«Digitale Angebote werden immer wichtiger, weil sie niederschwellig, orts- und zeitunabhängig sind«, sagt die Online-Beraterin und Demenz-Expertin Dr. Sarah Straub.
Bild Stefan Loeffler
Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen haben viele Fragen. Deshalb gibt es nun die Online-Sprechstunde »Frag nach Demenz«.
Die Online-Demenzsprechstunde kann jeder nutzen, der Fragen rund um das Thema Demenz hat. Eine erste Orientierung gibt das Infoportal www.frag-nach-demenz.de zu allen zentralen Themen, die Angehörige umtreiben. Für individuelle Fragen steht ein interdisziplinäres Experten-Team bereit. Zur Kontaktaufnahme gibt es zwei Möglichkeiten:
Mailberatung: Ratsuchende richten ihr Anliegen schriftlich an das Experten-Team der Online-Demenzsprechstunde. Die Frage wird innerhalb von 48 Stunden beantwortet.
Chatberatung: Im Live-Chat können Fragen und Anliegen im direkten schriftlichen Austausch mit einer Expertin oder einem Experten geklärt werden. Hierfür buchen Ratsuchende einen Termin über die Website. Die Live-Chat-Termine werden bewusst am Abend und am Wochenende angeboten, damit auch Berufstätige das Angebot nutzen können.
Die Expert*innen: Das interdisziplinäre Experten-Team besteht aus Psycholog:innen, Medizinern der Fachbereiche Neuropsychologie, Gerontologie und Neurologie, sowie Sozialberater:innen.
Alle Expert:innen haben langjährige Erfahrung im Bereich Demenz und sind zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Das Team wird geleitet von Dr. Sarah Straub. Sie ist promovierte Neuropsychologin, forscht am Universitätsklinikum Ulm zum Thema Demenz und leitet eine Spezialsprechstunde für Frontotemporale Demenz. Die 37-Jährige ist erfolgreiche Buchautorin und Liedermacherin. Sie macht sich dafür stark, Demenzerkrankungen zu enttabuisieren und gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Demenz zu ermöglichen. Als offizielle Botschafterin für die Online-Demenzsprechstunde trägt sie das Angebot verstärkt in die Öffentlichkeit.
Die Macher: Die Online-Demenzsprechstunde wurde von der Münchner Organisation Desideria Care initiiert. Sie wird gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände in Bayern (soziale Pflegekassen) und die private Pflegepflichtversicherung.
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Zum neuen Angebot führte Desideria Care ein Interview mit Sarah Straub, die das Expertenteam leitet:
Desideria Care: Was sind die drängendsten Themen, die Angehörige von Menschen mit Demenz gerade in der Anfangsphase vor beziehungsweise frisch nach der Diagnose besonders umtreiben?
Sarah Straub: Wenn ein Angehöriger kognitive Beeinträchtigungen entwickelt, stellt sich die Familie natürlich erst einmal die Frage, ab wann solche Veränderungen nicht mehr Teil eines normalen Alterungsprozesses sind und ein Gang zum Arzt nötig wird. Schon hier kann in Familien großes Konfliktpotential entstehen, weil die Betroffenen selbst diese Veränderungen häufig sehr schambesetzt erleben oder sie erstmal negieren.
Viele Angehörige wissen auch gar nicht, welcher Arzt der richtige Ansprechpartner ist, wo eine differenzierte Demenzabklärung stattfindet oder was diese überhaupt bedeutet.
Wird eine Demenzdiagnose dann tatsächlich gestellt, stehen die Angehörigen von Menschen mit Demenz erst recht vor vielen offenen Fragen: Wie geht es weiter, wie schnell oder langsam wird die Erkrankung fortschreiten? Was müssen wir regeln, was kommt auf uns zu? Wo bekommen wir Hilfe? Eine Demenzdiagnose verändert nicht nur das Leben des oder der Betroffenen, sondern das aller nahestehenden Personen. Um das Familienleben mit der Diagnose so gut wie möglich zu gestalten, ist es essenziell, dass sich die Angehörigen erst einmal Wissen über die Erkrankung aneignen und Unterstützungsmöglichkeiten ausloten.
Welche Herausforderungen kommen im Laufe der jahrelangen Begleitung eines Familienmitglieds auf die Angehörigen zu?
Primäre Demenzerkrankungen sind sehr dynamisch, denn sie schreiten fort und werden von immer wieder neuen Symptomen begleitet. Die Familien müssen sich ständig auf neue Situationen einstellen, mit neuen Symptomen zurechtkommen, die schwindenden Alltagskompetenzen der Betroffenen kompensieren. Die Betreuung und Pflege des oder der Erkrankten ist mit immer größerem Zeitaufwand verbunden, pflegende Angehörige müssen daher für ihr eigenes Leben viele Kompromisse eingehen. Daneben können auch bürokratische Hürden für Unterstützungsleistungen an den eigenen Kräften zehren.
demenzwiki
Resilienz
Manche Menschen sind widerstandsfähiger gegen Demenz als andere. Resilienz spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie für Angehörige und Pflegende. weiterlesen
Und irgendwann werden die pflegenden Angehörigen vielleicht sogar das Gefühl haben, die häusliche Pflege nicht mehr gewährleisten zu können.
Die Frage nach einer Heimunterbringung ist dann oft schmerzhaft und verursacht schlechtes Gewissen.
Grundsätzlich gilt: Die Herausforderungen und Probleme der Familien sind sehr individuell und sowohl von den bestehenden Symptomen als auch den Lebensumständen der betroffenen Person abhängig. Unsere Aufgabe als Teil des Versorgungssystems ist es, auf jeden Menschen und dessen Situation individuell einzugehen und passgenaue Lösungen zu suchen. Das ist mein Anspruch.
Worauf sind Angehörige nicht vorbereitet?
Es gibt unzählige Situationen, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Egal, wie gut man sich in die Thematik eingelesen hat oder sich hat beraten lassen: Man weiß erst, was ein Leben mit Demenz bedeutet, wenn man es selbst erlebt. Daher ist es umso wichtiger, sich frühzeitig Hilfe zu suchen, um nicht in eine Situation der Überforderung und Überlastung zu geraten.
Wo können sich Angehörige informieren, sich über die Erkrankung Wissen aneignen oder auch Hilfe für den Alltag und die Bewältigung bekommen?
In Deutschland gibt es viele engagierte Menschen und Institutionen, welche sich um Menschen mit Demenz und pflegende Angehörige bemühen. Gebündelt werden diese Angebote z.B. im Rahmen der bayerischen Demenzstrategie: Sie hat das Ziel, die Bevölkerung für das Thema Demenz zu sensibilisieren, die Lebensbedingungen von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen sowie deren Teilhabemöglichkeiten zu verbessern. Zudem gibt es in jeder Region lokale Angebote von unterschiedlichen Trägern, die Vortragsreihen, Schulungen und Beratungen anbieten.
Auch digitale Angebote werden immer wichtiger: Sie sind besonderes niederschwellig, da sie orts- und zeitunabhängig in Anspruch genommen werden können.
Deshalb engagiere ich mich in der Online-Demenzsprechstunde »Frag nach Demenz«. Hier können Angehörige und andere nahestehende Personen per Mail und Chat Fragen zu ihrer individuellen Situation stellen und bekommen von einem interdisziplinären Team maßgeschneiderte Antworten.
Quelle Desideria Care/YouTube
Was ist das Besondere an diesem Angebot?
Unsere Online-Demenzsprechstunde soll für Angehörige von Menschen mit Demenz wie ein Leuchtturm in akuter Not sein. Ratsuchende, die sich überfordert oder hilflos fühlen, können sich Tag und Nacht bei uns melden und bekommen zeitnah und von ausgewiesenen Demenzexperten Rückmeldung. Das Team ist gezielt darauf geschult, auch Menschen ohne Wissen über das Thema Demenz »abzuholen« und sie an die Hand zu nehmen. Sie helfen den Ratsuchenden, an die bestehenden Versorgungsstrukturen in der jeweiligen Region anzudocken, damit sie heimatnah die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Somit ergänzt unsere Online-Demenzsprechstunde optimal bestehende Versorgungsangebote.
Was brauchen Angehörige? Wie können wir ihnen als Gesellschaft helfen?
Angehörige brauchen Anlaufstellen, um sich Hilfe holen zu können. Diese Hilfe muss so niederschwellig wie möglich sein, damit die Familien nicht noch Kraft aufwenden müssen, um überhaupt jemanden zu finden, der sich ihrer annimmt.
Gesamtgesellschaftlich ist es wichtig, der »Care-Arbeit« mehr Anerkennung zukommen zu lassen.
Es ist enorm, was pflegende Angehörige leisten und sie haben in unserer Gesellschaft leider viel zu oft kaum eine Stimme.
Wie können sich Angehörige selbst helfen?
Angehörige können sich zum Beispiel über Selbsthilfegruppen vernetzen. Wer mit einem Menschen mit Demenz zusammenlebt, wird zwangsläufig zum Experten für die Erkrankung. Dieses Wissen an andere Angehörige weiterzugeben oder umgekehrt sich von anderen Angehörigen Hilfe und Tipps für den Alltag zu holen, wird stets als sehr hilfreich empfunden. Ich würde jedem/r Angehörigen empfehlen, solche Selbsthilfeangebote wahrzunehmen. Auch ein offener Umgang im eigenen Freundes-, Kollegen- und Bekanntenkreis ist hilfreich.
Die Angehörigen sollten versuchen, andere nahestehende Personen mit einzubeziehen, so dass erst gar keine Vorbehalte und Ängste aufgebaut werden können. So wird gewährleistet, dass die Betroffenen weiterhin Freundschaften pflegen können und gemeinsame Freizeitaktivitäten möglich sind. Das entlastet pflegende Angehörige und ermöglicht ihnen Zeiten zum »Durchatmen« und zur Selbstfürsorge. Familienmitglieder von Menschen mit Demenz sind häufig in Gefahr, sich zu überlasten und zu überfordern. Um gesund zu bleiben, sind Freiräume im Pflege- und Betreuungsalltag wichtig.
Dossier: Zu Hause
Die meisten Menschen mit Demenz leben zu Hause. Ihre Betreuung und Pflege erfordert Empathie, Zeit, Wissen und ein intaktes Netzwerk. In diesem Dossier finden Sie hilfreiche und spannende Beiträge zur Pflege zu Hause.
Was wünschen Sie sich in Bezug auf Demenz und die Situation der pflegenden Angehörigen?
Ich wünsche mir einen offeneren gesamtgesellschaftlichen Umgang mit Demenz. Es kann jeden von uns treffen, also dürfen wir nicht die Augen davor verschließen. Niemand sollte sich schämen müssen, wenn er kognitive Beeinträchtigungen hat. Vielmehr sollte es selbstverständlich sein, dass man mit einer Demenzdiagnose trotzdem noch am sozialen Leben teilhaben kann.
Für die Situation der pflegenden Angehörigen wünsche ich mir ein größeres Verständnis für individuelle Probleme, die dann eben auch individuelle Lösungen erfordern. Trotz gut ausgebauter Versorgungsstrukturen fühlen sich viele Familien allein gelassen – wir können nicht grundsätzlich erwarten, dass akut belastete Angehörige die Zeit, Kraft und Weitsicht aufbringen, sich selbst ein optimales Unterstützungsnetzwerk für den oder die Betroffene aufzubauen. Viele Familien müssen an die Hand genommen werden, um sich im Behörden- und Antragsdschungel zu Recht zu finden.
Dr. Sarah Straub ist promovierte Neuropsychologin und forscht am Universitätsklinikum Ulm über Demenz. Als Leiterin einer Spezialsprechstunde für Patient:innen mit Frontotemporaler Demenz begleitet die 37-Jährige seit über zehn Jahren betroffene Familien durch die Erkrankung. Im Herbst 2021 hat sie den Demenz-Ratgeber »Wie meine Großmutter ihr ICH verlor« veröffentlicht. 2022 folgte das an pflegende Angehörige gerichtete Kochbuch »Wohlfühlküche bei Demenz«. Als Demenzexpertin ist sie ein beliebter Talkgast in unterschiedlichen Radio- und Fernsehformaten, hält Vorträge und unterrichtet an der Universität Ulm. Als Liedermacherin und Sängerin klärt sie bei ihren Konzertveranstaltungen über das Thema auf, um die Krankheit zu enttabuisieren und Mut zu machen, offen und ohne Scham mit Demenz umzugehen. Seit Ende 2023 leitet sie das interdisziplinäre Experten-Team der Online-Demenzsprechstunde »Frag nach Demenz« und ist zudem offizielle Botschafterin. In der kostenfreien Mail- und Chatberatung erhalten Menschen, die direkt oder indirekt von Demenz betroffen sind, anonym, schnell und individuell Antworten auf ihre Fragen. Ins Leben gerufen wurde das Angebot von der gemeinnützigen Organisation Desideria. Die Online-Demenzsprechstunde startet als Modellprojekt, das für drei Jahre aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege sowie durch die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände in Bayern (soziale Pflegekassen) und durch die private Pflegepflichtversicherung gefördert wird.
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