Erkenntnisse und Einsichten - demenzjournal.com

Das Tagebuch (78)

Erkenntnisse und Einsichten

Einerseits ist man froh, wenn die Erlösung von den schrecklichen Leiden naht, aber damit kommt auch der endgültige Abschied vom Partner. Vorher war es ein Verlust auf Raten. Nun endgültig. U.Kehrli

Frau Kehrli zieht Bilanz: Nur der Tod ihres geliebten Ehemannes wäre noch schlimmer für sie als sein aktueller Zustand. Und doch gibt es Lichtblicke. Im Heim beginnt Paul langsam Wurzeln zu schlagen, sie fühlt sich dadurch entlastet.

16. Juni 2013 – Erinnerung an einen Traum

Anni möchte meine Notizen lesen, ich drucke sie ihr nach und nach aus. Ihre Meinung über einen Traum, den ich mal hatte, interessiert mich. Die Aggression, die Todesangst, als mich der Lastwagen beinahe erdrückte und ich den Chauffeur verdrosch! Ich warf ihm Worte an den Kopf, die ich sonst nie aussprechen würde. Und einen Menschen schlagen? Undenkbar! Ich erinnere mich selten an Träume. Nun hat Anni mir weitergeholfen. Sie hat eine außergewöhnliche Gabe, sich in Menschen einzufühlen.

Hier der Traum, wie ich ihn noch heute in Erinnerung habe:

Erst schreie ich ihn an: Du Arsch! Dann verhaue ich ihn. Wo immer ich ihn treten kann, schlage ich zu. Ich habe mir vor Verzweiflung fast die Seele aus dem Leib geschrien, ich bin hingefallen, vor einer Mauer, werde umgeworfen vom Anhänger eines großen Lasters, der nun rückwärts auf mich zufährt und mich einzuklemmen droht.
Ich schreie in Todesangst. Dann endlich stoppt er. Wie ich mich erhebe, erfasst mich ein solcher Zorn und eine Verzweiflung, dass ich die schlimmsten Fluchwörter hinausbrülle und mich auf den Fahrer stürze. Wie er so vor mir steht, kommen nur noch Hass und Aggressivität aus mir heraus, und mit voller Wucht, in blinder Wut, schlage ich auf ihn ein, wo immer ich ihn treffen kann. Er lässt alles widerstandslos über sich ergehen.

Die grundlegenden Veränderungen im Leben von Paul und mir und die Verzweiflung, ihm nicht helfen zu können, erklären den enormen Druck, der auf mir lastet. Mir selbst wird bewusst – gleich kommen mir im Gespräch wieder die Tränen –, dass ich verzweifelt bin, dass diese 30-jährige Geborgenheit mit Paul zu Ende ist.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich will es einerseits nicht wahrhaben, andererseits lehne ich mich gegen das Schicksal auf. Endlich hatte ich ein stabiles Zuhause gefunden, einen Menschen, der mich förderte, der auf all meine künstlerischen Begabungen richtig stolz war, mich stets ermutigte.

Paul ließ mir Freiheit, ich dufte sogar allein nach Israel, als er nicht mehr fliegen mochte. Er engte mich nie ein, nahm mir alle schweren Arbeiten ab, ich brauchte mich nur um den Haushalt und als gelernte Sekretärin auch um die Finanzen kümmern. Er pflegte die Kontakte im Dorf, sang im gemischten Chor, war gesellig und ich ging mit ihm, konnte mich an seine Schultern anlehnen.

Zum ersten Mal im Leben hatte ich Geborgenheit und Schutz erlebt, hatte einen lieben, treuen Mann an meiner Seite. Paul hatte auch stets gute Ideen für Ausflüge, Reisen, Ferien. Ich genoß die sorglosen Jahre. Bis, ja eben, bis der Mann B sich zwischen uns drängte und sich seine Persönlichkeit zu verändern begann.

Mit Beginn der Krankheit vor etwa zehn Jahren, zerbröckelte dieses Gefühl der Geborgenheit. Ich wurde verunsichert, wunderte mich über Pauls zunehmende Veränderungen. Ich wollte meine Sicherheit nicht loslassen müssen, ich wollte dies alles nicht wahrhaben, verdrängte die Wahrheit.

Meine Hilflosigkeit offenbarte sich in versteckter Angst und Aggression. Die kam im Traum hoch. Wut, Verzweiflung, Hass auf was, auf wen? Auf das Schicksal, auf Gott, auf den Mann »B«? Alles zusammen! Mein Leben war aus den Fugen geraten, ich suchte einen Rettungsring. Gott einerseits, was denn sonst?

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Vor zwei Jahren nun begann ich mutiger zu werden. Auch beim Autofahren. Früher fuhr meistens Paul. Ich löste ihn höchstens bei längeren Fahrten ab. Oder wenn er mal wieder ins Spital, in die Therapie musste. Nun wurde meine Freude am Autofahren wieder erweckt durch die täglichen Fahrten nach Gümligen.

Wenn ich noch vor Jahresfrist an meinen freien Tagen kaum etwas unternehmen mochte, habe ich heutzutage gleich mehrere Ausflüge parat. Ich hatte begonnen, allein etwas zu unternehmen. Mit dem Jakobsweg öffnete sich mir eine neue Welt. Ich lernte am Automaten Fahrkarten lösen und studierte im Internet die Fahrpläne.

Und der neue Garten! Ich hatte die Wahl, entweder alles verwildern lassen, oder das, was noch war, irgendwie zu erhalten. Mit teurem Geld Hilfe in Anspruch nehmen, um alles einigermaßen in Ordnung zu halten? Oder alles neu machen, um dann mit weniger Hilfe von außen mich täglich an einem schönen Garten zu erfreuen?

Ich entschied mich fürs Neue. Ein weiser Entschluss. Dank Monika war es möglich geworden: Sie hat ein besonderes Flair für Gartenplanung und half mir gern.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Schritt für Schritt lernte ich die letzten zwei Jahre selbst zu entscheiden, meinen Alltag zu gestalten, Verantwortung zu übernehmen. Doch wie viel lieber würde ich mich anlehnen! Liebend gern würde ich jemandem das Autofahren überlassen und wieder auf dem Beifahrersitz die Ausflüge genießen. Aber es ist, wie es ist. Muss lernen, auf den eigenen Beinen zu stehen!

Heute erkenne ich, dass ich auf einem guten Weg bin. Obschon es noch sehr, sehr hart ist im Alltag, doch ich wachse an den zahlreichen Herausforderungen, und die schwierigste steht noch bevor.

Noch kann ich meinen Paul sehen, ihn fühlen, mich an ihn schmiegen, höre seine Stimme, manchmal nimmt er auch noch meine Hand in die seine – es gibt noch gute Momente.

Aber die Stunde X wird kommen. Außer – ja, das weiß kein Mensch – ich »fasse die Flügelchen«, noch bevor er selbst das Zeitliche segnet.

Morgen ist mein freier Tag. Neue Pläne. Gurnigel-Morgetenpass, den Bergfrühling genießen. Mit dem Auto. Ich frage mich nicht mehr, ob ich Lust dazu habe, ich tu es einfach. Ich weiß, dass die Freude kommt, sobald ich unterwegs bin.

19. Juni 2013 – Alt genug

Alt genug zum Vernünftigsein. Treffend gesagt. Wieder mal eine Weisheit von Anni. Oft staune ich. Ein paar Worte bloß, aber die richtigen Worte zur richtigen Zeit.

Thema war das Ausloten meiner Grenzen. Mein Ausflug zum Morgetenpass war recht gewagt: Es hatte noch Schnee auf dem Weg, Steinschlag und kaum jemand war unterwegs. Knapp schaffte ich es, war erschöpft und bekam es doch mit der Angst zu tun. In meinem hohen Alter muss ich noch lernen, selbst alt genug zu sein für Entscheidungen.

Hohes Alter sage ich nur, weil ich hinsichtlich Bergsteigen definitiv als alt eingestuft werden sollte. Und da kam doch extra etwas im Radio in den Mittagsnachrichten. Die Rede war von Vorsicht, dass sich Senioren in den Bergen ja nicht überschätzen sollten. Die Statistik belege die Gefahr bei den über 60-Jährigen. Und ich bin 77! Ich musste laut lachen. Ha, nun muss ich es ja glauben, ich bin alt …

Mühsames Erwachen heute früh, die Glieder schmerzen. Für alte Menschen ist es nicht weise, abends noch lange draußen zu sitzen. Also Ruhetag im Garten. Gießen, gießen, gießen, Verblühtes abschneiden, Rebentriebe kürzen, prüfen, wo Früchte am Entstehen sind. Meine zwei Reben sollen gute Trauben bringen.

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Tag-Nacht-Rhythmus

Schlafstörungen kommen bei einer Demenz häufig vor und können für die Betroffenen und Angehörigen eine grosse Belastung sein. Es gibt Möglichkeiten, den Schlafrhythmus … weiterlesen

Nun gewinne ich langsam den Überblick und gewöhne mich an das morgendliche Ritual des mit-prüfendem-Blick-durch-den-Garten-Gehens. Die Walderdbeeren im Gärtchen oben sind reif, heute konnte ich 100 Gramm ernten. Lach nicht. Das gibt einen Becher voll. Sie sind leichtgewichtig, aber so gut und süß.

Der Kampf mit den Schnecken hat begonnen, wer zuerst und wer der Stärkere ist. Ein ungutes Gefühl. Ich muss daran denken, dass der Schöpfer das Gewürm noch vor dem Menschen machte, und alle Tiere segnete.

Die Besuche bei Paul verlaufen ohne große Emotionen. Ich erfahre, dass Paul nachts viel unterwegs ist. Oft schläft er nun tagsüber, den Kopf auf den Tisch gelegt, manchmal gelingt das Unterschieben eines Kissens, doch meistens wehrt er missmutig ab.

Manchmal ist er sehr mit Schreibarbeiten beschäftigt. Er führt Listen, nummeriert, schreibt Worte, Wortteile, oder hängt mehrere Silben zusammen, die keinen Sinn ergeben. Er liest es mir vor, es sei wichtig, ich verstehe nichts, er wird ungeduldig, ja ärgerlich.

Kommt eine Betreuende, lebt er auf. Die enge Bindung zu mir lockert sich in letzter Zeit, das tut weh und doch bin ich dankbar, dass er hier im Heim endlich Wurzeln schlägt.

Es hat ein paar Neue, die den Draht zu ihm finden. Er hat geduscht, die Haare sind gewaschen, er ist ordentlich gekleidet. Kürzlich roch es übel nach Urin im Zimmer, der Versuch, seine Wäsche zu wechseln, scheiterte. Er wird ungehalten, aggressiv, will gar nicht. Trotz der Hitze im Zimmer weigerte er sich, das zweite T-Shirt auszuziehen, meine Hilfe ist unerwünscht.

Wie ein abgehängter Wagen am Zug komme ich mir vor. Er verlässt das Zimmer, ohne Kommentar. Wenig später suche ich ihn. Vom Ende des Ganges winkt er mir freundlich zu, er sitzt auf einem Sofa, von dort aus hat er den Überblick. Im vertrauten Hin und Her der Pflegenden und Bewohner findet er sich wieder.

Der Rauchermann will hinaus, eine Pflegende öffnet ihm die Tür zum Notausgang, sie gehen hinaus zur Treppe, das Sicherheitslicht wechselt auf Grün. Paul regt sich auf, zischt mir zu, so also, winkt ärgerlich mit der Hand. Den Raucher mag er gar nicht. Der darf dort hinaus, er darf nicht, muss tägliche Freiheitsberaubung erleben.

Die Pflegende kommt zurück, der Raucher bleibt draußen, Paul will auch hinaus. Die neue Pflegerin kommt hinzu, die, die auch in Ghana war und schon gut bei Paul ankommt.

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Weglaufen

Das Gehen hilft Menschen mit Demenz, aktiv zu bleiben und Konflikte zu bewältigen. Damit das rastlose Herumwandern nicht zur Belastung wird, braucht es … weiterlesen

Dann gehe ich jetzt, sage ich, es ist vier Uhr. Ich komme wieder. Paul verabschiedet sich, ist aber nicht bei der Sache. Nun hat die Neue das Problem. Ich kann loslassen, Claudia ist ausgebildet für solche Situationen, hat bessere Tricks auf Lager, um Paul von seinen Fluchtwünschen über die Nottreppe abzulenken.

Noch immer ist »nach-Hause-gehen« sein Thema, auch als wir kürzlich wieder mal spazieren gehen konnten. Er möchte nachhause, wo immer das sein mag, er will nicht bleiben. Lenkt dann aber nach gutem Zureden doch ein.

Es gibt diese Lichtblicke, wo er versteht, dass er nun im Heim lebt. Seit sich die Lücken beim Personal wieder gefüllt haben, ist es auf der Abteilung ruhiger geworden. Seit ein paar Tagen legt Paul auch nicht mehr alle seine Kleider aufs Bett, um fortzugehen.

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Validation bei Demenz: «Ich will nach Hause!»

Menschen mit Demenz äussern oft den Wunsch, nach Hause zu gehen – obwohl sie sich zu Hause befinden oder in einem Heim bleiben … weiterlesen

Traurig, der Anblick von Erwin vor paar Tagen. Gestern begegnete ich Susi. Sie berichtete, er sei zweimal vor seinem Bett aufgefunden worden, habe sich verletzt, seither sei er ganz schwach und still geworden. Vornübergebeugt im Rollstuhl sah ich ihn, nun hörte ich, er liege im Sterben. Arme Susi! Sie ist über 80, ein langer gemeinsamer Weg prägt die beiden. Sie litt genau wie ich unter der Trennung, nun kommt noch das Schwierigste.

Einerseits ist man froh, wenn die Erlösung von den schrecklichen Leiden naht, aber damit kommt auch der endgültige Abschied vom Partner. Vorher war es ein Verlust auf Raten. Nun endgültig. Hat man noch Kraft für danach, wie findet man sich zurecht, ohne die regelmäßigen Besuche beim Partner? Der zwar noch da und doch nicht mehr derselbe war. Man wird Freund der einsamen Stunden. Man muss sich zufrieden geben lernen. Geduld üben, warten können.

Es ist, wie es ist, jeder muss durch harte Zeiten. Das ist das Leben. Angst? Nein, ich habe keine Angst, irgendwie werde ich durchkommen. Wie alle anderen auch. Auch ich werde es schaffen. Ich vertraue. Vertraue meinem Herrn, der mich treu durch alle Zeiten getragen hat. Dessen Nähe ich besonders im dunklen Tal spüre. Er hat mir immer wieder Erfrischungen und liebe Menschen geschenkt. ER wird mich auch in Zukunft durch tragen. (Fortsetzung folgt …)