6. August 2013 – Saufraß
Manchmal staune ich über gewisse Aussagen, die Paul von sich gibt.
Er sitzt auf einer kleinen Bank im Gang und scheint zu schlafen. Vor sich das Krankentischchen, Mittagessen aufgewärmt, noch unberührt. Ich begrüße ihn, er wacht auf, reagiert nicht auf mich.
Ich muss jetzt …, er neigt sich vor und beginnt zu essen. Und motzt. Schlecht, Saufraß. Dennoch ist er hungrig, nach jedem Bissen die gleichen Worte. Die Kefen sind voller Fäden, nicht mehr grün, gräulich – so schmecken sie wohl auch. Immer wieder hustet er und klaubt sich die Fäden aus den Zähnen. Er isst schnell, trotz seiner Zwischenkommentare.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Er ist verärgert. Dennoch isst er alles auf: Maisschnitten, Ragout an dunkelbrauner Fertigsauce, es sieht wirklich nach Kantine aus. Ich bin traurig, denke zurück an unsere gemeinsamen Mittagessen.
Nach dem Essen hieß er mich zu ihm hinüberlehnen, streichelte mir mit beiden Händen die Wangen, lobte mein Essen und dankte dafür.
Er ist anderes Essen gewohnt. Mit Liebe und Sorgfalt gekocht, zwei bis drei Teller voll, viel Gemüse, in Originalfarbe ohne Graustich, die Kefen fein säuberlich abgefädelt, die mochte er nie besonders. Den Geschmack zwar schon, aber eben, das mit den Fäden nervt.
Ich gehe in die Küche, finde noch den Salat, er verweigert ihn. Das Dessert jedoch isst er, ich denke, er hat noch Hunger, aber ist derart missgelaunt, dass er nicht mehr ansprechbar ist. Er neigt den Kopf nach vorn, die Augen geschlossen, mit finsterer Miene.
Ich will nicht mehr hier bleiben. Ein ganzer Satz, ausgesprochen, eine vollkommen klare Aussage. Es tut weh zu wissen, dass er hier nicht glücklich ist. Oder wenigstens meistens nicht. Schon früher war ihm das Essen sehr wichtig neben der Arbeit, diesem stetigen Krampfen.
Ruhig sein konnte er selten, auch früher nicht. Der Garten, die Werkstatt, Einkaufen, andern helfen – hier im Tal hat es einige Andenken an sein handwerkliches Können. Sogar im Kirchgemeindehaus. Stundenlang tüftelte er an einer Lösung herum, um das Elektropiano mobil zu machen. Er traute den Plastikfüßen nicht, um daran die Räder zu befestigen. Er füllte sie mit Holz, verstärkte somit die Unterlage.
Wie ich Paul so dasitzen sehe, traurig vornübergebeugt, überkommt mich wieder diese Traurigkeit.
Die Trauer setzt sich frech zwischen uns und lässt nicht locker, sie begleitet mich nach Hause.
Er zeigt kaum eine Reaktion auf meinen Abschied, auch das betrübt mich. Er ist enttäuscht, fühlt sich verlassen und ich verlasse ihn ebenfalls. Waldau nennt er den Betrieb dort, empfindet sich nicht dazugehörig, ich reagiere nicht darauf.
Mich beschleicht das schlechte Gefühl, ihm nicht gerecht zu werden. Ihn dort lassen zu müssen, wo er nicht sein möchte, wo er zu oft sich selbst überlassen wird. Die »kindischen Spiele« mit Ballon Zuwerfen mag er nicht, er sondert sich ab von der Gruppe. Beim Werken hat er andere Ideen – man nimmt ihn nicht mehr mit.