14. März 2012 – Bügelfalten
Paul leidet. Möchte weg von diesem Ort, wo viele Kranke ziellos herumgeistern, mit erloschenen Augen, starrem Blick. Von irgendwo nach nirgendwo. Auf der Suche nach der Vergangenheit, nach Vertrautem.
Einige sprechen vor sich hin, was keiner versteht, mit wackeligen Schritten tasten sie sich den Wänden entlang. Die Hose des Rechtsanwaltes hat keine Bügelfalten. Wozu auch? Man muss sparen. Auch mit Bügelfalten. Was nützen da die kostbarsten Hosen?
Sie sehen unförmig, zerbeult aus über den Windeln, die er tragen muss. Man spricht von Würde? Im normalen Altersheim werden die Hosen gebügelt.
Sind Menschen mit Demenz weniger wert? Auf diese Frage an die Direktion erhielt ich nie eine Antwort.
Und Paul mitten drin. Ärgert sich über die Suchenden, die in sein Zimmer eindringen, Unordnung machen, sich auf das von ihm sorgfältig gemachte Bett setzen, Essensreste fallen lassen, die er wieder aufputzen muss.
Das Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Dann vermisst er sein Süssmostgetränk. Wen kümmert es? Das ist hier halt so. Und Paul realisiert, dass er nicht dahin gehört. Eigentlich. Und doch, wo sollte er sonst sein? Wenn nicht abgeschlossen werden kann, wird er immer wieder davonlaufen. Auf der Suche nach etwas Vertrautem aus seiner Vergangenheit in Ostermundigen.
Und er hat Mühe mit Sprechen. Auch er ist verwirrt, wenn auch nicht (noch nicht) derart, dass er ins totale Vergessen versinkt. Er erkennt mich meistens, er weiss auch, wo die Toilette, wo sein Zimmer ist. Die Orientierung funktioniert in Gebäuden.
Nun kommen noch Personalabgänge hinzu. Ob da nicht die Falschen weggehen? Da gab es diese ausgesprochen feinfühlige Frau, einfühlsam mit allen Bewohnern, sie hatte eine liebenswerte Ausstrahlung und war auch zu uns Angehörigen freundlich, Anteil nehmend. Paul wirkt seit ihrem Weggang wie verloren.
Er winkt den Betreuenden auch nicht mehr so fröhlich zu. Ich vermisse sein Strahlen. Das bedrückt mich. Man bemerkt den Stress, sein getrieben sein, die nur knappen Begrüssungen und ich meide sogar den Small Talk mit ihm, der uns jeweils so gut tut. Die Anteilnahme fehlt jetzt. Dafür findet sich keine Zeit mehr.
Ausgerechnet jetzt muss ich dir sagen, dass ich eine Woche zur Erholung wegfahren werde! Ob du es verstehst?
24. März 2012 – Im Ländli
Ein Letzter Spaziergang hinauf zum Vater-Unser-Weg, dann durch die Schlucht, Abschied nehmen. Ich staune, wie leichtfüssig ich heute, nach einer Woche der Erholung, den Weg hinaufgehen kann.
Von weitem höre ich ein Kleinkind plappern, fröhlich, unbeschwert. Dazwischen mal kurz eine Männerstimme. Dann sehe ich die beiden vor mir im Gegenlicht. Der Vater hält sein kleines Bübchen fest an der Hand, geleitet es sorgsam über den mit Wurzeln überwachsenen, steinigen, steilen Weg.
Unaufhörlich plaudert das Kind, fröhlich, hell wie ein munter bimmelndes Abendglöcklein. Wir begrüssen uns kurz, das Kind plappert weiter. Noch weit unten höre ich das Kind plaudern, was mag wohl sein Herzchen bewegen?
Ein Vater, der zuhört. Ein Kind, das ihm unbeschwert und vertrauensvoll sein Herz öffnet, ausschüttet. Unbekümmert. Voll Vertrauen an der Hand des Vaters, sicher gehalten, geht es an seiner Seite. Dazwischen Worte der Zustimmung. Der Vater weiss den Weg, er kennt die Stolpersteine, er hält das Kind fest an der Hand.