«Papa, ich hab dein Auto geklaut» - demenzjournal.com
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Autofahren und Demenz

«Papa, ich hab dein Auto geklaut»

Alter VW-Bus parkt am Strassenrand in einem Berg-Panorama

Für Christophs Vater war Autofahren ein Lebensgefühl. Christoph erinnert sich an lange Fahrten nach Italien, Spanien und Frankreich. Unsplash

Autofahren ist für viele mit Emotionen verbunden – zum Beispiel mit dem Gefühl von Freiheit. Umso schlimmer, wenn eine Demenzerkrankung das Fahren zur Gefahr macht. Doch wie überzeugt man den Betroffenen, die Autoschlüssel abzugeben? Christoph Tappé über das Ringen mit seinem erkrankten Vater.

Das Telefon klingelt, ich nehme den Hörer ab, sage meinen Namen und weiss nicht ob ich lachen oder weinen soll, als sich am anderen Ende die Polizei meldet: «Herr Tappé, Ihr Vater ist bei uns auf der Wache und möchte sein Auto als gestohlen melden. Das kommt uns irgendwie komisch vor …»

Klar, die Polizei schnallt sofort, dass sie einen Menschen mit Demenz vor sich hat. Umso erstaunlicher, dass mein Vater in dem fortgeschrittenen Stadium seiner Erkrankung noch auf die Idee kommt, die Polizei nach seinem Auto fahnden zu lassen. Als ich dem Beamten mitteile, dass ich der Dieb des Wagens bin, kann der sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Mein Vater kommt 30 Minuten später nach Hause und tut so, als wäre nichts gewesen.

Autofahren bei Demenz

Das Thema Autofahren mit Demenz begleitet mich und meine Familie bereits seit über zehn Jahren, als bei meinem Vater eine «langsam voranschreitende Alzheimer-Demenz» diagnostiziert wurde.

Ich musste drei Anläufe nehmen, bis meine Mutter und mein Bruder der gleichen Einschätzung waren wie ich: Das Auto muss weg.

Die Statistik bestätigt meine Vermutung: Personen über 65 Jahre sind überproportional häufig an schweren Verkehrsunfällen beteiligt, so die Deutsche Verkehrswacht.

In anderen europäischen Ländern sind regelmässige Fahrtauglichkeitstests für Senior:innen Pflicht. In Italien und Portugal findet eine Überprüfung bereits für über 50-Jährige statt. Unser Bundesverkehrsminister, Andreas Scheuer, hält davon erstaunlicherweise gar nichts: «Ich lehne Zwangstests für ältere Autofahrer:innen ab». Tja, so bleibt der schwarze Peter bei den Angehörigen. Denn für mich ist der Gedanke, dass eines Tages ein von meinem Vater verursachter Unfall anderen Personen Schaden zufügt, unerträglich.

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Die neue Freiheit

Nun ist es so, dass das Thema Autofahren für meinen Vater – wie für so viele seiner Generation – immer eine grosse Bedeutung hatte. Als jüngstes von drei Geschwistern hat er vor über 60 Jahren als Erster seine Fahrerlaubnis erworben. Die Familie war begeistert. Und als schliesslich das erste eigene Auto – na klar, ein VW-Käfer, dunkelblau, 37 PS – vor der Tür stand, war er der Held der Familie.

Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören endlos lange Autofahrten in den Urlaub: Frankreich, Spanien, Italien.

Ohne Klimaanlagen, dafür mit ordentlich Rauch und Gestank. Ausgelöst von filterlosen Zigaretten der Marke Virginia, Players No 6. Unerträglich damals, unvorstellbar heute. Einziger Fahrer auf den Trips gen Süden: mein Vater. Stunde um Stunde, Kilometer für Kilometer sass er konzentriert hinterm Steuer.

Dank der Vorfreude auf den Familienurlaub liess sich auch selbige am Fahren nicht bremsen. Verständlich also, dass er niemals auf sein Auto verzichten wollte. Verständlich ebenso, dass eine kritische Selbsteinschätzung ab einem bestimmten Grad des Krankheitsverlaufs nicht mehr möglich ist. Also bin ich aktiv geworden.

Zwei gescheiterte Versuche

Dass das Thema «Autofahren verbieten» nicht einvernehmlich mit meinem Vater besprochen werden konnte, war mir natürlich klar. Der Versuch meine Mutter davon zu überzeugen, das Auto abzuschaffen, scheiterte ebenso. In ihrer Vorstellung schränkte sie damit ja auch ihre eigene Mobilität stark ein. Mein Einwand, ich könne sie hier und da hinfahren, sie könnten ja künftig häufiger Taxi fahren, wurde abgeschmettert: «Du hast doch auch nicht so viel Zeit» und «Viel zu teuer». Der Hinweis auf das grosse Einsparpotenzial durch das abgeschaffte Auto verhallte ungehört.

Sohn Christoph fällt es schwer, seinem Vater die Autoschlüssel abzunehmen.privat

Wiederholtes Googeln brachte mich zwei Jahre später auf eine Idee: Wenn ich schon meine Mutter nicht als Verbündete aktivieren kann, hole ich mir einfach einen Experten ins Boot, äh – Auto: einen Fahrlehrer. Der Anruf in der Fahrschule ergibt, dass nach einer Beobachtungsfahrt ein Gutachten erstellt werden kann. Kostenpunkt: 120 Euro. Eine, wie ich finde, lohnende Investition. Erstaunlicherweise willigt mein Vater ein – vermutlich in der Hoffnung, das Thema damit für alle Zeiten vom Tisch zu haben.

Der Tag der Wahrheit ist da. Ich bin frühmorgens zum Frühstück bei meinen Eltern. Mein erstaunter Vater freut sich über meinen Besuch: «Was machst Du denn hier, Christoph?» – «Ich hole dich zur Probefahrt in der Fahrschule ab.» Ratlos schaut mein Vater mich an. Egal, wir fahren los. Auf dem Weg zur Fahrschule – ich fahre – kommt seine Frage: «Wo fahren wir eigentlich hin?» Mir bricht es das Herz und ich versuche, es so sanft wie möglich zu erklären. Mein Dad schaut mich hilflos an. Aber er macht mit.

Die Testfahrt dauert 30 Minuten. Ich warte vor der Fahrschule. Anschließend teilt mir der Fahrlehrer mit, dass mein Vater zwei Stopp-Schilder überfahren, einen Radfahrer übersehen und eine Ampel bei gaaaaaanz dunklem Gelb passiert hat. Er hält ihn dennoch für fahrtüchtig und kündigt einen schriftlichen Bericht an. Ich ringe um Fassung. Das kann doch nicht wahr sein. Warum hilft mir denn keiner? Versuch Nummer 2: gescheitert.

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Aller guten Dinge sind drei: Ihre Autofahrt endet hier.

Meine Mutter muss für mehrere Tage ins Krankenhaus. Ich bringe sie gemeinsam mit meinem Vater dorthin. Mein Plan, meinen Vater während ihres Aufenthalts zuhause zu lassen und einmal am Tag die Lage zu checken, verwerfe ich, nachdem ich wieder mit ihm in der Wohnung meiner Eltern ankomme. Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus hat er mich zweimal gefragt, wo denn meine Mutter sei. Jetzt sucht er sie zuhause. Mein Gott, dieses Ausmass war mir nicht klar.

Ich merke, was meine Mutter alles für sich behalten hat. Sofort ist klar, mein Vater kommt mit zu mir nach Hause. Mein Bruder kommt vorbei, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Ich sitze mit ihm im Wohnzimmer, mein Vater bleibt allein in der Küche. Ich nutze die Gunst der Stunde, teile meinem Bruder meine Bedenken mit und er willigt ein: Das Auto muss weg.

Gesagt, getan. Kurzerhand sacke ich die Schlüssel ein.

Mein Vater ist unruhig, läuft in der Wohnung hin und her. Öffnet Schubladen, durchsucht zum wiederholten Male seine Jackentaschen. Ich ahne es: Er sucht seine Autoschlüssel. Wir sprechen ihn an, konfrontieren ihn sachte aber bestimmt mit der Wahrheit. Er ist fassungslos. Seine Jungs nehmen ihm sein Auto weg. Er schimpft leise vor sich hin. Setzt sich wieder in die Küche, steht wieder auf, sucht weiter. Klar, er hat es wieder vergessen.

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Später nehme ich ihn mit zu mir nach Hause. Wir fahren täglich ins Krankenhaus zu meiner Mutter, bei unserer Rückkehr am Abend freut sich mein Vater immer wieder, mein Haus zu sehen: «Das ist ja schön. Verbringt ihr den ganzen Sommer hier, Christoph?» Ja, klar. Wir leben ja hier.

Unsere gemeinsame Woche ist wunderschön. Wir sind uns so nah wie lange nicht mehr.

Ich bringe meinen Vater abends ins Bett, decke ihn zu. Wir haben die Rollen getauscht.

Nachtrag: Sein Auto hat mein Vater nie vergessen. In seiner Wahrnehmung ist es geklaut worden, er hat es genau beobachtet: Es waren zwei Männer. Glücklicherweise aber hat er vergessen, dass ich einer davon bin.