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Weihnachtsgeschichte

Wenn nur ein Engel käme …

Ist das nicht auch ein wichtiger Teil von Weihnachten: Freude bereiten, Liebe verschenken, an andere Menschen denken, Leid mindern? Pixabay

Es war wie ein Erwachen aus der Erstarrung des Leides. Sich anderen Menschen hinzuwenden liess Susanne erkennen, dass es Freude zu erleben gibt, wenn wir selbst Freude verschenken. Ein Gefühl, das sie seit der Erkrankung ihres Mannes vermisst hat.

Wenn nur ein Engel käme … , wie oft wünschen wir uns das insgeheim! Das muss sich die alte Bertha wohl auch gedacht haben, als sie mit schweren Einkaufstaschen den Hügel hinauf ächzte. Über achtzig Jahre alt, durch Kummer und Krankheit abgemagert und erschöpft, geriet sie schnell ausser Atem. Alle paar Meter blieb sie stehen und stellte die Taschen ab.

Gleichentags sorgte im Dorf ein verlorener Plastiksack für Wirbel. Susanne, auch bald 80, war vergesslich geworden. Die letzten Jahre nagten an ihr, sie war überfordert und müde von der Pflege ihres an Demenz erkrankten Mannes. Nun war er im Heim, zuhause ging’s nicht mehr.

Doch noch immer war da diese lähmende Erschöpfung und oft war sie in Gedanken nicht bei der Sache.

Nun, in der Adventszeit ging sie zur Abwechslung auf Schnäppchenjagd zu Otto’s und erfreute sich an ihren Einkäufen.

Zuhause angekommen suchte sie den neu erstandenen Pullover. Doch im Rucksack waren bloss der Schnäppchen-Kaffee und die Ein-Franken-Handseife – aber, wo zum Kuckuck … da dämmerte es ihr: Den Plastiksack mit dem Pullover hatte sie wohl im Bus liegen lassen.

Susanne studierte den Fahrplan der Busbetriebe, da fand sie auch die Nummer des Kundendienstes. «Das kann vorkommen, keine Sorge, ich geb’s mal den Fahrern durch». «Hier Goran, Bus 2, bitte melde dich», hörte sie ihn durchfunken. Die Freundlichkeit des Angestellten tat ihr wohl. Bestimmt würde die Tasche gefunden.

«Nein, da ist keine Tasche». Goran funkte noch andere Busfahrer an. Sicher ist sicher. Wie vereinbart ging Susanne zur Busstation zurück, um zwanzig nach fünf sollte ihr Bus wieder kommen. Nein, da war keine Tasche liegengeblieben.

Ein Interview mit unserer Tagebuch-Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Enttäuscht und traurig machte sie sich auf den Heimweg. Nun, da hat sich wohl jemand einen gratis Klausen-Sack angeeignet, dachte sie. Und mit dabei der schöne Pullover! Der mit dem Kashmere-Feeling. Für nur 19.90 und grün, zum ersten Mal wieder grün, nach so vielen Jahren.

Unterwegs überlegte sie nochmal: Hatte sie im Bus tatsächlich eine Tasche dabei gehabt? War da nicht nur der Rucksack, den sie sich mühsam von der Schulter gelöst und auf den Boden gestellt hatte?

Beim Grübeln, wo zum Kuckuck ihr Pullover geblieben sein könnte, fiel ihr die schlanke, gebeugte Gestalt auf, die langsam vor ihr her ging, beladen mit schweren Taschen. War das nicht die alte Bertha?

«Kann ich dir helfen, Bertha?» fragte Susanne. «Oh, du Engel. Ich schaff’ es kaum noch». Bertha strahlte. Gemächlich stiegen die beiden den Hügel hinauf.

Susanne fühlt sich plötzlich erfrischt und engelsgleich, konnte sie doch jemandem helfen!

Zuhause angekommen, fiel es ihr wieder ein: Ihr Plastiksack musste an der Kasse bei Otto’s liegen geblieben sein! Auf dem Kassenzettel stand die Telefonnummer des Ladens und sie rief an: «Ja, da ist eine Tasche mit grünem Pullover und anderen Einkäufen».

Aufatmen. Wieder nahm sie den Bus. Nach einer Stunde konnte sie endlich den Pullover anziehen. Er passte, stand ihr gut. Und er hatte jetzt seine besondere Geschichte!

Schoko-Nussstängeli! Haselnüsse, Kochschokolade, Butter, Eier, Zucker Kakaopulver.PD

Nun wollte sie dem freundlichen Goran bei der Buszentrale zum Dank Guetzli bringen! Auch da mochte sie  Freude bereiten. Eigentlich wollte sie keine Weihnachtsguetzli mehr backen. Zu ermüdend, zu umständlich, für wen auch? Doch nun hatte sie gute Gründe, denn bestimmt würde sich auch Bertha über eine süsse Aufmunterung freuen. Auf einmal waren Verdruss, Lustlosigkeit und Müdigkeit verflogen!

Hatte sie nicht im Internet ein gluschtiges Rezept gesehen? Schoko-Nussstängeli! Haselnüsse, Kochschokolade, Butter, Eier, Zucker Kakaopulver – das alles hatte sie ja vorrätig. Zubereitungszeit etwa 30 Minuten. Backzeit 8 bis 12 Minuten.

Bald durchzog ein weihnachtlicher Duft die ganze Wohnung. Susanne zündete eine Kerze an und schleckte die Teigschüssel aus.

Da kam ihr ein Spruch von Goethe aus ihrem Poesie-Album in den Sinn:

Willst Du glücklich sein im Leben,
Trage bei zu and’rer Glück,
Denn die Freude, die wir geben,
Kehrt ins eig’ne Herz zurück.

Das durfte sie nun selbst erfahren. Neue Kraft und Freude erwachten in ihr. Ja, es beflügelte sie, darüber nachzudenken, wem sie sonst noch Guetzli schenken könnte. Schnell noch am Computer die Etiketten für die Guetzli-Säcke schreiben.

Schon früh am nächsten Morgen fuhr Susanne in die Bus-Zentrale, um dem netten Goran das Dankeschön zu überbringen. Wie freute er sich! Das komme nicht alle Tage vor, es sei eine tolle Ermutigung und der Aufsteller des Tages.

Sie durfte noch eine Weile bleiben und dem lebhaften Betrieb zusehen. Zwischendurch erklärte er ihr, was alles so läuft in der Zentrale und was die Fahrer unterwegs erlebten. Manchmal gebe es Pannen, Staus, Verspätungen. Da sei man stets gefordert.

Glücklich fuhr Susanne nachhause. Wieder war sie von Freude erfüllt, denn auch sie selbst wurde damit beschenkt.

Ist das nicht auch ein wichtiger Teil von Weihnachten: Freude bereiten, Liebe verschenken, an andere Menschen denken, Leid mindern?

Auf einmal kam wieder diese echte «Weihnachtsstimmung» auf, die Susanne seit der schweren Erkrankung ihres Mannes so vermisst hatte. Es war wie ein Erwachen aus der Erstarrung des eigenen Leides. Sich anderen Menschen hinzuwenden beglückte sie und liess sie erkennen, dass es immer wieder kleine Freuden zu erleben gibt, wenn wir selbst Freude verschenken.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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