Von gutaltern.ch, eine Initiative der Paul Schiller Stiftung
Spielt es bei der Abklärung des Unterstützungsbedarfs eine Rolle, ob die Beeinträchtigung von einer Behinderung oder vom Alter herrührt? Und kann die Altersbetreuung von den Erfahrungen mit Abklärungen im Behindertenbereich lernen?
Gute Abklärung zeichnet sich dadurch aus, dass ein Dialog auf Augenhöhe stattfindet, ein breiter Blick sämtliche Lebensfelder – auch psychosoziale Faktoren – berücksichtigt sowie Ressourcen erkannt, aktiviert und gefördert werden. Dies hat die Paul Schiller Stiftung in ihrem im Winter veröffentlichten Impulspapier 2 zur Abklärung ausgeführt. Und das ist auch die Herangehensweise der individuellen Hilfeplanung IHP, eines Abklärungsprozesses im Behindertenbereich.
Individuelle Hilfeplanung
Bei der individuellen Hilfeplanung (IHP) werden gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen ihre aktuellen Wünsche, Zukunftsperspektiven und Unterstützungsbedarfe ermittelt und Unterstützungsleistungen vereinbart.
Michael von der Decken, der beim Kanton Bern für solche Abklärungen zuständig ist, reflektiert im Gespräch, was wir für den Altersbereich aus diesen Tools und Erfahrungen lernen können.
Herr von der Decken, Sie arbeiten im Behindertenbereich und realisieren dort mit der individuellen Hilfeplanung eine neue Art der Abklärung. Was unterscheidet dieses Vorgehen von anderen Prozessen und Tools?
Michael von der Decken: Bei einer Abklärung des Unterstützungsbedarfs gibt es zwei Herangehensweisen. Bei der aufwandsbezogenen Herangehensweise schaut man, was gemacht wird und schließt dann indirekt auf den Bedarf. Dem gegenüber steht die zustandsbezogene Herangehensweise, die wir in der individuellen Hilfeplanung nutzen.
Zuerst wird nicht die Frage gestellt »Was wird gemacht?« sondern »Was wird gebraucht?«. Wir starten mit der Frage an den Menschen, was seine individuellen Ziele in seiner Lebenssituation sind. Denn das ist der Referenzpunkt für die ganze Bedarfsermittlung.
Mit welchen konkreten Fragen eruieren Sie bei diesem Instrument den Betreuungsbedarf?
Der Einstiegspunkt in den Dialog ist die Frage: «Wie wollen Sie zukünftig leben?» Dabei geht es um Unterstützung in der Selbstsorge, ums Wohnen, um Arbeit und Bildung, soziale Beziehungen, Alltags- und Freizeitgestaltung, Gesundheit und Wohlbefinden.
Als zweites schaut man, wie lebt jemand jetzt. Wie steht es um die sozialen Beziehungen, wie sieht der Alltag aus, wie ist die Haushaltssituation, die Gesundheit usw. Davon ausgehend machen wir mit den Betroffenen Handlungsziele ab.
Mit der Verwirklichung dieser Handlungsziele kann sich der Mensch den Zukunftsperspektiven, die er formuliert hat, annähern. Und sie stellen die Verbindung her zu den Leistungen; sie zeigen, welche Unterstützung es braucht.
Zur Person
Michael von der Decken, 47, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kanton Berns. Als Teilprojektleiter IHP-Bedarfsermittlungsinstrument hat er fast täglich mit dem Thema Ermittlung des Unterstützungsbedarfs von Menschen mit Behinderungen zu tun.
Es gibt keinen vorgegebenen Frageraster. Die konkreten, vertiefenden Fragen hängen immer von der Bedarfslage des Menschen ab. Diese kann man den fünf Hauptthemen zuordnen, die das IHP-Formular vorgibt, mit dem wir arbeiten. Diese fünf Hauptthemen lassen sich mit den Handlungsfeldern guter Betreuung im Alter vergleichen.
Wie sieht das Resultat der Abklärung aus?
Wenn wir das Gespräch geführt und der erwähnte IHP-Bogen vollständig ausgefüllt haben, dann ist ersichtlich, welche Ziele angestrebt werden und welche Leistungen es dafür braucht. Daraus werden Maßnahmenbündel bestimmt und mit Zeit quantifiziert. Das Ergebnis des Verfahrens ist eine Anzahl Leistungsstunden, die eine Person erhält.
Könnte man Instrumente und Erfahrungen aus dem Behindertenbereich auch für die Betreuung im Alter nutzen?
Auf jeden Fall. Etwa ein ICF-basiertes Bedarfsermittlungsinstrument1, das auf offene, dialogische Art und Weise im Miteinander die Bedarfslagen von Menschen im Alter beschreibt und die dafür benötigten Leistungen quantifiziert.
Welche Kompetenzen bringen die Menschen mit, die dieses Instrument anwenden?
Wer ein solches Gespräch führt, muss über eine einschlägige Fachausbildung oder höhere Berufsbildung verfügen. Es sind Berufsleute aus der psychosozialen Arbeit mit Erfahrung im Gesundheits- und Sozialbereich. Empfehlenswert sind zudem Techniken und Kompetenzen zur Gesprächsführung sowie ein systemisches Grundverständnis. Und die Fachperson muss fähig sein, das Ganze für Außenstehende verständlich aufzuschreiben.