21. Dezember 2011 – Schweren Herzens
Nach einer Woche krank fahre ich heute wieder zu Paul. Gestern rief ich ihn an und als er sich am Telefon meldete, schlug mein Herz heftig. Diese liebe bekannte Stimme wieder zu hören … – wie eine frisch Verliebte sog ich seine Wortfetzen in mich auf. Auch wenn ich nicht verstehen konnte, was er sagte, der Klang seiner Stimme tat mir wohl.
Wie ich ihn wieder sehe, kommen mir die Tränen. Das Umarmen, seine Hände liebkosen. Ich muss an Evi denken, die ihren Mann nicht mehr hat. Ja, mein Paul, er ist wenigstens noch da, ich sehe, fühle, höre ihn. Aber er ist nicht der wirkliche Paul, der Paul, der er war.
Kaum hat er mich begrüsst, wendet er sich wieder seinen Guetzli zu, die er in Gedanken versunken immer neu anordnet, er wendet sie, dreht sie, beschaut sie – seine Erklärungen verstehe ich nicht. Das ist so traurig, er kann seine Gefühle und Gedanken nicht äussern.
Auch seine Erlebnisse kann er nicht in Worte fassen. Er sucht nach Wörtern, redet bloss Silben, die keinen Sinn ergeben.
Um halb vier Uhr mache ich mich schlapp und traurig auf den Heimweg. Ausgelaugt, noch erschöpft von der Grippe, sinke ich zu Hause ermattet aufs Bett. Tränen strömen über mein Gesicht. Nun bräuchte ich jemanden an meiner Seite, dem ich all meinen Kummer, meinen Schmerz klagen könnte. Nur wer? Ich weiss es nicht. Ich will niemand damit belasten.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Die Vreni, einmal mehr fehlt sie mir. Was nützt es, Anteilnahme zu suchen? Das ist wohl meine Lektion: Den Druck aushalten lernen. Damit bin ich nicht allein, wo immer ich hinschaue, sehe ich Not, Schmerz und dramatische Schicksale.
Mein Sohn Andy ruft an. Das tut so gut. Kann ich ihn mit meiner Trauer belasten? Hat er nicht genug eigene Sorgen und Probleme? Wer versteht diesen Schmerz, diese Qual des Herzens?
Gott, ich schreie einmal mehr zu dir. Erbarme dich Paul. Erbarme dich meiner. Erlöse ihn von seinen Qualen. Erspare ihm das langsame Verbleichen im Land des Vergessens, im Dschungel der Verlorenheit. Tränen, Tränen, Trauer. Schmerz.
Mir graut vor den Festtagen. Das erste Mal allein. Wohin könnte ich gehen? Nachmittags werde ich bei Paul sein, aber was danach?
Gestern Abend war Weihnachtsfeier mit meinen Musikerkollegen. Das tat gut. Dennoch, das nach Hause gehen in die leere Wohnung war fast nicht auszuhalten. Herr, gedenke meiner Gebete. Erbarme dich!
Was ist schmerzlicher, einen Menschen endgültig verlieren, oder ihn noch sehen, obwohl er eigentlich nicht mehr da ist? Dieser stete Druck des ewigen Abschiednehmen. Druck der Ungewissheit – wie geht es ihm, was macht er?
22. Dezember 2011 – Dennoch kommt die Freude
Kurz nach zehn Uhr mache ich mich auf den Weg. Es wird schon gehen. Hanni, die 88-jährige Schwester von Paul, seit vielen Jahren Witwe, ist seit einigen Jahren im Altersheim.
Mit dabei habe ich ein Adventsarrangement mit einer echten Rose, ja doch, sie ist echt, aber derart behandelt, dass sie nie mehr welken kann. Ewiges Leben sozusagen, der Wunschtraum vieler Milliardäre, die sich einfrieren lassen in der Hoffnung, irgendwann einmal in einem Zeitalter aufzuwachen, in dem man alle Krankheiten heilen kann.
Wir verbringen zusammen eine besinnliche Stunde, Hanni hat mir viel zu erzählen. Ich staune, wie viel Lebensweisheit, Mut, Liebe und Freude in ihr stecken. Nun bin ich selbst die Beschenkte. Auf meine Frage hin, ob sie ein Gebet wünsche, strahlt sie mich freudig an, gern!