Der zwingende Weg ins Heim zu Paul

Das Tagebuch (81)

Zwingend, dringend, wichtig, nötig

»Realistisch bleiben. Schritt für Schritt alles erledigen, nach meinem selbst entwickelten Notfall-Strategie-Programm ... « U. Kehrli

Im Moment tut sich Frau Kehrli sehr schwer mit dem Gedanken, ihrem Paul nicht gerecht zu werden. Sie befürchtet, ihm Unrecht anzutun mit dem Heim. Und wenn sie ihn dort besucht, hat sie wenig Geduld, seine schlechten Launen auszuhalten.

6. August 2013 – Saufraß

Manchmal staune ich über gewisse Aussagen, die Paul von sich gibt.

Er sitzt auf einer kleinen Bank im Gang und scheint zu schlafen. Vor sich das Krankentischchen, Mittagessen aufgewärmt, noch unberührt. Ich begrüße ihn, er wacht auf, reagiert nicht auf mich.

Ich muss jetzt …, er neigt sich vor und beginnt zu essen. Und motzt. Schlecht, Saufraß. Dennoch ist er hungrig, nach jedem Bissen die gleichen Worte. Die Kefen sind voller Fäden, nicht mehr grün, gräulich – so schmecken sie wohl auch. Immer wieder hustet er und klaubt sich die Fäden aus den Zähnen. Er isst schnell, trotz seiner Zwischenkommentare.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Er ist verärgert. Dennoch isst er alles auf: Maisschnitten, Ragout an dunkelbrauner Fertigsauce, es sieht wirklich nach Kantine aus. Ich bin traurig, denke zurück an unsere gemeinsamen Mittagessen.

Nach dem Essen hieß er mich zu ihm hinüberlehnen, streichelte mir mit beiden Händen die Wangen, lobte mein Essen und dankte dafür.

Er ist anderes Essen gewohnt. Mit Liebe und Sorgfalt gekocht, zwei bis drei Teller voll, viel Gemüse, in Originalfarbe ohne Graustich, die Kefen fein säuberlich abgefädelt, die mochte er nie besonders. Den Geschmack zwar schon, aber eben, das mit den Fäden nervt.

Ich gehe in die Küche, finde noch den Salat, er verweigert ihn. Das Dessert jedoch isst er, ich denke, er hat noch Hunger, aber ist derart missgelaunt, dass er nicht mehr ansprechbar ist. Er neigt den Kopf nach vorn, die Augen geschlossen, mit finsterer Miene.

Ich will nicht mehr hier bleiben. Ein ganzer Satz, ausgesprochen, eine vollkommen klare Aussage. Es tut weh zu wissen, dass er hier nicht glücklich ist. Oder wenigstens meistens nicht. Schon früher war ihm das Essen sehr wichtig neben der Arbeit, diesem stetigen Krampfen.

Ruhig sein konnte er selten, auch früher nicht. Der Garten, die Werkstatt, Einkaufen, andern helfen – hier im Tal hat es einige Andenken an sein handwerkliches Können. Sogar im Kirchgemeindehaus. Stundenlang tüftelte er an einer Lösung herum, um das Elektropiano mobil zu machen. Er traute den Plastikfüßen nicht, um daran die Räder zu befestigen. Er füllte sie mit Holz, verstärkte somit die Unterlage.

Wie ich Paul so dasitzen sehe, traurig vornübergebeugt, überkommt mich wieder diese Traurigkeit.

Die Trauer setzt sich frech zwischen uns und lässt nicht locker, sie begleitet mich nach Hause.

Er zeigt kaum eine Reaktion auf meinen Abschied, auch das betrübt mich. Er ist enttäuscht, fühlt sich verlassen und ich verlasse ihn ebenfalls. Waldau nennt er den Betrieb dort, empfindet sich nicht dazugehörig, ich reagiere nicht darauf.

Mich beschleicht das schlechte Gefühl, ihm nicht gerecht zu werden. Ihn dort lassen zu müssen, wo er nicht sein möchte, wo er zu oft sich selbst überlassen wird. Die »kindischen Spiele« mit Ballon Zuwerfen mag er nicht, er sondert sich ab von der Gruppe. Beim Werken hat er andere Ideen – man nimmt ihn nicht mehr mit.

Wie viel er wirklich wahrnimmt, kann ich nicht abschätzen. Das bedrückt mich. »Artgerechte Haltung«, dieser Ausdruck fällt mir immer wieder ein, wenn ich ans Heimleben denke. So vieles wird seinem Zustand nicht gerecht. Immer noch sucht er mir die ungebügelten Hosen heraus, will, dass ich ihm die Falten glätte. Wird die Wäsche unsorgfältig in den Schrank gelegt, nimmt er sie heraus und legt sie selbst zusammen. Er kennt seine Wäsche, nicht anhand der Namenszettel.

Ich staune immer wieder, wie das Visuelle bei ihm erhalten geblieben ist. Er kennt die vertrauten Gesichter, er kann sich räumlich gut orientieren.

Im Moment tu ich mich sehr schwer mit dem Gedanken, ihm nicht gerecht zu werden. Ihm Unrecht anzutun mit dem Heim. Und bin ich dort, habe ich wenig Geduld, seine schlechten Launen auszuhalten, die sich durch die Unzufriedenheit mit dem Essen oder der mangelnden Zuwendung vermehrt hat. Auch ich trage meinen Teil dazu bei. Auch ich kann ihm ja nicht gerecht werden!

8. August 2013 – Zwingend dringend

Der zweite Tag Regen. Schlechtes Wetter sagen Leute ohne Garten. Etwa drei Wochen Hitze, über 30 Grad, jeden Morgen war Gießen angesagt. Monika lobte mich. Keine der neuen Pflanzen im seitlichen Garten haben gelitten, im Gegenteil. Alles gedeiht prächtig. Mein kleines Paradies entsteht. Der Blick aus dem Fenster eine Augenweide. Aufatmen. Endlich morgens etwas Ruhe für mich. Regen – welch ein Segen!

‘Wenn Paul deinen Garten sehen könnte’, flüstert mir die Trauer zu. Die ist schon früh auf den Beinen. Kaum erwacht, raunt sie mir ihre Dämpfer zu.

Und lässt sich heute kaum verscheuchen. Den letzten Abschied von Paul hält sie mir auch noch vor. Und das »nicht artgerecht«, nicht genügen, versorgen, abschieben – Schuldgefühle pur.

Und das viele Alleinsein tut dir auch nicht gut. Wie willst Du das alles bewältigen mit dem Garten? Sie hat noch so viele Tricks, mir den frühen Morgen zu vermiesen. »Guten Morgen liebe Sorgen, seid ihr alle auch schon da?«, das Lied von Ehrhard fällt mir ein, entlockt mir ein Lächeln.

In vielem hat die Trauer Recht. Zuzugeben, dass ich überfordert bin, schadet nicht. Nach Lösungen suchen, alles cool betrachten. Realistisch bleiben. Schritt für Schritt erledigen, nach meinem Notfall-Strategie-Programm, das ich nach Pauls Hirnschlag vor drei Jahren aufstellte.

Zwingend ➡ dringend ➡ wichtig ➡ nötig

Zwingend war das Gießen der Pflanzen während der letzten zwei Wochen.

Dringend waren die vielen Besuche im Heim, um Paul wieder mehr Geborgenheit zu geben.

Wichtig waren Einladungen, Gemeinschaft pflegen, Fabe das Bäumchen zu übergeben.

Nötig war, mich in der Freizeit auch mal drinnen still zu halten und NICHTS zu tun. Etwa Cello spielen, Nonogramm ausfüllen, Buchhaltung nachführen oder Rechnungen zusammenstellen.

Das braucht alles Zeit, oft fehlt auch die Lust dazu. Mein Cello habe ich gestern endlich – nach einem Monat! – wieder gespielt. Dies öfter zu tun, wäre nicht nur zwingend für meine Freude, Fitness, Erbauung. Es ist in letzter Zeit sogar unter die nötig Stufe gerutscht, abends war ich einfach zu müde. Setzte mich lieber bis gegen zehn Uhr vors Haus, genoss meinen Garten. Auftanken, abkühlen, abschalten.

Unter nötig gäbe noch so viel zu tun. Aber eben erst an vierter Stelle.

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Heute erwischte ich eine junge Kakerlake. Stell dir das vor, bei mir zuhause! Ein solch flinkes Getier, und das in der Küche! Noch nie hatte ich Ungeziefer dieser Art. Vielleicht mal Ameisen, die Paul auf die Palme brachten, er hat ja ein Ameisen-Trauma. Wegen damals, in Afrika.

Die fraßen ihm dort seine Hühner bei lebendigem Leibe auf. Sein Bett musste er in Petrol-Gefäße stellen, damit die Ameisen ihn im Schlaf nicht überwältigten. Kein Witz. Ich glaubte, es auch kaum, dann sah ich mal im Film solche Ameisenstraßen, hinter sich Verwüstung zurücklassend.

Zwei drei Ameisen kannst du noch abwehren, aber einer Masse bist du hilflos ausgeliefert. Die kriechen in Ohren, Nase, Mund, fressen dich von innen auf.

Folglich muss ich heute die Schublade mit den Vorräten ausräumen. Verspätete Frühjahrsreinigung. Die Schubladen waren lange unter nötig eingestuft. Und kamen nicht dran. Der Gedanke an Kakerlaken in meiner Küche! Krass. Ekelhaft. Also zwingend. (Fortsetzung folgt …)