Vier Säulen des Wohlbefindens - demenzjournal.com

Das Tagebuch (83)

Vier Säulen des Wohlbefindens

»Frühmorgens, nach bloss sechs Stunden Schlaf, bin ich wach. Frühmorgens warten die Sorgengeister und treten frech an mein Bett. Erinnern an Gespräche vom Vortag, schmerzliche Erlebnisse, den Kummer um Angehörige.« U. Kehrli

Wichtig ist es, reden zu können. Und zuzuhören. Frau Kehrli hat endlich eine Psychologin ausfindig gemacht, die ihr zusagt, die ihr einen Teil der schweren Bürde abnimmt. Und die ihr klarmacht, dass sie sich auch – und vor allem, um sich selbst kümmern sollte.

27. August 2013 – Psycho-logisch

Endlich habe ich doch noch eine professionelle Hilfe gefunden, die mir passt. Frau A. half mir schon in der ersten Stunde mit viel Feingefühl weiter, bestärkte und ermutigte mich, ihre Tipps hat sie oft mit Skizzen veranschaulicht. Sie schenkte mir Anteilnahme, Wärme, Verständnis – ich spürte wohltuendes Einfühlungsvermögen.

Ein Beispiel – um zu »funktionieren« braucht der Mensch vier Säulen:

😴 Schlaf
🌽 Essen
🚶 Bewegung an frischer Luft
👪 Gemeinschaft

Fehlt nur eine dieser Säulen, können wir nicht harmonisch leben. Also – nach ein paar Nächten mit zu wenig Schlaf lieber mal zu einem Schlafmittel greifen. Zu sich selbst lieb sein rät uns auch die goldene Regel: Den Nächsten lieben wie sich selbst. Ein Hinweis, auch auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, eben, um die Kraft zu haben, dem Nächsten dienen zu können.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Wenn ich doch heute eine Umarmung der Liebe Gottes zu spüren bekäme! Was ist los mit mir? Mir ist kalt, ich kann mich nicht aufwärmen, Poncho über langärmligem Pullover, Decke über den Knien, warme Hausschuhe. Die Zunge ist belegt. Der Temperatursturz von 10 Grad bekommt mir schlecht.

Lieb zu mir sein? Heute bedeutet das, einen freien Tag mehr einzuschieben – nicht zu Paul gehen, mich schonen, mich ausruhen. Der Termin nächsten Samstag belastet mich zusätzlich: Cello spielen in der Kirche. Stundenschläge nennt Markus diesen Einsatz am Wangenmärit, einem lokalen Markt. Drei Mal, alle zwei Stunden. Schon um acht Uhr früh eine kurze Probe. Bin so müde. Dennoch, absagen will ich nicht. Zu schnell ist man weg vom Fenster.

Es läutet. Käthi steht vor der Türe mit einem Sack Gemüse. Staunen. Wie sehr hatte ich mir Krautstiele gewünscht. Zuunterst gar Bohnen! Danke Herr, für deine Umarmung, für die Liebesbotschaft durch Käthi. Kurz ein paar Worte wechseln, tut so gut!

Es läutet erneut. Der Gärtner. Heute soll der Rasen gelegt werden. Lange mussten wir auf günstiges Wetter warten. Ich habe mich für Rollrasen entschieden, die einfache und schnelle Art, den Garten endlich fertig zu kriegen. Monika wird helfen. Endlich ist es geschafft!

Was lange währt – planen, warten, Termine verschieben, Pflanzen aussuchen, einpflanzen, giessen, jäten, Steine auflesen – wird endlich gut: Es ist ein Paradies geworden, ein Lustgarten. Immer wieder staune ich, mustere jede einzelne Pflanze, denke zurück an den Einkauf, das Eingraben, Giessen, die frohen gemeinsamen Stunden.

Meine Psychocouch. Bewegung an der frischen Luft, eine der Säulen. Gemeinschaft, eine zweite. Also zwei Säulen auf einen Streich. Und Gemüse geschenkt bekommen, die dritte. Geschlafen habe ich auch gut. So kann ich nur danken, den Tag mit Singen beginnen, trotz dem Kränkeln, dem Frieren, dem Blei in den Gliedern.

Ich hoffe die drohende Erkältung bald zu überwinden, ich will morgen mit auf den Ausflug der Wohngruppe. Wir gehen mit unseren Männern an die Aare, ein Picknick geniessen. Gaby hat das toll organisiert, es werden uns zwei Pflegende begleiten. Und dann natürlich der Samstag: Cellospielen in der Kirche. Das alles macht mir Freude. Ich lerne zu tun, was mich aufbaut und versuche mehr an mich zu denken.

3. September 2013 – Mein Paradies

Dieses Stück mir anvertrautes Land ist zum Garten Eden geworden. So nennen es Freunde und Nachbarn. Mein erster Blick wandert frühmorgens zum Fenster hinaus, mein letzter Blick noch spät abends in der Dämmerung. Mein Garten ist wirklich zu einer Quelle des Staunens, der Dankbarkeit, der Freude und der Erbauung geworden.

Gedanken an früher: Der modernde Holzzaun, all das Unkraut, das sich zäh wie ein Kabelgewirr um alle Wurzeln der Sträucher schlängelte und nicht mehr auszujäten war. Oder all die überwucherten Gartenbeete, an die sich müde Mieter nicht mehr dranmachen mochten … Es erfüllt mich Jubel, wenn ich auf den frisch verlegten Rasen blicke. Ringsum eingefasst mit Mähsteinen, die Monika sorgfältig gesetzt hat, umgeben von einer Vielfalt von Sträuchern, Stauden, Blumen.

Wie viele Stunden hat das alles gekostet! Unbemerkt, so wie gestern kurz vor Mittag, noch »schnell« ins Bauhaus, nur ein paar Steine holen. Daraus wurde schliesslich ein voller Einkaufswagen. Neue Pflanzen, Rudbekia, drei Callum, 36 Kilo Ziersteine, ein 25 Kilo schwerer Sack mit kleineren Steinen.

So war das schon immer. Irgendwo schnell etwas holen gehen, dann mit viel mehr zurückkommen. Hier noch eine Pflanze, da eine Staude, da würde sich doch ein Bodendecker gut machen. Schritt für Schritt bin ich in die Planung hineingewachsen, Monika hatte natürlich von Anfang an gewisse Vorstellungen. Was hätte ich bloss ohne meine Gartentochter gemacht? Sie ist für mich ein Geschenk des Himmels!

5. September 2013 – Rasenpflege

Der vierte Tag seit der Verlegung des Rasens. Muss nun täglich ausgiebig giessen. Alles zu lesen im Internet. Erste Woche täglich giessen, zweite Woche alle zwei Tage, dritte Woche … hoffen auf Regen. In der Früh um halb acht Uhr, ich sitze vor dem Fenster im Wohnzimmer und beobachte das Morgenlicht, wie es bedächtig eine Pflanze nach der andern zum Glühen bringt. Das orangerote Licht überflutet Teile des Rasens, Tröpfchen an den aufrecht spriessenden Hälmchen funkeln, grüssen mich, reden mir bestätigend zu, es geht uns gut.

demenzwiki

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen stehen vor wichtigen Entscheidungen und haben viele Fragen. Hier gibt es kurze und bündige Antworten darauf. weiterlesen

Aufatmen, Knochen buchstabieren, Muskeln lockern. So müde war ich jeweils nur nach sehr anstrengenden Bergtouren, und das in jüngeren Jahren. 77 werde ich in zwei Monaten. Kaum zu glauben, wenn man mich abends beim Rasen sprengen über die Randsteine balancieren sieht.

Fast zwei Stunden dauerte es gestern, die Trockenheit, die Hitze dieser letzten Tage verlangt ausgiebiges Wässern, dennoch dosiert, die Nächte sind kühl. Optimal für meinen neuen Rasen.

Das Gras wächst, ich wachse mit. Wachse hinein in diese neue Aufgabe als Gartenfrau, jede Pflanze liebkosend, umsorgend – das Unkraut hat keine Chance.

Es gibt kein Entkommen. Bin total angefressen von diesem neuen Erlebnis. So typisch für mich: Was ich tu, tu ich richtig, Begeisterung inklusive. Und Grenzen sprengend. Morgens fühle ich die Grenzen in meinen alten Gliedern. Also oft auch Grenzen überschreitend, unvernünftig. Gnade, dass ich das alles gut überstehe.

Es ist eine andere Herausforderung als der Umgang mit Paul und der Situation im Pflegeheim. Diese körperliche Erschöpfung ermöglicht es mir durchzuschlafen. Eine neue, wohltuende, gesunde Erfahrung. Wieder einschlafen können nach dem nächtlichen Gang zur Toilette statt danach stundenlang vor mich hindösen, kummervoll den Morgen erwartend.

Ich sitze am Fenster und staune. Erfreue mich an jedem neuen Trieb, sorge mich um die Buchskugel, ob sie auch wirklich genug Wasser bekommt. Paul hatte die Buchshecken alle selbst herangezogen, doch in den letzten Jahren etwas vernachlässigt. Ich nahm mich ihrer an und sie sind zu meinen Lieblingen geworden. Wir sind zusammen einen Weg gegangen und der Atem von Paul weht in ihnen nach. Erinnerungsstücke besonderer Art.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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22. September 2013 – Verloren

Frühmorgens, nach bloss sechs Stunden Schlaf, bin ich wach. Frühmorgens warten die Sorgengeister und treten frech an mein Bett. Erinnern an Gespräche vom Vortag, schmerzliche Erlebnisse, Kummer um Angehörige. Ich muss aufstehen. Liegend bin ich ihnen ausgeliefert, Müdigkeit und Dunkelheit machen alles schlimmer. Kaffee … Frühstück, dann bin ich bereit meine Gedanken zu ordnen.

Gedanken an die Vergänglichkeit des Lebens. Erkenntnis der Verlorenheit wenn wir nicht Gnade bekämen. Und Vergebung als Schlüssel zum inneren Frieden. Dem Nächsten vergeben. Auch sich selbst die eigenen Fehler vergeben, damit die Sorgengeister frühmorgens keinen Zutritt mehr haben.

Noch nie im Leben fühlte ich mich so ausgelaugt, müde, zerschlagen. Als hätte ich am Vortag einen Berg bestiegen. Obwohl ich anstrengende Termine absagte – die Tage bleiben ausgefüllt und die Besuche bei Paul zehren an meinen Kräften.

Nach zwei Stunden mit ihm schleppe ich mich nachhause, brauche wieder viel Zeit, um mich etwas aufzufangen. Setze mich hin und male mit dem Bleistift Karos aus im Nonogramm. Freue mich, wenn ich ein Bildchen schaffe ohne zu schummeln. Das zarte Schraffieren mit dem Stift beruhigt mich, die Gedanken kommen zur Ruhe.

Das Wochenende in Gunten habe ich abgesagt. Berge von Herausforderungen sah ich vor mir, Koffer packen, die vielen Frauen, die Fragen wegen Paul, dann mein Geburtstag am ersten Tag. Die Entscheidung ist richtig, ich brauche nun eher Ruhezeiten. Den Wassertank wieder auffüllen, statt stets Wasser austeilen.

Mein Sohn Andy sprach gestern über den Verlorenen Sohn. Ich spürte seine Auflehnung gegen dieses Gleichnis Jesu. Vorgefasst ist seine Meinung, Ablehnung pur. Ich schweige. Vielleicht wieder ein Fehler.

Doch was vermag ich gegen eine Festung von Enttäuschungen, Schmerz und Ablehnung anzukommen? Dies ist ein weiterer Sorgengeist, der morgens an mein Bett tritt.

Ich habe so viele Fehler begangen, obwohl ich Andy stets über alles liebte, er hat sicher viel erlitten. Traurig bin ich, dass ich ihm nicht das Fundament eines intakten Elternhauses schenken konnte. Ohne Vergebung wäre ich auch hier verloren in Selbstvorwürfen und Anklagen. Ein verpfuschtes Leben, raunte mir einer dieser Sorgengeister zu. Versager! – noch eins obendrauf.

Werft alle eure Sorgen auf mich. Danke, Herr Jesus, für dies Angebot. Ist nicht immer einfach, Dir auch wirklich alles anzuvertrauen, Dir den Bettel hinzuwerfen. Mein Verloren sein im Dschungel der Selbstvorwürfe, Anklagen, der Einsicht, nie zu genügen nach meinen Vorstellungen der Perfektion, dieser heilen Welt. (Fortsetzung folgt …)