Autofahren mit Demenz - demenzjournal.com

Loslassen (1)

Autofahren mit Demenz

Alter Mensch spielt mit Spielzeugauto

Besonders für die ältere Generation ist Autofahren eng an ein Freiheits- und Autonomiegefühl gekoppelt. Das aufzugeben tut weh. Dominique Meienberg

Demenz bedeutet permanentes Loslassen: Loslassen von Fähigkeiten, Beziehungsmustern, Aufgaben. Auch der Verlust des Führerscheins ist für Betroffene oft schmerzhaft. Ab wann ist jemand fahruntauglich – und was passiert dann?

Das Schicksalhafte des Loslassens kann als Metapher für Demenz angesehen werden. Das Loslassen von Fähigkeiten, von Beziehungsmustern, der Arbeitsstelle, vom Autofahren tut weh, doch diese Menschen haben keine Alternative.

Inhalt

> Autofahren bedeutet Autonomie
> Wann ist jemand fahruntauglich?
> Was passiert bei Fahruntauglichkeit?
> Rechtzeitig Alternativen schaffen

Autofahren bedeutet Autonomie

Das Autofahren ist nach wie vor ein Statussymbol, besonders für die ältere Generation. Mit dem Autofahren verbindet man Autonomie und Bewegungsfreiheit, weshalb die erzwungene Aufgabe mit heftigen Emotionen verbunden ist: Menschen, die dieses Schicksal trifft, werden in den Grundpfeilern ihres Selbstverständnisses und Selbstwertgefühls getroffen. Dazu kommt die Anosognosie, die andere Wahrnehmung der Demenzerkrankten:

  • «Eigenartig, dass es alle auf mein Auto abgesehen haben. Es ist voller Beulen, die sollen doch endlich aufpassen, dass sie nicht immer mein Auto rammen!»
  • «Dass alle um mich ein Hupkonzert veranstalten, kann ich einfach nicht verstehen.»
  • «Wenn sie mir den Fahrausweis wegnehmen, kann ich mich geradeso gut umbringen.»
  • «Ich ziehe um, von der Schweiz nach Deutschland, da nehmen sie mir wenigsten den Fahrausweis nicht weg!»

Als ich einen Patienten im Gespräch auf seine Fahruntauglichkeit aufmerksam machte, sagte er: «Sie wollen mir sagen, dass ich nicht mehr Auto fahren darf? Dann …» – und er zückte ein Messer, eine äusserst heikle Situation. Ich zitterte am ganzen Körper, konnte die Situation aber beruhigen: «Herr S., als ehemaliger Bankdirektor passt es doch nicht zu Ihnen, dass Sie eine Frau bedrohen.» Danach steckte er sein Messer ein.

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Wann ist jemand fahruntauglich?

Damit wir Autofahren können, benötigen wir:

  1. Fahrfertigkeit – das Wissen, wie man ein Auto bedient.
  2. Fahrfähigkeit – momentane, zeitlich umschriebene sowie ereignisbezogene physische und psychische Befähigung zum sicheren Lenken eines Motorfahrzeugs im Strassenverkehr (diese kann durch die Einnahme von Medikamenten, Alkohol, Drogen oder akuter Erkrankung beeinträchtigt werden).
  3. Fahreignung (Fahrtauglichkeit) – allgemeine und zeitlich nicht umschriebene und nicht ereignisbezogene physische und psychische Befähigung zum sicheren Lenken eines Motorfahrzeugs im Strassenverkehr.

Zu Beginn der Demenzerkrankung kann die Fahreignung zwar noch gegeben sein, doch spätestens nach zwei bis drei Jahren ist sie beeinträchtigt.

Die Notwendigkeit der Abgabe des Fahrausweises fällt oft in eine Zeit, in der Patient ohnehin schon permanent von Gewohntem loslassen muss.

Das Autofahren gab ihm noch Halt und Selbstwert und die Fahrfertigkeit ist in diesem Moment meist noch gegeben. Die Fahrfertigkeit hängt von einer ganz speziellen Gedächtnisfunktion ab, dem prozeduralen Gedächtnis. Wenn wir Auto fahren, müssen wir uns nicht jedes Mal überlegen, wie wir den Motor anstellen, wie wir schalten oder bremsen; auch Wendemanöver oder das Parken sind mit dem prozeduralen Gedächtnis verknüpft. Und nun verbietet die Ärztin das Autofahren, obwohl der Patient noch fahren kann, möglicherweise auch dank einer immensen Erfahrung tatsächlich besser als viele andere.

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Die Fahreignung hängt jedoch von ganz anderen Faktoren ab: vom vorausschauenden Denken, vom Einschätzen von Distanzen und Geschwindigkeiten, von der Aufmerksamkeit. Die Teilnahme am Verkehr erfordert es, Situationen schnell und richtig einzuschätzen, man muss sich gleichzeitig auf mehrere Dinge konzentrieren (Fähigkeit der geteilten Aufmerksamkeit). Zudem brauchen wir zum Autofahren eine intakte räumliche Wahrnehmung (um keinen Randstein zu touchieren, zu parken und Distanzen auf schmalen Strassen oder beim Überholen auf der Autobahn richtig einzuschätzen).

Demenzkranke fahren auf Überlandstrassen zu langsam, innerorts zu schnell, sie bremsen oft brüsk; sie stehen lange an Kreuzungen, um dann doch unerwartet abzubiegen.

Im Kreisverkehr ist das Einschätzen von Geschwindigkeit und Distanz besonders gefragt, es ist ein komplexer Prozess, der im Laufe des Kindesalters erworben wird und Voraussetzung dafür ist, dass sich das Kind im Verkehr sicher bewegen kann.

Menschen mit Demenz finden oft den Weg nicht mehr oder müssen sich mehr konzentrieren, was zur erhöhten Ablenkung führt. Ein GPS kann zwar hilfreich sein, muss aber bedient werden können. Die Unsicherheit ist besonders gross in ungewohnter Umgebung oder wenn sich auf gewohnten Wegen etwas verändert, zum Beispiel durch eine Baustelle. Es häufen sich Missgeschicke wie: links und rechts werden verwechselt, die rote Ampel wird nicht beachtet, Verkehrstafeln werden übersehen, es wird zu schnell gefahren etc.

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Menschen mit Demenz schätzen ihr eigenes Fahrverhalten anders ein als die Umwelt. Die Angehörigen fühlen sich aber oft gezwungen, die Fahrweise zu beschönigen, weil sie sich vor Wutausbrüchen fürchten. Können Angehörige nicht selber fahren, tendieren sie dazu, das Fahrverhalten zu verklären: sonst müssen auch sie loslassen, zum Beispiel vom Ferienhaus in den Bergen, das nur mit dem Auto erreichbar ist.

Die «Enkelfrage»

Manche Angehörige beschönigen das Fahrverhalten ihres demenzerkrankten Angehörigen. Als Ärztin stelle ich in diesen Situationen die «Enkelfrage»:

Eine Tochter schildert in Anwesenheit ihres demenzerkrankten Vaters, wie gut er noch Auto fahre. Das wird von der Ehefrau bestätigt. Ich nehme den Patienten aber so wahr, dass er nicht mehr Auto fahren kann. Er hat Mühe mit der Orientierung, auch zu Fuss. Als ich die Tochter darauf anspreche, ob sie ihre Kinder dem Patienten noch im Auto anvertrauen würde, weist sie dies vehement von sich. Das wäre viel zu gefährlich, deswegen bringe sie die Kinder und hole sie wieder ab.

Was passiert bei Fahruntauglichkeit?

In der Schweiz muss mit Erreichen des 75. Altersjahrs die Fahreignung alle zwei Jahre bestätigt werden, in Deutschland gibt es keine solche Bestimmung. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Schweizerischen Strassenverkehrsgesetz (SVG), in der Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (Verkehrszulassungsverordnung, VZV) und im Obligationenrecht (OR) (SR 220) geregelt.

Darin heisst es, dass die Meldung im Ermessen des Arztes liegt und dass dazu keine Entbindung des Berufsgeheimnisses notwendig ist. Es handelt sich hier ausdrücklich um ein Melderecht und keine Meldepflicht. Bevor eine Meldung an das Strassenverkehrsamt erfolgt, besteht auch die Möglichkeit, die Fahreignung in einer Memory Clinic beurteilen zu lassen.

Leider gibt es keinen Test, der mit Sicherheit voraussagen kann, ob die Fahreignung noch gegeben ist.

Leidet ein Mensch bereits an einer mittelschweren bis schweren Demenz, ist die Fahreignung nicht mehr gegeben und weitere Abklärungsschritte sind nicht notwendig. Ist die Situation aber unklar, macht eine amtlich angeordnete Kontrollfahrt Sinn. Allerdings hat diese Kontrollfahrt ihre Grenzen, da der Patient nicht alleine fahren muss und einen Guide in der Person der Expertin hat. Zudem haben Patient:innen oft bessere und schlechtere Tage, und es spielt auch eine wichtige Rolle, ob beeinträchtigende Begleiterkrankungen vorliegen oder nicht.

Ich melde eine leicht Demenzerkrankte ans Strassenverkehrsamt, weil ich befürchte, dass sie ihren Diabetes nicht mehr richtig einstellen kann und dass ihr Fahrverhalten durch die kognitive Störung beeinträchtigt sein könnte. Insbesondere bin ich der Meinung, dass die Patientin auch deutliche Fluktuationen in der Kognition hatte, je nachdem, wie ihre Zuckerkrankheit eingestellt war. Die Tochter machte sich grösste Sorgen, dass etwas passieren könnte. Die Fahrprobe verlief einwandfrei, einen Tag später erlitt sie auf der Autobahn einen Totalschaden. Wie durch ein Wunder gab es weder Verletzte noch Tote.

Rechtzeitig Alternativen schaffen

Aus meiner Sicht gibt es nur einen Weg: ab der Diagnosestellung sollte die Fahreignung angesprochen werden. Dann haben die Betroffene genügend Zeit, sich damit auseinanderzusetzen.

Ich staune, wie häufig Menschen mit Demenz freiwillig den Fahrausweis abgeben, auch wenn sie es am Anfang der Krankheit vehement verweigerten.

Gute Sportler:innen hören auf, bevor es zu Niederlagen kommt, viele tun dies auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und bleiben als Helden in Erinnerung. Genauso kann es mit dem Autofahren gehen: Patient:innen sollten im Wissen, dass sie das Autofahren beherrscht haben wie fast keine andere Person, freiwillig mit dem Autofahren aufhören.

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Autofahren ist eng mit dem hohen Bedürfnis nach Autonomie assoziiert; dies steht im Konflikt mit der Sicherheit für andere Verkehrsteilnehmer:innen. Die Gesetzgebung erlaubt ein erhöhtes Risiko, bejaht zum Beispiel Autofahren in der Schweiz mit 0,5 Promille Alkohol, obwohl dies das Unfallrisiko erhöht. Ähnliches gilt bei beeinträchtigtem Sehen, bei dem innerhalb eines gewissen Rahmens die Mindestanforderungen erfüllt bleiben, obwohl das Unfallrisiko ansteigt.

Bei Demenzerkrankten besteht sicher eine verminderte Reserve, um auf Unvorhergesehenes zu reagieren, und auch hier ist das Unfallrisiko erhöht. Das Recht, auch mit einer leichten Demenz zu fahren, impliziert die Tatsache, dass ein gewisses Risiko besteht, was aber von der Gesellschaft geduldet wird.

Der Entzug des Fahrausweises kann mit Einbusse des Selbstwertes bis hin zu sozialer Isolation verbunden sein.

Zudem können regelmässige Kontrollen zu Stigmatisierung führen, auf jeden Fall aus der Sicht der Betroffenen. Hier könnte ein Umdenken helfen. Mobilität ist zwar wichtig, bei rechtzeitigem Erlernen des Benutzens der öffentlichen Verkehrsmittel kann aber eine neue Form von Freiheit und Autonomie entstehen.


Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen bei rüffer & rub. Wir danken dem Verlag für die Gelegenheit zur Veröffentlichung auf unserer Plattform.
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