Mein Herz versteht die Sprache des Loslassens nicht - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (92)

Mein Herz versteht die Sprache des Loslassens nicht 

Paul ist nicht mehr da, auch wenn ich ihn sehe, selbst wenn sich ab und zu der Nebel, der ihn umhüllt, kurz verflüchtigt. Für diese seltenen Momente mache ich mich fast täglich auf ins Heim, lasse mich verzehren, erwarte sehnsüchtig ein Aufflackern in seinen erloschenen Augen.

20. Februar 2015 – Trennung vollzogen? 

Er hinter der dicken Glasscheibe, ich davor. Schalldicht. Aber ich sehe ihn und er mich. Ab und zu ist ein Loch in der Glaswand. Wie am Postschalter, um zu kommunizieren. Dann lebt die Hoffnung erneut, wühlt die ganze Gefühlspalette auf. Er ist doch noch da! Scheinbar.

Von solchen Guckloch-Momenten lebe ich wieder ein paar Tage. Mit viel Trauer und Tränen. Sollte doch öfter hingehen, er ist ja noch da. Öfter, entgegen den vielen Empfehlung von Psychologen und Betreuenden: Sie müssen auch an sich denken, Ihr Leben geht weiter, Sie brauchen Kraft, um ihn zu begleiten… 

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Dann gehe ich wieder öfter hin und es ist doch kein Guckloch zu finden. Paul geht seinen Arbeiten nach, Brosamen auflesen, oder sie zu kleinen Häufchen aufschichten. Oder das Abschleifen einer Tischkante. Oft muss er Mass nehmen. Mit dem Meterstab, er kann ihn noch immer auf- und zuklappen. Gelernt ist gelernt. Noch. Er arbeitet. Oder schlummert. Oft sieht er mich wie abwesend an, wenn ich ihn begrüsse, schaut eher durch mich hindurch und schliesst die Augen. Ablehnung, denke ich. Oder er erkennt mich nicht. 

Mitleid, Mitgefühl. Mit ihm leiden. Mit ihm fühlen. Was kann ich für ihn tun? Wie ihn erreichen? Ich muss lernen, solche Gedanken abzuwehren. Ich kann ihm nicht helfen. Wann endlich werde ich das begreifen? Wir leben in getrennten Welten. Mit meiner Trauer ist ihm nicht geholfen, mir schadet‘s, nimmt mir die Kraft, die ich zum Überleben bräuchte. 

Ich hoffe auf eine Zärtlichkeit, ein kleines Leuchten auf seinem Gesicht. Ich gebe meine letzte Kraft, weil ich ihn liebe. Erneut wehre ich mich gegen die oft gehörte Meinung, es seien Schuldgefühle, die mich dazu antrieben, ihn besuchen zu gehen. Nein, es ist die Sehnsucht nach dem Menschen, dem man das JA-Wort gegeben hat, dem man sich aus Liebe verband, auf immer.

Der Wunsch, ihm Nähe zu geben, ihm die Liebe zu zeigen, ihn zu trösten. Das treibt mich zu ihm hin. Auch wenn diese Versuche abprallen an dieser unbarmherzigen, unerbittlich kalten Glaswand. Ich gehe immer wieder, in der Hoffnung ein Guckloch zu finden, wo er mich wahrnimmt, wo ich ihn spüre, wo ein kleines Bisschen Paul aufflackert. 

Nach solchen Momenten ist es noch trauriger zu Hause. Tränen fliessen wieder reichlich. Etwas leichter ist es wegzugehen, wenn er aggressiv ist, ungehalten, rastlos. Dann erinnere ich mich an die Zeit zu Hause, an die aufgescheuchten Nächte, an all diese Unruhe, ja, nein, doch, hör auf, gib mir, tu nicht, pass auf, fahr nicht verrückt, komm, geh, lass mich! Die Kämpfe nachts vor verschlossener Tür, als er mich bedrohte und den Schlüssel erzwang. Die eiserne Faust, die mich etwa traf, er darüber dann doch erschrak, sein Schreien, wenn ich ihn nicht gehen liess. Hinaus in die Dunkelheit, in die Kälte, in Unterhosen, barfuss. 

Es ist doch gut so, wie es ist. Es ist nicht zu ändern, ich muss die Grausamkeit, Bitterkeit und Schwere der Situation akzeptieren lernen. Es ist sein Weg. Sein Schicksal.

Und ich muss lernen mir selbst einzugestehen: Ich habe meinen Mann verloren. Wir sind Getrennte. Auch wenn er noch da ist, ist er eben doch nicht mehr da. Mein Herz versteht diese Sprache des Loslassens nicht. Ich gehe immer wieder zu ihm. Versuche nun wieder, die Besuche auf vier Tage die Woche zu reduzieren. Um Kraft zu sammeln für ihn, für mich. Es braucht einen langen, langen Atem, seinen Partner zu begleiten und loszulassen. Marathon. Meine Kräfte richtig einschätzen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Aus Liebe. 

16. Februar 2015 – Armer Carlo

Längere Zeit habe ich nichts mehr von Carlo gehört. Meine Vermutung stimmt. Er kann nicht mehr telefonieren, leidet immer mehr an einer Demenz. Mein Besuch bei ihm macht mich traurig. Erst erkennt er mich nicht, es braucht längere Zeit, bis endlich sein fröhliches Lachen wieder ertönt und er mich voll Freude zur Begrüssung an sich drückt.

Die Gespräche kommen nicht mehr in Gang. Er weiss, dass es im Kopf nicht mehr stimmt, aber so schlimm wie sein Sohn es meine, sei es nun doch nicht. Und überhaupt die Ärzte, die würden ja immer übertreiben. Nun auch er noch. Nach Paul, Emma. Eine weitere Quelle meines Trostes ist am Versiegen. So traurig. 

28. April 2015 – Gemeinsame Tränen 

Ich klopfe laut an die Tür. Dieser Trick hilft oft, damit er die Augen öffnet und Notiz von mir nimmt. Trick aus Kiste 77. Muris fand heraus, dass Paul bloss die Augen geschlossen hält, aber nicht schläft, solange er mit seinem linken Fuss wippt. 

Meine Umarmung erwidert er innigst, küsst mich mehrmals, immer wieder drückt er mich an sich. Aufgeregt redet er auf mich ein, zeigt auf die Türe mit kummervoller Mine. Traurigkeit, Verzweiflung, er ist sehr erregt. Ich schmiege mich an ihn, spüre seine Ohnmacht, Hilflosigkeit, uns fliessen Tränen über die Wangen. Was möchte er mir sagen, was bedrückt ihn? 

Beruhigend rede ich ihm zu. Auch ich sei sehr traurig, dass wir nicht zusammen sind. Dass er hier sein müsse nach dem Hirnschlag, er brauche Pflege, was ich ihm zuhause nicht geben könne. Ich liebe dich, ich verlasse dich nicht, ich komme wieder, bin dir treu. Ich liebe dich, danke dir für all das Schöne, das wir gemeinsam gehabt haben. Der Herr wird dich trösten, er ist bei dir. Es kommt schon gut. Hab keine Angst… 

Immer wieder umarme ich ihn, schmiege mich an ihn, Tränen fliessen, Ja, Paul, auch ich bin sehr, sehr traurig aber wir beide schaffen das schon. Langsam glätten sich seine Kummerfalten auf der Stirn, seine Gesichtszüge entspannen sich, der Atem geht ruhiger, er schliesst die Augen. Dann schläft er ein. Ich sammle die vielen nassen Taschentücher ein, putze mir endlich gründlich die Nase, atme durch. 

Nach einer Viertelstunde wacht er wieder auf. Aggressiv, mürrisch will er aufstehen, ich helfe, er redet aufgeregt durcheinander, geht Richtung Tür, gestikuliert wild, schlägt nach mir. Was ist los? Wer kann seine Gedanken erraten? Wieder fliessen die Tränen. Aufgewühlt, verzweifelt folge ich ihm in den Korridor hinaus. Eine Betreuende sieht meine Tränen, fragt nach, nimmt Anteil.

Er sei heute Morgen sehr zufrieden gewesen, sogar Körperpflege war möglich ohne Widerstand. Einzig hätten sie festgestellt, dass er grosse Unsicherheit zeige beim Gehen. Richtig ängstlich sei er geworden, nachdem er mehrmals gestürzt sei. Auch ich habe ihn letzthin Boden sitzend angetroffen, wie lange war er so hilflos dagesessen? Und er ist nur noch Haut und Knochen, was wissen wir von all seinen Ängsten und Leiden? 

Einmal mehr zerfleische ich mich vor Sorge um ihn. Ich darf mir nicht vorstellen, was in ihm vorgeht, wie er die Tage, die Nächte durchlebt. Noch immer gelingt es mir nicht, loszulassen, obwohl ich grosses Vertrauen ins Pflegeteam habe, im Wissen, dass sie Paul gern haben und alles in ihrer Kraft tun, um ihm zu helfen.

Ich weiss nicht, wie ich das alles ertragen könnte, hätte ich das Gebet nicht. Da kann ich all die Lasten ablegen, meine Hilflosigkeit, die Ohnmacht, die Schuld des ihm-nicht-gerecht-werden-könnens.

Ich weiss, dass es unmöglich ist, einem Menschen je gerecht zu werden. Und schon gar nicht einem Menschen, der so krank ist wie Paul. Das ist der grosse Schmerz, den es auszuhalten gilt. Herr, erbarme dich unser. Erlöse meinen Mann von seinen Leiden. Mag nichts essen. Decke über den Kopf – die beste Therapie. 

7. Mai 2015 – Einladung ins Tessin

Ich bin froh, dass ich weiss, womit ich Paul eine Freude bereiten kann: Mit Apfelkuchen! Auch heute backe ich wieder. Dann die Sandalen abholen beim Schuhmacher. Paul wird froh sein, seine geliebten Sandalen wieder anziehen zu können. Monika und Aschi haben mich eingeladen, mit ihnen ein paar Tage im Tessin zu verbringen. Ach, ich hätte es so dringend nötig! Kann mich aber erst morgen entscheiden, will erst sehen, wie es Paul geht. 

Am nächsten Morgen treffe ich ihn zufrieden an, er hatte eine gute Nacht, alles OK. Ich orientiere die Pflegenden, dass ich zwei Tage weg sein werde, Sonntagabend zurück. Anruf Monika, juhui ich kann kommen! Der Zug fährt um drei Uhr, Monika und Aschi werden mich in Intragna abholen. 

Dank GA war es kein Problem, mich aufzumachen. Bin nun ans Reisen gewöhnt und freue mich, wieder mal ins Centovalli zu fahren. Mitten im Simplon-Tunnel klingelt mein Handy. Es ist kurz nach vier Uhr. Umständlich klaube ich es aus dem Rucksack. Anruf vom Pflegeheim! Mir steht fast das Herz still, Paul habe plötzlich hohes Fieber! 

Dann kehre ich in Domodossola gleich um! Kein Problem! Das wiederum sei nicht nötig, sie hätten ihm nun Dafalgan gegeben, er sei ruhig und zufrieden. Man könne den nächsten Morgen abwarten. Mir ist bange. Am liebsten würde ich gleich umkehren, will aber nicht auf Panik machen und den Betreuenden vertrauen. 

Wie froh bin ich nun, mit meinen beklemmenden Sorgen nicht allein zu sein. Die Anteilnahme von Monika und Aschi tut so gut. Ich werde mit feinem Essen verwöhnt, es ist tröstlich in solchen Momenten Freunde an der Seite zu haben.  

Um acht Uhr früh Telefon mit dem Pflegeheim. Der Arzt kann mir Auskunft geben. Paul hatte eine ruhige Nacht. Diagnose: Bronchitis, Verdacht auf Lungenentzündung. Nein, keine Antibiotika. Das hat der Arzt vorgeschlagen. Ich stimme zu, vertraue seiner Meinung. 

Es ist nicht dramatisch, geniessen sie doch den Tag mit ihren Freunden. Sie haben auch mal Erholung nötig. Wir werden sie auf dem Laufenden halten. Paul schlafe nun ohnehin viel. Ich orientiere meinen Sohn Andy, er wird zu Paul gehen. 

Monika und ich wandern durch die Wälder, Hund Xeno liebt die Streifzüge und ich versuche mich abzulenken.

Eine dunkle Vorahnung begleitet mich, es könnten die letzten Tage von Paul sein. Sollte ich nicht besser heute schon zurückfahren?

Doch morgen könnte ich mit Monika und Aschi im Auto zurückfahren! Ich bin doch so froh, jetzt nicht allein zu sein. 

Andy ruft am Abend an. Paul sei ruhig, habe ihn aber nicht erkannt, er sei sehr müde und schläfrig gewesen. Wie sehne ich mich nach der Heimreise! In Gedanken bin ich dauernd bei Paul, voller Unruhe und Bangigkeit. Wie treffe ich ihn an? Schon zweimal hatten wir eine ähnliche Situation. Doch Paul hat sich immer wieder erholt und damit alle verblüfft. Woher er nur immer die Kraft nahm? 

10. Mai 2015 – Wieder zuhause 

Die Heimreise zog sich dahin, doch gab es guten Bescheid vom Pflegeheim. Paul hatte eine ruhige Nacht, er habe gefrühstückt und auch gut Mittag gegessen. Die Gefahr scheint abgewendet. Kaum zuhause, fahre ich sogleich zu ihm. Irene strahlt mich an, es gehe ihm recht gut. Zwar sei noch das rasselnde Geräusch beim Husten zu hören, ich solle jedoch nicht erschrecken. 

Erleichtert gehe ich zu ihm, er öffnet müde die Augen, nickt mir zu, hat mich erkannt. Lange sitze ich neben ihm, halte seine Hand. Drei Tage krank und er ist noch schmäler geworden! Und so bleich, doch er atmet ruhig. Plötzliche Unruhe, er strampelt die Decke weg, ist ihm zu warm? Er greift nach dem Bettgitter, will sich hochziehen. Er hustet heftig, nun höre ich das Brodeln in der Lunge, er ringt nach Luft, ich läute, Irene kommt sofort, hilft mir, ihn zu stützen damit er sich aushusten kann.

Ich fürchte mich. Er wird doch nicht in meinen Armen ersticken? Hätte man doch Antibiotika geben sollen, warum muss er jetzt so leiden? Nach einer Weile beruhigt er sich, wir betten ihn zurück aufs Kissen. Er schläft wieder ein, atmet wieder ruhig und regelmässig. 

Ob ich bei ihm bleiben sollte? Er schläft so ruhig, um elf Uhr gehe ich heim. Man weiss nie, wie sich die Krankheit entwickelt. Es kann auch eine plötzliche Wende geben zum Tod hin, es kann sich auch noch viele Tage dahinziehen, er kann sich auch wieder erholen. Die Nachtwache ist orientiert, man würde mich sogleich anrufen bei einer Veränderung. In 20 Minuten wäre ich ja wieder vor Ort. (Fortsetzung folgt …)