum Frauen länger leben als Männer.

Diese »Blauen Zonen« haben die Forscher bis heute gefunden:

  • Provinz Ogliastra, Sardinien/Italien
  • Insel Okinawa, Japan
  • Halbinsel Nicoya, Costa Rica
  • Insel Ikaria, Griechenland
  • Loma Linda, Stadt in Südkalifornien

Die nächste Entdeckung war dann wohl, dass es nicht nur auf Sardinien solche Blauen Zonen gibt?

Richtig, auf einem Kongress in Vancouver traf ich einen Forscher aus Okinawa, der mich einlud, sein Land zu besuchen. Dort stiess ich auch auf Regionen, in denen Frauen und Männer ungewöhnlich lange leben. Und ich hörte von ähnlichen Orten in Costa Rica sowie Griechenland. Von da an waren Blaue Zonen ein anerkanntes Wissenschaftsthema.

Verfolgten Sie auch falsche Spuren?

Ich forschte auch in Georgien und Ecuador, aber die Daten, die ich erhob, qualifizierten die Orte nicht für eine Blaue Zone. Diese Forschungen brauchen Zeit.

Welches grosse Geheimnis für ein langes Leben haben Sie in den Blauen Zonen entdeckt?

Einfache menschliche Bedingungen: Liebe und ein Leben in Bewegung, enge Beziehungen zu Familie und Freunden.

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Könnten sich diese Bedingungen nicht auf jede Gesellschaft übertragen lassen?

Ja, wir sollten zum Beispiel darüber nachdenken, wie wir unsere Alten behandeln. Wir schmeissen sie aus ihren Häusern und schicken sie in Pflegeheime – eine unsinnige Isolierung. Unser Konsum steigt und mit ihm Umweltverschmutzung und Lärm. Es droht ein Kollaps, wenn wir uns nicht in Verzicht üben. Zum Glück steigt in vielen europäischen Ländern das Interesse an Bedingungen der Blauen Zonen – leider nicht so sehr in Deutschland. Ich weiss nicht warum.

Hat das Wissen über Blaue Zonen Ihr Leben verändert?

Ja, ich treibe noch Sport, esse kein rotes Fleisch, esse überhaupt weniger. Treffe ich jemanden zum ersten Mal, versuche ich, ihm neugierig und offen zu begegnen – und es im Umgang mit Freunden und Familie auch zu bleiben.

Die sieben Säulen für ein langes Leben

Michel Poulin nennt sieben Säulen, welche die »Blauen Zonen« miteinander verbinden:

  1. Bewegung ist natürliches Element des Alltags, keine künstliche Tätigkeit wie Sport. Man ist halt ständig unterwegs.
  2. Beim Essen hört man auf, bevor der Magen Sattheit bekundet. Viel Gemüse, Obst und Getreideprodukte kommen auf den Tisch, auch Fleisch – aber in Massen.
  3. Soziales Miteinander gehört dazu, zum Beispiel beim Essen. So geniesst man mehr und isst langsamer. Für die Alten gehören dazu auch ein, zwei Gläser Rotwein. Pausen werden eingehalten,  für Ausschlafen wird gesorgt und Stress vermieden. Viel Arbeit gehört dazu, aber keine zermürbende Schwerarbeit.
  4. Familie ist den Alten am wichtigsten. Sie streben Solidarität an und zeigen sie auch. Man achtet aufeinander, teilt Freud und Leid.
  5. Die Alten bauen auf einen engen Freundeskreis, dieser wirkt wie eine erweiterte Familie. Sie erleben den Alltag gemeinsam. Wichtig sind Feste, bei denen Jung und Alt zusammenkommen und feiern.
  6. Die Alten leben mit der Natur, kennen ihre Vorzüge und Gefahren – denken an die Ressourcen der Erde. Ihr Essen und Trinken beziehen sie vorwiegend aus der Region, was den Gemeinschaftsgeist ihrer Umgebung stärkt.
  7. Eine gewisse Ernsthaftigkeit kennen die Alten auch. Sie kann religiös sein, muss es aber nicht. Man formuliert für sich einen Plan, in Nicoya ist es der «Plan de vida», in Okinawa «Ikigai»: wofür es sich lohnt aufzustehen.

Dieser Artikel erschien im Herbst 2020 im Mut – Magazin für Lösungen. Wir bedanken uns bei der Reaktion für die Gelegenheit zur Zweiverwertung.