Menschen mit Demenz schätzen ihr eigenes Fahrverhalten anders ein als die Umwelt. Die Angehörigen fühlen sich aber oft gezwungen, die Fahrweise zu beschönigen, weil sie sich vor Wutausbrüchen fürchten. Können Angehörige nicht selber fahren, tendieren sie dazu, das Fahrverhalten zu verklären: sonst müssen auch sie loslassen, zum Beispiel vom Ferienhaus in den Bergen, das nur mit dem Auto erreichbar ist.
Die «Enkelfrage»
Manche Angehörige beschönigen das Fahrverhalten ihres demenzerkrankten Angehörigen. Als Ärztin stelle ich in diesen Situationen die «Enkelfrage»:
Eine Tochter schildert in Anwesenheit ihres demenzerkrankten Vaters, wie gut er noch Auto fahre. Das wird von der Ehefrau bestätigt. Ich nehme den Patienten aber so wahr, dass er nicht mehr Auto fahren kann. Er hat Mühe mit der Orientierung, auch zu Fuss. Als ich die Tochter darauf anspreche, ob sie ihre Kinder dem Patienten noch im Auto anvertrauen würde, weist sie dies vehement von sich. Das wäre viel zu gefährlich, deswegen bringe sie die Kinder und hole sie wieder ab.
Was passiert bei Fahruntauglichkeit?
In der Schweiz muss mit Erreichen des 75. Altersjahrs die Fahreignung alle zwei Jahre bestätigt werden, in Deutschland gibt es keine solche Bestimmung. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Schweizerischen Strassenverkehrsgesetz (SVG), in der Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (Verkehrszulassungsverordnung, VZV) und im Obligationenrecht (OR) (SR 220) geregelt.
Darin heisst es, dass die Meldung im Ermessen des Arztes liegt und dass dazu keine Entbindung des Berufsgeheimnisses notwendig ist. Es handelt sich hier ausdrücklich um ein Melderecht und keine Meldepflicht. Bevor eine Meldung an das Strassenverkehrsamt erfolgt, besteht auch die Möglichkeit, die Fahreignung in einer Memory Clinic beurteilen zu lassen.
Leider gibt es keinen Test, der mit Sicherheit voraussagen kann, ob die Fahreignung noch gegeben ist.
Leidet ein Mensch bereits an einer mittelschweren bis schweren Demenz, ist die Fahreignung nicht mehr gegeben und weitere Abklärungsschritte sind nicht notwendig. Ist die Situation aber unklar, macht eine amtlich angeordnete Kontrollfahrt Sinn. Allerdings hat diese Kontrollfahrt ihre Grenzen, da der Patient nicht alleine fahren muss und einen Guide in der Person der Expertin hat. Zudem haben Patient:innen oft bessere und schlechtere Tage, und es spielt auch eine wichtige Rolle, ob beeinträchtigende Begleiterkrankungen vorliegen oder nicht.
Ich melde eine leicht Demenzerkrankte ans Strassenverkehrsamt, weil ich befürchte, dass sie ihren Diabetes nicht mehr richtig einstellen kann und dass ihr Fahrverhalten durch die kognitive Störung beeinträchtigt sein könnte. Insbesondere bin ich der Meinung, dass die Patientin auch deutliche Fluktuationen in der Kognition hatte, je nachdem, wie ihre Zuckerkrankheit eingestellt war. Die Tochter machte sich grösste Sorgen, dass etwas passieren könnte. Die Fahrprobe verlief einwandfrei, einen Tag später erlitt sie auf der Autobahn einen Totalschaden. Wie durch ein Wunder gab es weder Verletzte noch Tote.
Rechtzeitig Alternativen schaffen
Aus meiner Sicht gibt es nur einen Weg: ab der Diagnosestellung sollte die Fahreignung angesprochen werden. Dann haben die Betroffene genügend Zeit, sich damit auseinanderzusetzen.
Ich staune, wie häufig Menschen mit Demenz freiwillig den Fahrausweis abgeben, auch wenn sie es am Anfang der Krankheit vehement verweigerten.
Gute Sportler:innen hören auf, bevor es zu Niederlagen kommt, viele tun dies auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und bleiben als Helden in Erinnerung. Genauso kann es mit dem Autofahren gehen: Patient:innen sollten im Wissen, dass sie das Autofahren beherrscht haben wie fast keine andere Person, freiwillig mit dem Autofahren aufhören.