Als Maren Wurster ihren Vater auf der Intensivstation besucht, hat der Krebs längst gestreut. Metastasen sitzen überall im Körper. Nun hat eine Lungenentzündung die Einweisung notwendig gemacht. Unweit des Krankenhauses liegt das Pflegeheim. Dort wohnt Marens Mutter, die an Alzheimer erkrankt ist. Zu ihr wird Maren gleich nach ihrem Besuch beim Vater fahren. Immer mit dabei: ihr dreijähriger Sohn.
Die Autorin Maren Wurster, geboren 1976, ist Mitgründerin des Autor:innenkollektivs Writing with CARE / RAGE. Das Kollektiv setzt sich für die Vereinbarkeit von Schreiben und Care-Arbeit ein. Im anonymen Austausch mit anderen Schreibenden bringt Maren Wurster erste Gedanken zu ihrer eigenen Care-Arbeit zu Papier.
In den acht Monaten, in denen ihr Vater nach einem Krankenhausaufenthalt im Sterben liegt, entsteht so ein autofiktiver Roman über Krankheit und Pflege, weitergereichte Traumata und den schmalen Grat zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit. Darin geht es nicht nur um die Eltern und ihren Krankheitsverlauf, sondern auch um die eigenen Untiefen.
Maren Wurster
Maren Wurster, geboren 1976, studierte Filmwissenschaften und Philosophie in Köln und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2017 erschien ihr Roman Das Fell. Sie erhielt mehrere Stipendien. Mit Papa stirbt, Mama auch stand sie auf der Shortlist des Wortmeldungen-Literaturpreises 2021.
In Papa stirbt, Mama auch richtet sich Maren Wurster an ihren Vater. Ihm fühlt sie sich näher als der Mutter, an deren emotionaler Distanz sie sich «abgearbeitet» habe. Ihr Vater hingegen war der Grossherzige, Gütige – auch wenn Maren stark unter seinem Alkoholismus und der Tabaksucht litt.
Wie der Grossvater erkrankt auch Marens Vater an Lungenkrebs. Und dann zeigen sich auch bei der Mutter Symptome einer Erkrankung. Sie vergisst, schraubt mitten in der Nacht alle Glühbirnen aus der Fassung, findet das Bad nicht mehr. Maren hofft, dass sie die Demenz verlangsamen kann, wenn sie nur oft genug zu Besuch kommt und der Mutter Orientierung gibt. Der Plan geht nicht auf. Die Mutter zieht sich zurück, bildet mit ihrem Mann einen Kokon.
Der ist mit der Situation überfordert. Körperpflege, Haushalt und Organisatorisches bringen ihn an seine Grenzen; stets war seine Frau diejenige, die sich um alles kümmerte. Jetzt verwahrlost die Wohnung. Der Kühlschrank ist leer, angebrochene Dosen sind schimmelüberzogen, der Aschenbecher quillt über. Obwohl der Vater sieht, dass die Mutter über Wochen dieselbe Kleidung trägt, reagiert er nicht.
«Ich gehe jetzt einfach»
Als Marens Einschreiten unumgänglich wird, durchläuft sie als alleinerziehende Mutter gerade selbst eine schwierige Phase. «Es war paradox», erzählt sie. «Ausgerechnet in dem Augenblick, wo ich mir fürsorgliche Grosseltern gewünscht hätte, waren sie auf meine Hilfe angewiesen.» Maren Wurster ist wütend auf ihre Eltern. Darauf, dass sie sich auch jetzt wieder um sie kümmern muss – wie zu Kindertagen, als der Vater täglich betrunken war.
«Manchmal war ich wirklich verzweifelt. Ich dachte: Ich gehe jetzt einfach!»
Ihr dunkelster Moment ist der Tag, an dem sie ihre Mutter ins Heim bringt. Dass das keine «Pension» ist, merkt die Mutter, als sie eine Frau im Bett liegen und an die Decke starren sieht. Sie fängt an zu weinen. Die Leiterin fordert Maren auf, zu gehen.
Ich drehe mich um und trete wieder auf den Flur. Mama kommt mir nach, ihr Schluchzen ist in ein Schreien übergegangen. Sie schreit meinen Namen, alles Ablehnende der vergangenen Tage ist verflogen (…). Sie folgt mir, weil sie doch sonst verloren ist. Sie holt mich ein und hält mich am Ärmel fest. Ich spüre ihre Kraft. Ich reiße mich los und fange an zu rennen. (S. 89)
Gegen den Willen ihrer Mutter und mit nur mässiger Unterstützung des Vaters trifft Maren Wurster eine Entscheidung, von der sie damals nicht weiss, ob sie richtig ist. In ihrer inneren Zerrissenheit ist sie kurz davor, ihre Eltern sich selbst zu überlassen. «In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich dachte mir, ich lass meine Mutter jetzt mit Papa in der Wohnung bleiben – und irgendwann kommt der Anruf. Der Anruf, dass etwas passiert ist.»
Maren Wurster ist das einzige Kind, der Anruf vorprogrammiert. Das zu akzeptieren, fällt ihr schwer. Doch die Unausweichlichkeit des Moments ist es auch, die ihr die Kraft zum Handeln gibt.
Sie muss sich kümmern. Niemand sonst wird es tun.
Die Mutter bleibt im Heim. Der Vater zieht kurze Zeit später zu ihr in eine Wohngemeinschaft. Die beiden blühen noch einmal auf, erfahren eine umsorgte Zweisamkeit, die sie vorher in ihrer verwahrlosten Wohnung nicht hatten. Das versöhnt Maren Wurster mit ihrer Entscheidung. Das Gefühl, ihrer Mutter Gewalt angetan zu haben, bleibt.