Auf dünnem Eis - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (68)

Auf dünnem Eis

Für uns Angehörige ist es nicht einfach, mit stets neuem Personal eine Verständigung zu finden. Wenn man wenigstens wüsste, wer weggeht, oder wie die Neue heisst. Bild U. Kehrli

Die Bilder vom Pflegeheim in N. steigen in mir hoch, mir wird fast schlecht dabei. Ich denke daran, wie es ist, wenn eine Vertrauensperson mit Generalvollmacht über einen anderen Menschen bestimmen kann, wie viel Elend dadurch entsteht, wenn wichtige Entscheide gefällt werden müssen.

14. März 2012 – Bügelfalten

Paul leidet. Möchte weg von diesem Ort, wo viele Kranke ziellos herumgeistern, mit erloschenen Augen, starrem Blick. Von irgendwo nach nirgendwo. Auf der Suche nach der Vergangenheit, nach Vertrautem.

Einige sprechen vor sich hin, was keiner versteht, mit wackeligen Schritten tasten sie sich den Wänden entlang. Die Hose des Rechtsanwaltes hat keine Bügelfalten. Wozu auch? Man muss sparen. Auch mit Bügelfalten. Was nützen da die kostbarsten Hosen?

Sie sehen unförmig, zerbeult aus über den Windeln, die er tragen muss. Man spricht von Würde? Im normalen Altersheim werden die Hosen gebügelt.

Sind Menschen mit Demenz weniger wert? Auf diese Frage an die Direktion erhielt ich nie eine Antwort.

Und Paul mitten drin. Ärgert sich über die Suchenden, die in sein Zimmer eindringen, Unordnung machen, sich auf das von ihm sorgfältig gemachte Bett setzen, Essensreste fallen lassen, die er wieder aufputzen muss.

Das Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Dann vermisst er sein Süssmostgetränk. Wen kümmert es? Das ist hier halt so. Und Paul realisiert, dass er nicht dahin gehört. Eigentlich. Und doch, wo sollte er sonst sein? Wenn nicht abgeschlossen werden kann, wird er immer wieder davonlaufen. Auf der Suche nach etwas Vertrautem aus seiner Vergangenheit in Ostermundigen.

Und er hat Mühe mit Sprechen. Auch er ist verwirrt, wenn auch nicht (noch nicht) derart, dass er ins totale Vergessen versinkt. Er erkennt mich meistens, er weiss auch, wo die Toilette, wo sein Zimmer ist. Die Orientierung funktioniert in Gebäuden.

Nun kommen noch Personalabgänge hinzu. Ob da nicht die Falschen weggehen? Da gab es diese ausgesprochen feinfühlige Frau, einfühlsam mit allen Bewohnern, sie hatte eine liebenswerte Ausstrahlung und war auch zu uns Angehörigen freundlich, Anteil nehmend. Paul wirkt seit ihrem Weggang wie verloren.

Er winkt den Betreuenden auch nicht mehr so fröhlich zu. Ich vermisse sein Strahlen. Das bedrückt mich. Man bemerkt den Stress, sein getrieben sein, die nur knappen Begrüssungen und ich meide sogar den Small Talk mit ihm, der uns jeweils so gut tut. Die Anteilnahme fehlt jetzt. Dafür findet sich keine Zeit mehr.

Ausgerechnet jetzt muss ich dir sagen, dass ich eine Woche zur Erholung wegfahren werde! Ob du es verstehst?

Ach, wenn ich dir doch helfen könnte, was sind da die zwei, drei Stunden, die ich mit und bei dir verbringen kann? Wenn du wüsstest, wie viel Kraft mich das alles kostet, welche Schmerzen dauernd in meinem Herzen sind. Paul, wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe und vermisse.

24. März 2012 – Im Ländli

Ein Letzter Spaziergang hinauf zum Vater-Unser-Weg, dann durch die Schlucht, Abschied nehmen. Ich staune, wie leichtfüssig ich heute, nach einer Woche der Erholung, den Weg hinaufgehen kann.

Von weitem höre ich ein Kleinkind plappern, fröhlich, unbeschwert. Dazwischen mal kurz eine Männerstimme. Dann sehe ich die beiden vor mir im Gegenlicht. Der Vater hält sein kleines Bübchen fest an der Hand, geleitet es sorgsam über den mit Wurzeln überwachsenen, steinigen, steilen Weg.

Unaufhörlich plaudert das Kind, fröhlich, hell wie ein munter bimmelndes Abendglöcklein. Wir begrüssen uns kurz, das Kind plappert weiter. Noch weit unten höre ich das Kind plaudern, was mag wohl sein Herzchen bewegen?

Ein Vater, der zuhört. Ein Kind, das ihm unbeschwert und vertrauensvoll sein Herz öffnet, ausschüttet. Unbekümmert. Voll Vertrauen an der Hand des Vaters, sicher gehalten, geht es an seiner Seite. Dazwischen Worte der Zustimmung. Der Vater weiss den Weg, er kennt die Stolpersteine, er hält das Kind fest an der Hand.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Reich Gottes eingehen, spricht Jesus Christus und zeigt uns den Vater. Heute zeigt er mir den Vater, den fürsorglichen, beschützenden Vater. Den liebenden Vater, der interessiert zuhört, was sein Kind bewegt. Was es auf dem Herzen hat.

Ein Vater an unserer Seite, seine starke Hand hält, trägt. Er hört zu, wenn wir plaudern. Wenn wir schreien, tröstet er uns, wenn wir Zuspruch brauchen, nimmt er uns in die Arme und legt schützend seinen Mantel um uns, birgt uns an seinem Herzen.

Ja Vater!! Tränen rinnen über meine Wangen. Die Schöpfermacht des Alls, die grösste, höchste Kraft, Macht, ja, die Allmacht, ist für mich, lädt mich dazu ein, an seiner Hand zu gehen. Nie mehr allein. 

Nie mehr werde ich weggerissen von diesen Hosenbeinen, an die ich mich als kleines Kind klammerte, wenn der Vater in den Aktivdienst musste.

Wie oft habe ich damals geschrien, verzweifelt, voller Schmerz, in Panik: Mein Papi verlässt mich. Durch Tränen sah ich ihn weggehen, mit dem Tornister auf dem Rücken, darauf zusammengerollt der Mantel, an der Seite das Bajonett. In der Hand hielt er den Bariton, in Sacktuch gehüllt, ab und zu nahm er auch seine Trompete mit.

Dann blieb er lange Zeit weg. Grosse Trauer und Sehnsucht blieben in meinem Herzen. Dieser Vater im Himmel, an den ich mich nun hänge, der wird mich nie, nie, nie verlassen. Daran kann ich mich nun klammern, in der Gewissheit, bleiben zu dürfen an diesen Hosenbeinen. Nie, nie mehr werde ich verlassen werden. Ja, uns dranhängen an ihn, den Herrn, sollen wir uns, lese ich in Michael 6,20.

3. April 2012 – Dünnes Eis

Angehörigenkonferenz im Pflegeheim. Wollte erst gar nicht hingehen. Abends um sechs Uhr an einem Dienstag, wo ich doch eigentlich Musikprobe habe. Gute Ausrede. Dann sage ich doch zu, widerwillig, man muss doch Präsenz markieren, zeigen, dass uns das alles nicht einfach gleichgültig ist. Aber darauf kommt es gar nicht an.

Der Gang abends dorthin, und Paul zwei Stockwerke höher wissend, ich da unten, diese Nähe und er doch nicht dabei und ich mit der Generalvollmacht, befugt, über ihn endgültig zu entscheiden. Genau das, was er niemals wollte.

Er sagt es in letzter Zeit immer wieder, hier bleibe ich nicht. Hat wieder seine Sachen gepackt, nur die Blumen sind noch auf dem Sims vor dem Fenster.

Jedes Mal wenn ich komme, ist er für den Ausgang bereit, das heisst für die Abreise, auch den Toilettenbeutel hat er unter dem Arm.

Und wenn ich mich verabschieden will, steht er auf, will mit mir weggehen, schüttelt missmutig, traurig den Kopf, macht ein finsteres Gesicht, manchmal gibt es Tränen oder er ist wütend. Du bleibst da, ich komme ja wieder, sage ich immer, wenn ich gehe.

Aber er weiss jetzt auch, dass es zwei Mal die Woche einen langen Tag dazwischen gibt, an dem ich doch nicht komme. Und das ist traurig, tut weh, ist nicht gut, wir gehören zusammen, sagt er.

Die Leute kommen freundlich nickend herein, setzen sich, die Reihen füllen sich. Mir ist mulmig. Eben war ich noch zwei Stunden bei Paul, jetzt diese Konferenz. Wenn ich schon die 20 km gefahren bin, dann wenigstens Hallo sagen. Dienstag ist sonst mein normaler Besuchstag. Den Mittwoch nehme ich frei.

Gut bist du da, sagt er. Manchmal kann er sich gut ausdrücken.

Tut gut, ihn präsent zu sehen. Doch dann folgen wieder Worte, die keiner versteht.

Ich kann ihn in den Lift locken, wenn wieder mal die Sonne scheint und die Temperaturen über dem Nullpunkt liegen. April und immer noch kein Frühlingswetter.

Er freut sich an den Islandpferden, die er vom Zimmer aus beobachten kann. Wir sitzen auf der Bank, suchen die Flugzeuge, die man starten hört auf dem Flughafen, er zeigt auf die Primeln, die trotz Kälte blühen, grüsst die Spaziergänger – fast Normalität.

Es ist kalt. Ja, die Bise wehrt sich gegen den Frühling, wir gehen zurück. Er will nicht in den Lift. Da hinauf gehe ich nicht. Klare Durchsage. Er fühlt sich nicht mehr «zuhause», es gab Zeiten, als er sich im Pflegeheim wohl fühlte. Doch in letzter Zeit hat er Mühe. Zu viele Veränderungen mit all diesen Personalwechseln.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Dann gab es neue Bewohner, die viel Unruhe brachten. Einer hat ihn gar wütend umgestossen, Paul leidet noch heute unter Schmerzen am künstlichen Kniegelenk. Obwohl das Röntgenbild nichts Auffälliges zeigte. Aber Röntgen zeigt nicht alles, dafür müsste er in die Röhre.

Er geht vor dem Lift auf und ab, ich warte und hoffe, er würde sich doch noch an seinen Platz im Speisezimmer begeben, schliesslich gehe ich zu ihm und sage wieder du bleibst da, ich komme wieder. Er ist wütend, will sich kaum verabschieden, ich muss in den Lift, darf nicht zurückblicken.

Im Saal kenne ich etliche Leute, die regelmässig ihre Angehörigen besuchen. Nun kommt der Direktor und begrüsst mit sanfter Stimme, der Beamer läuft, er fragt, ob man ihn verstehe, aber viele verstehen ihn kaum. Gemurmel, er gibt sich Mühe, lauter zu sprechen, die, die nichts verstanden haben, werden von anderen ermutigt, sich in die vorderste Reihe zu setzen.

Es folgen viele Erklärungen über das neue Erwachsenenschutzgesetz, bei mir bleibt nur dieses beklemmende Gefühl.

Man müsse die Angehörigen um Erlaubnis bitten, um in der Nacht das Gitter anzubringen, wenn der Patient aus dem Bett fallen könnte. Auch ihn einfach anzubinden sei nicht erlaubt.

In mir steigen die Bilder vom Pflegeheim in N. hoch, mir wird fast schlecht. Ich denke daran, wie es ist, wenn eine Vertrauensperson mit Generalvollmacht über einen anderen Menschen bestimmen kann/muss/darf, wie viel Elend dadurch entstehen kann, wenn Entscheide gefällt werden müssen.

Die Gedanken an meine eigene letzte Wegstrecke geben mir den Rest. Ich hoffe nur noch auf die erlösenden Worte Danke für Euer Interesse. Wir gehen jetzt zum Apéro. Vorher sind aber noch die Fragen der Angehörigen an der Reihe.

Mangelnde Kommunikation, hat Beate angegeben. Anni doppelt nach und ich gebe noch einen drauf. Und eben, da entdecke ich das dünne Eis über meinen Emotionen. Ich bin auf Hundert. Mir ist jetzt heiss, nicht nur mulmig. Die Not der letzten Zeit kommt hoch, die Folgen von Pauls Benehmen, diese Unruhe, meine Hilflosigkeit, dieses sich fremd fühlen. 

Nein, es ist nicht sein verschlechterter Zustand. Für eine demente Person ist jede Veränderung eine kleinere Katastrophe, es fehlt an Halt und Vertrautheit.

Und für uns Angehörige ist es auch nicht einfach, mit stets neuem Personal eine Verständigung zu finden. Wenn man wenigstens wüsste, wer weggeht, oder wie die Neue heisst.

Die Neuen kennen die Eigenarten der Bewohner nicht, müssen sich einleben. Brauchen auch von uns Hinweise. Da sich Paul nicht verständigen kann, reagiert er aggressiv, wird dann eher abgelehnt, und wird viel zu viel sich selbst überlassen. Allein im Zimmer, abgesondert, baut sich noch mehr Heimweh in ihm auf. Ich verstehe mit dem Herzen. Er braucht es nicht zu sagen.

Beim Verabschieden ziehe ich noch die zwei Fotos aus meiner Tasche und zeige sie dem Direktor. Bild 1: Paul mit ungebügelter Hose. Eindruck: Unwürdig. Sind das Trainerhosen? Nein, Geh-Hosen. Bild 2: Paul ruht auf dem Lehnstuhl, Hose gebügelt. Ich muss seine Hose selbst bügeln! Anblick: Würdig.

Es wird immer von Würde gesprochen. Ist jemand mit Demenz so unwichtig, dass er ungebügelte Hosen anziehen muss? Er wolle sich darüber informieren, sagt der Direktor, werde mir Bescheid geben.

Ich versuche meine Gefühle zu beherrschen. An seinem Blick erkenne ich, dass es mir nicht so recht gelingt. Aber er wird ja wohl Erfahrung haben mit unserer schweren Aufgabe, die Tragik einer solchen Krankheit zu verarbeiten.

Zuhause tausche ich mich mit Anni am Telefon aus. Ihr ist es ähnlich ergangen. Hans isst nicht mehr richtig. Er schliesst die Augen und isst nur, wenn man ihn füttert. Und das muss sie eben selbst tun.

Wen interessiert es schon, ob ein Bewohner isst oder nicht? Nicht allen ist das wichtig.

Paul hat auch schon oft das Essen verweigert, setzt sich nicht an den Tisch, irrt herum. Will einfach raus! Später wärmt man ihm in der Mikrowelle das Essen auf, aber dann sind die Kartoffelkroketten noch trockener, der Broccoli fast schwarz, die Sosse vom dürr gewordenen Fleisch klebt am Teller. Er mag es nicht, ich würde es auch nicht mehr essen.

Das Pflegeheim hat ein Diplom erhalten für beste Führung und so. Das war vor einem Jahr. Rückblickend aufs vorige Jahr. Das war eben früher. Heute ist es anders, und man sieht und fühlt den Unterschied.

Verständlich, dass Emotionen nicht vollständig kontrollierbar sind. Ich verzeihe mir selbst, ich war ja nicht unhöflich, habe stets die Pflegenden gelobt, habe mich dankbar gezeigt, dass im Grossen und Ganzen Paul doch gut aufgehoben ist. Oft habe ich meine Dankbarkeit ausgesprochen, denn ich weiss ja, wie schwierig es ist, Pflegende zu sein. Nicht alle hier erwähnten Mängel habe ich geäussert. Wohlweislich. (Fortsetzung folgt …)