Liebe ist keine absolute Grösse - demenzjournal.com
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Frisch verliebt

Liebe ist keine absolute Grösse

»Ich liebe Heidi nach wie vor. Nicht ein bisschen, nicht 50 Prozent. Nicht weniger als Regina. Und ich liebe Regina. Sie erhält wegen Heidi nicht weniger Liebe von mir. Es gibt keine Verliererinnen. Nur Gewinnerinnen«, sagt Christoph Harms, hier mit Ehefrau Heidi und Freundin Regina. Bild privat

Christophs Frau bekam 51-jährig die niederschmetternde Diagnose Alzheimer. Sie lebten weiterhin zusammen, doch er verliebte sich frisch. Was zu dritt bestens funktionierte, stieß anfangs gegen außen zuweilen auf Widerstand.

Von Christoph Harms

Es ist Dienstagabend, Anfang Februar. Wir sitzen uns gegenüber in einem unscheinbaren Grill-Restaurant in St. Moritz. Ich bin am Sonntag angereist, allein. Grund: ein fünftägiges, intensivmedizinisches Symposium. Damit erfülle ich die Weiterbildungspflicht für meinen Facharzt-Titel in Intensivmedizin für dieses Jahr.

Während einer langweiligen Präsentation verließ ich den Vortragssaal, um einen Kaffee im Foyer zu trinken. Eine Teilnehmerin hatte offenbar dieselbe Idee, sie stand an einem der kleinen Stehtische. Ich schenkte mir einen Kaffee am Buffet ein und stellte mich zu ihr. Wir tauschten ein paar Gedanken zum Symposium aus und lästerten über die laufende Präsentation. Pünktlich zu Beginn des nächsten Vortrages gingen wir zurück an unsere Plätze.

Das Symposium endete an diesem Tag mit einer Round-Table-Diskussion zum Thema »Protektive Beatmungsstrategie in der Intensivmedizin«. Als ich mich danach auf den Weg zu meinem Hotel begab, begegnete ich Regina wieder. Wir verabredeten uns spontan zum Abendessen. Die Wahl fiel auf das Grill-Restaurant, weil wir beide Lust auf ein Stück Fleisch hatten.

»Wie wollen Sie Ihr Steak?«, fragt die junge Serviceangestellte Regina. »Medium-rare.« – »Und Sie?« – »Auch medium-rare«, antworte ich. »Was trinken Sie dazu?« Regina schaut mich fragend an. »Wein?«, frage ich zurück. »Rot oder Weiß?« – »Rot«, antworte ich. »Leicht oder schwer?« – »Schwer«, sage ich sofort. »Glas oder Flasche?« – »Eine Flasche.« – »Das passt ja bestens«, meint sie daraufhin und sucht einen Wein aus der Karte aus.

Small Talk, bis das Essen serviert wird. Das Fleisch ist sehr gut, der Wein passt, und plötzlich wird das Gespräch persönlicher. Ganz offen spreche ich über meine private Situation.

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Von meiner Frau Heidi, bei der vor dreieinhalb Jahren die Diagnose Alzheimer gestellt wurde. Damals war sie 51. Die Probleme begannen etwa eineinhalb Jahre zuvor: Fehler in den Arztberichten, die Heidi schrieb; Sprechstundentermine, die sie vergaß; Unzuverlässigkeiten bei Übergaben.

Die Folge: ein schlechtes Arbeitszeugnis. Das gab’s bisher noch nie in ihrer Karriere! Sie war die Gewissenhaftigkeit in Person. Man sprach von Überforderung. Ich kochte vor Wut, Heidi war nur traurig. Später wurde sie krankgeschrieben. Es folgte eine ambulante, psychiatrische Behandlung unter der Hypothese Depression/Überlastungssymptomatik.

Ein erneuter Arbeitsversuch nach fünf Monaten scheiterte innert Kürze und unter Tränen. Wir akzeptierten allmählich die Diagnose Depression. Keine schöne Zeit. Nach neun Monaten erfolgloser Therapie fragte uns die Therapeutin, ob sie Heidi zu einer neuropsychologischen Abklärung anmelden dürfe, sie glaube einfach nicht mehr an eine Depression. Das Resultat: schwere neuropsychologische Störung.

Ich vergesse diesen Moment bis heute nicht. Regina bemerkt, wie sich meine Augen beim Erzählen röten und ich ein Taschentuch brauche. Sie berührt kurz meine Hand. Da wird mir bewusst, wie persönlich ich beim Erzählen geworden bin. Dabei kennen wir uns gar nicht.

Bei der Verlaufsuntersuchung neun Monate später legte man sich auf die Diagnose »zunehmende, schwere neuropsychologische Störung, wahrscheinlich vom Alzheimer-Typ« fest. In der Folge schritt die Krankheit weiter voran. Viel zu schnell für uns beide. Schritt für Schritt verlor meine Frau ihre Handlungsautonomie.

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Depression

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Kochen, einkaufen, Geld abheben, Zahlungen erledigen, Zug fahren, Ski fahren, lesen, später auch Wäsche waschen, staubsaugen, sich anziehen, duschen. Alles zuerst schwierig, dann fehlerhaft und schließlich unmöglich. Organisatorisch hinkte ich immer einen Schritt hinterher. Ich lernte, dass dies zur Krankheit gehört.

Ich plane gerne voraus, antizipiere. Meine Frau wollte genau das nie. Verständlich. Ich würde auch nicht gerne meine Autonomie abgeben, wenn ich das Gefühl habe, ich kann das doch noch selbst. Also habe ich die Zahlung ihrer Rechnungen erst übernommen, nachdem die Bank das Kuvert mit den Aufträgen zurückschickte. Unvollständig ausgefüllt, stand im Begleitschreiben.

Heidi bat mich, die Sache zu regeln. So war es bei fast all ihren Verlusten.

Viel schwieriger als die organisatorischen Probleme, die laufend entstanden, war für mich die psychologische Seite. Mit jedem kleinen Verlust ihrer Handlungsautonomie habe ich ein Stück unserer 26-jährigen Partnerschaft verloren. Zuerst nur unmerklich. Einkaufen, Kochen – na und, das hab ich ja auch schon gemacht, jetzt mach ich’s halt immer.

Wäsche waschen? Welches Programm muss ich für Buntwäsche anwählen? Zum Glück liegt da die Gebrauchsanweisung. Alles lernbar. Ski fahren? Jetzt wird’s merklicher. Machen wir halt was anderes. Ganz ehrlich, etwas ärgerlich ist das aber schon. Ich liebe das Telemarkfahren!

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Gespräche waren plötzlich nicht mehr möglich, und Small Talk ist dafür auf Dauer kein Ersatz. Was macht eigentlich eine gute Partnerschaft aus? Ich begann viel darüber nachzudenken. Liebe – ja klar. Genügt aber nicht. Ich realisiere, es sind die vielen, unspektakulären, alltäglichen Dinge, die ich bisher viel zu selten beachtet hatte.

Den Alltag miteinander leben, sich austauschen darüber, was einen gerade beschäftigt. Haben wir etwas zum Abendessen? Was wollen wir am Wochenende unternehmen? Einfach nur so füreinander da sein, ohne Worte. Sind wir das immer noch?

Na ja, ich bin für Heidi immer noch da. Sie ist einfach anwesend. Das ist nicht dasselbe, wie für mich da zu sein.

Ich schrieb den Verlauf der Krankheit in groben Zügen auf. Das sei wichtig für die Beurteilung durch die IV und die Hilflosenentschädigung hat man mir gesagt. Ich tat das nur widerwillig. Es machte mich immer traurig, führte mir die neuen Verluste vor Augen.

Eintrag vom April 2010: »Seit Längerem habe ich das Gefühl, dass die Intimpflege nach dem Stuhlgang schwieriger wird. Nach einmal Abwischen mit WC-Papier versucht sie sich mit einem feuchten Tüchlein und Intimseife zu reinigen, obwohl noch alles voller Stuhl ist. Dies führt zu einer für mich unappetitlichen Reinigung im Lavabo.

Ich spreche Heidi vorsichtig darauf an. Dabei merke ich, dass eine Änderung nicht mehr möglich ist, sie kann es einfach nicht mehr.« Also übernahm ich auch in diesem Bereich. Doch damit wurde ein Punkt überschritten, der für uns beide sehr schwierig war, und an dem ich diese Partnerschaft verloren habe.

Ich weine manchmal still, wenn ich daran denke, denn ich liebe Heidi immer noch. Liebe ist auch ohne Partnerschaft möglich; aber Partnerschaft ist mehr wie Liebe.

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»Und du?«, frage ich Regina und nutze die Zeit, um mal wieder zum Taschentuch zu greifen. Sie erzählt nicht sehr viel von sich an diesem Abend. Sie habe einen Freund. Sie sehe ihn zwar nicht allzu oft, aber die Beziehung täte ihr gut. Ich glaube ihr nicht.

Es war ein sehr schöner Abend. Danach sehen wir uns noch zwei-, dreimal außerhalb des Symposiums: auf der Skipiste, bei einem Apéro und noch einmal beim Abendessen, stets in Gesellschaft. Am Freitagmittag ist die Weiterbildung beendet. Wir verabschieden uns. Ich bedanke mich mit einer Rose nochmals für den wunderschönen Dienstagabend. »Vielleicht mal auf ein Jazzkonzert?«

Die Begegnung beschäftigt mich die nächsten Wochen immer wieder. Was läuft da bei mir ab? Ich fühle mich hingezogen zu dieser Frau. Aber ich bin ja verheiratet. Und Heidi ist erst noch auf mich angewiesen. Je länger, je mehr!

Ich gehe seit zwei Jahren in eine Gruppe für Angehörige, deren Partner:innen jung an Demenz erkrankt sind. Beim letzten Treffen kam auch das Thema Sexualität zur Sprache. Sämtliche Teilnehmer:innen berichteten, dass bei ihnen in dieser Beziehung nichts mehr läuft. Ein Mangel? Wir sind alle zwischen 40 und 60 Jahre alt.

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Eine Kollegin erzählte, dass ihr zwar die Beziehung, die Nähe, auch die körperliche, zu ihrem Partner fehle, sie aber seit Längerem derart in der Betreuung untergehe, dass sie sich nur noch Ruhe wünsche. Sie stelle sich jeweils vor, was sie machen würde, wenn ihr Mann einmal nicht mehr da sei. Sich irgendwo in die Einsamkeit zurückziehen und sich erholen. Sicher keine Beziehung suchen!

Das trifft es auf den Punkt. Ich bin ein junger Mann, und mir fehlt meine Frau, aber ich habe keine Lust auf irgendeine neue Beziehung.

Also vergessen. Schön war’s dennoch. Es ist Mitte März. Regina und ich haben uns erneut verabredet. Jo Lovano spielt im Moods in Zürich. Ein großartiges Konzert. Reginas erstes Jazzkonzert. Sie ist begeistert. Als ich im Zug nach Hause fahre, beschließe ich, die Sache doch nicht zu vergessen.

Und Heidi? Ein Plan dazu? Nein, nur meine innerste Überzeugung, immer für sie da zu sein. Ich habe inzwischen gelernt, mich von festen Plänen zu verabschieden. Also abwarten, wie sich alles entwickelt. Vertrauen haben. Jetzt muss ich nach Hause, meine Mutter ablösen. Sie hat inzwischen zu Heidi geschaut.

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Mitte Juni komme ich vom ESA, dem europäischen Hauptkongress für Anästhesie, aus Amsterdam zurück. Wir haben uns wieder verabredet. Regina wohnt in Zürich. Wir treffen uns zum ersten Mal bei ihr zu Hause. Ein warmer Sommerabend. Ich grilliere, sie kocht die Beilagen.

Wir sprechen über alles Mögliche. Den ESA in Amsterdam, das Segeln – wir hatten uns inzwischen einmal zum Segeln verabredet –, die Situation mit Heidi, unsere Situation. Der Abend wird lang. Der Plan, im Gästebett zu übernachten, ändert sich. Wir spüren beide, dass wir eine gemeinsame Zukunft suchen.

»Dir ist doch klar, dass ich nicht frei bin?«, sage ich zu Regina. »Glasklar«, antwortet sie. Regina will dennoch. Weiß sie, was da auf sie zukommt? Weiß ich es? Wir wissen es beide nicht. Eine Vorstellung dazu? Ein Plan dazu? Vertrauen!

Am nächsten Tag fahre ich nach Hause. Ich hole Heidi bei meiner Mutter ab. Sie hat sie während meiner Abwesenheit zu sich genommen. Heidi kann inzwischen nicht mehr allein sein, sie findet sich nicht mehr zurecht. Meine Mutter ist die erste Person, der ich von der Beziehung mit Regina erzähle. Gespürt hat sie es bereits, sie kennt mich nur zu gut. Und sie freut sich für mich. Eine neue Perspektive! Die typische Sicht einer Mutter?

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Was werden meine Freund:innen sagen? Die Bekannten von Heidi? Die Meinung der Gesellschaft hat mich bisher meist kaltgelassen. Ich verfüge über genügend Selbstvertrauen, um auch abseits der Normen zu bestehen. Habe das schon oft erlebt. Aber nun, realisiere ich, geht es ans Eingemachte. Ich merke, dass es mir nicht egal ist, wie meine Freund:innen darauf reagieren.

Und Heidis Vater? Ich kenne ihn seit über 25 Jahren. Wir verstehen uns bestens. Seit dem Tod seiner Frau vor sechs Jahren ist Heidi sein Ein und Alles. Er muss Regina als Bedrohung empfinden. Duales Denken – »sowohl als auch« – kennt er nicht. Für ihn ist die Welt schwarz oder weiß, gut oder böse. Schwiegersohn mit Frau und Freundin, das geht nicht.

Vertrauen? Nein, verdrängen. Jedenfalls vorerst. Ich muss ja nicht gleich mit dem Schwierigsten beginnen. Also was Einfacheres. Meine Nachbar:innen. Wird sowieso Zeit, dass Regina nun auch mal zu mir kommt. Mein Zuhause sieht.

Ich erinnere mich nicht mehr, wann genau dieser Moment war. Ich stellte Regina Heidi vor. Sie reichte ihr die Hand und begrüßte sie freundlich. Die gesellschaftlichen Umgangsfloskeln beherrschte Heidi immer noch. Den Inhalt derselben begriff sie wahrscheinlich schon länger nicht mehr.

Ich hatte den Eindruck, dass es für meine Frau ganz normal war, dass Regina, eine ihr völlig unbekannte Person, uns besuchte. Ein komisches, gehemmtes Gefühl kam in mir auf. Auch bei Regina, wie sie mir später erzählte. Und bei Heidi? Wie es schien, überhaupt nicht.

Dennoch stellten wir unsere Beziehung nicht vor Heidi zur Schau. Das blieb immer so, wenn wir alle zusammen waren. Mit der Zeit lernte ich, dass dieses Verhalten wichtig für mich ist, nicht für Heidi. Ich will ihr zeigen, dass ich immer für sie sorgen werde, für sie da bin. Sie wird nicht von einer anderen Frau verdrängt.

Das stimmt für mich emotional nur, wenn mein Verhalten zur Situation kongruent ist. Meine Emotionen übertragen sich auf meine Frau. Davon bin ich überzeugt. So stehen wir auch heute noch in Kontakt. Tauschen uns nonverbal aus. Acht Jahre nach der Diagnose. Vier Jahre nach dem Verlust der Sprache. Das hilft mir.

Hoffentlich auch Heidi. Ich sage »hoffentlich«, weil ich es nicht weiß. Im Verlauf der Krankheit weiß ich zunehmend weniger über das, was in meiner Frau vorgeht.

Ich realisiere, dass vieles von mir konstruiert ist. Von mir auf Heidi projiziert; einer objektiven Prüfung nicht standhält.

Ich lerne mit der Unklarheit, der Unschärfe des Sowohl-als-auch zu leben. Etwas, was den meisten Personen aus unserem Bekanntenkreis nicht gelingt. »Heidi hat mir die Hand gereicht. Mich angelächelt. Sie kennt mich noch.« Wie oft habe ich diesen Satz gehört! Kaum jemand merkt, dass dies nur die eigenen Projektionen sind. Dass Heidi dies auch bei Fremden macht, wissen sie nicht. Wollen sie gar nicht wissen. Ich lasse ihnen ihre Illusion. Sie leben besser damit. Sie fühlen sich sicherer.

Schwierig sind manchmal die vielen anderen Spiegel, die es auch noch gibt. Die sich gefragt oder ungefragt äußern. Freund:innen, Bekannte, Nachbar:innen, Arbeitskolleg:innen und und und. Sie alle zeigen mir und Regina, was sie von unserer Situation halten.

Die Mutigen sprechen uns direkt an. Das ist am einfachsten. Andere verändern nur ihren Gesichtsausdruck. Manchmal nur unmerklich. Ein Blick trifft uns für Sekundenbruchteile beim Samstagseinkauf im Dorf. Die Augen öffnen sich ganz leicht. Zogen sich da nicht noch die Augenbrauen etwas zusammen?

Vorsicht! All diese Spiegel sind gefärbt. Auch von eigenen Projektionen. Das sind oft die schlimmsten. Wie wird mein Freundeskreis reagieren? Hier kennen mich alle als glückliches Paar zusammen mit Heidi. Unzählige Feste, Geburtstagsfeiern, Abendessen. Wie wird Irma (Name geändert) reagieren? Als eine der ganz wenigen besucht sie Heidi noch immer regelmäßig.

Auch hier lerne ich: Die Ungewissheit ist viel belastender als das Risiko einer Antwort, die ich nicht hören will. Und die Realität dazu? Zu meiner großen Überraschung äußert sich die überwiegende Mehrheit in meinem Umfeld nur positiv. »Das gönn ich dir aber von Herzen.« – »Das tut dir sicher gut.« – »Jetzt hast du wieder eine Perspektive.« Perspektivenlos habe ich mich zwar nie gefühlt, aber eine neue Partnerschaft tut tatsächlich sehr gut in dieser Situation. Und die Minderheit?

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Es ist nach ein Uhr nachts. Ich bin eben zu Bett gegangen. Ich höre, wie sich Urs (Name geändert) im Bett gegenüber in seinem Schlafsack hin- und herdreht. Es ist unser jährliches Bandwochenende in Laferté-sur-Amance. Fünf inzwischen etwas älter gewordene Männer, die seit über 15 Jahren im Sommer für vier Tage hierherkommen, um Musik zu machen und eine gute Zeit zu verbringen.

Seit Jahren läuft hier alles nach demselben Schema ab. Die Musikproben, das Essen, die Gespräche am Feuer bis tief in die Nacht. Am Anfang waren wir zu acht. Da schliefen in jedem Zimmer zwei bis drei. Heute sind Urs und ich noch die Einzigen, die sich ein Zimmer teilen. Wir sind die Letzten, die noch nicht schnarchen.

»Schlaf gut.« – »Du auch.« Kurze Pause, dann: »Du, das mit Regina hat mich ehrlich gesagt schon beschäftigt.« Pause. Ich spreche das Unausgesprochene direkt an. »Du meinst, weil ich schon wieder eine Partnerin habe, obwohl Heidi noch da ist?« Pause. »Ich hab mit Giulia darüber gesprochen.« Giulia ist seine Frau und absolviert zurzeit berufsbegleitend ein Studium in Medizinethik.

»Und?«, frage ich zurück. »Also aus ethischer Sicht ist nichts dagegen einzuwenden, solange keine der Beteiligten darunter leidet. Keinen Nachteil hat. Also, wenn Heidi diese Situation nicht mehr realisiert, ist das unter ethischen Kriterien zulässig.« Siehe da, die Absolution der unbestechlichen Denker:innen! Und die reale Welt?

Ich hake also nach. »Und du?« Stille. »Ich bin da halt schon etwas konservativ. Die Diskussion mit Giulia hat mir zwar geholfen, aber ich brauche da wohl etwas mehr Zeit.« Ich danke ihm für seine Offenheit. Und dafür, dass er die Situation angesprochen hat. Es war danach nie mehr ein Thema unter uns. Der Elefant im Raum war weg.

Personen, die mir etwas bedeuten, habe ich seither direkt auf die Sowohl-als-auch-Situation angesprochen. Habe ihnen Regina als meine Partnerin vorgestellt. Befürchtungen haben sich dabei keine bestätigt. Quälende Fantasien plagen mich seither nicht mehr.

Das schönste Wunder jedoch hat sich tief in mir selbst ereignet: Ich weiß heute, dass ich zwei Frauen gleichzeitig lieben kann. Liebe ist keine absolute Größe.

Nicht wie ein Kuchen, von dem jeder ein Stück bekommt. Jeder nur einen Teil. Ich liebe Heidi nach wie vor. Nicht ein bisschen, nicht 50 Prozent. Nicht weniger als Regina. Und ich liebe Regina. Sie erhält wegen Heidi nicht weniger Liebe von mir. Es gibt keine Verliererinnen. Nur Gewinnerinnen.

Geschrieben, um Menschen in einer ähnlichen Situation Mut zu machen und Hoffnung zu wecken. Gewidmet Heidi und Regina.


Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen bei rüffer & rub. Wir danken dem Verlag für die Gelegenheit zur Veröffentlichung auf unserer Plattform.
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Rückschau im Januar 2022

Der 14. März 2020 war in vielen Skigebieten der Schweiz der erste Tag des Lockdowns. Regina und ich sind aus Saas Fee zurückgekehrt. An diesem Nachmittag ist Heidi in der Oberi Bäch, ein Haus für demenzkranke Menschen, friedlich eingeschlafen. Den Text habe ich im Herbst 2015 geschrieben. Es gibt daran bis heute nichts zu ändern. Wenige, neue Schreibweisen ausgenommen. Zwei Punkte möchte ich ergänzen: 1. Alle unsere Bekannten sind mit dem Sowohl-als-auch-Problem bestens klargekommen. 2. Der Text »Badezimmerspiegel« ist mir ein wertvoller Ratgeber geblieben, weit über das Sowohl-als-auch-Problem hinaus.