Von Nils Dahl
Ein Grund hierfür liegt unter anderem darin, dass die Einsamkeitsdebatte in Japan in grossen Teilen um das Wort kodokushi («einsamer Tod») geführt wird. Das Wort beschreibt die Tode zumeist alleinlebender Personen, deren Leichen erst nach einigen Tagen, Wochen oder gar Monaten entdeckt werden.
Durch den Fokus auf kodokushi wird der Anstieg einer kulturell und sozial unerwünschten Todesform als Gradmesser für fortschreitende Vereinsamungstendenzen innerhalb der Gesellschaft herangezogen.
Dies ist insofern verwunderlich, da bekannte soziologische Theorien für unsere (post-)modernen Gesellschaften eigentlich einen Trend zu einer Medikalisierung oder Tabuisierung des Todes – und damit zu einem Herausdrängen des Todes aus dem öffentlichen Leben an die gesellschaftlichen Ränder – postuliert haben.
Hintergrund
Im Hintergrund der Debatte um Japans «einsame Tode» steht die rapide Alterung der japanischen Gesellschaft. Aufgrund der sehr hohen Lebenserwartung und der konstant niedrigen Geburtenrate war im Jahr 2017 mehr als ein Viertel der Bevölkerung über 65 Jahre alt.
Gleichzeitig durchlaufen die Familienzusammensetzungen einen drastischen Wandel. Zum Beispiel ist die Zahl alleinlebender über 65-jähriger Menschen von 10,7 Prozent im Jahr 1980 auf 27,1 Prozent im Jahr 2016 gestiegen. Im selben Zeitraum ist der Anteil von 3-Generationen-Haushalten von rund 50 Prozent auf 11 Prozent gefallen.
Bereits dieser kleine Ausschnitt an statistischen Daten legt nahe, dass sich diese Veränderungen auch auf den Bereich der Pflege und Betreuung von älteren Menschen auswirken.
Hier ist jedoch zu beachten, dass insbesondere die nordeuropäischen Gesellschaften noch höhere Grade der Singularisierung vorweisen, das Thema Einsamkeit in Japan aber dennoch eine enorme Dynamik entwickeln konnte.
Ein Grund für diesen Unterschied liegt sicher in der Geschwindigkeit des Wandlungsprozesses der japanischen Gesellschaft.
Von der Phase des hohen Wirtschaftswachstums in den 1960er und 1970er-Jahren bis zu den Rezessionsjahren ab den frühen 1990er-Jahren verbreiteten viele mediale und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen ein Bild Japans als harmonische Mittelschichtsgesellschaft.
Nils Dahl
Dr. Nils Dahl studierte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf die Fächer Modernes Japan und Kommunikations- und Medienwissenschaften. Er promovierte am Graduiertenkolleg «Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis» an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Dissertation zu Japans einsamen Toden (kodukushi) ist 2016 im Transcript Verlag erschienen. Kontakt: dahl@phil.hhu.de
Eine bedeutsame Mehrheit der Japaner definierte sich damals als Teil einer breiten Mittelschicht – ein sozialer Konsens, der auf zahlreichen, teils voneinander abhängigen Faktoren beruhte.
Zu diesem Idealbild gehörten unter anderem ein stabiler Arbeitsmarkt, die damit zusammenhängende finanzielle Sicherheit sowie die Verbreitung einer Konsumkultur, die westlich geprägte Lebensstile und klare Rollenbilder für Männer und Frauen umfasste.
Ab den 1990er-Jahren brach dieses idealisierte Modell auch vor dem Hintergrund zunehmender wirtschaftlicher Schwierigkeiten immer mehr auf. Statt Harmonie und Stabilität wurden vermehrt Begriffe wie Krise, Ungleichheit oder Hoffnungslosigkeit herangezogen, um den Zustand der japanischen Gesellschaft zu beschreiben.
Die US-amerikanische Kulturanthropologin Anne Allison nennt diesen Übergang «from lifelong to liquid Japan» – von der Stabilität zur Unsicherheit. Eine bekannte Dokumentation des öffentlich-rechtlichen Rundfunksender NHK aus dem Jahr 2010 bezeichnete Japan in dieser Hinsicht als muenshakai, als «Gesellschaft ohne soziale Bindungen».
Immer mehr Japaner lebten demzufolge isoliert – durch Schicksalsschläge in ihren Biografien, durch zerrüttete Familienverhältnisse oder auch aufgrund der Angst, andere um Hilfe zu bitten. Dieser Zusammenhang zeige sich dabei besonders deutlich in der wachsenden Zahl an unentdeckten und unbegleiteten Toden.
Der einsame Tod wird dabei als kulturell unerwünschte Todesform dargestellt, was auch in Papieren der japanischen Regierung explizit bestätigt wird.
Das fehlende mitori erschwere nicht nur den gelungenen Übergang für die Sterbenden, sondern könne auch negative Konsequenzen für die überlebenden Angehörigen haben. Zudem wird an vielen Stellen darauf hingewiesen, dass einsame Tode zusätzliche Kosten verursachten. Hierunter fallen z.B. Bestattungskosten oder Kosten für die Säuberung von verunreinigten Wohnungen, die von Angehörigen oder den Kommunen übernommen werden müssen.
Gegenmassnahmen
Lokale Projekte gegen den weiteren Anstieg der Zahl an einsamen Toden setzen häufig bei den vermuteten Ursachen für die soziale Desintegration von vereinsamt lebenden Menschen an. Ein im Rahmen meines Dissertationsprojekts (Dahl 2016) besuchtes Projekt im Tokioter Grossraum führte in dieser Hinsicht ein dreigliedriges Massnahmenpaket durch:
- Zunächst versuchten die Beteiligten über Informationsveranstaltungen und eigene Veröffentlichungen das lokale Problembewusstsein gegenüber dem Thema Vereinsamung zu steigern. Hierzu wurde auch dokumentiert, welche persönlichen Hintergründe zu aufgefundenen einsamen Toden führten und ob sich daraus verallgemeinernde Schlussfolgerungen ziehen lassen konnten (z.B. persönliche Schicksalsschläge, Armut, Alkoholismus, Messie-Syndrom usw.).
- Zweitens bieten niedrigschwellige Angebote wie ein Altencafé oder mehrere Veranstaltungsreihen Möglichkeiten, Anschluss zu finden und am sozialen Leben teilzuhaben. Zu diesen präventiven Massnahmen gehört auch das Bewerben eines Mentalitätswandels über zahlreiche Schilder an den Strassenrändern der Nachbarschaft. Diese fordern beispielsweise zum gegenseitigen Grüssen auf, erinnern an Müllentsorgungsregeln und betonen den Wert von Nachbarschaftshilfe.
- Beteiligte der lokalen Organisationen suchen alleinlebende Bewohner:innen auch direkt auf und fragen, ob es an irgendetwas fehlt. Diese aufsuchende Arbeit stellt gleichzeitig den Übergang zum dritten Massnahmenpaket dar. Nachbarschaftspatrouillen suchen nach Anzeichen für Wohnungsleichen (wie überfüllte Briefkästen o.ä.), um diese möglichst frühzeitig aufzufinden. Hierzu wird auf freiwilliger Basis ein Register von alleinlebenden älteren Menschen erstellt, um eventuelle Risikofälle zu identifizieren.
Fazit
Die zuletzt genannten «überwachenden» Massnahmen wurden sowohl vor Ort als auch in der Literatur durchaus kritisch diskutiert, da sie einem allzu starken Eingriff in die Privatsphäre der Bewohnerschaft darstellen können.
Insbesondere ältere Menschen, die kein Interesse an der Arbeit des Projekts zeigen, können sich unter Druck gesetzt oder sozial marginalisiert fühlen.
In diesem Zusammenhang vermischte sich jedoch, welche Ideen aus der Bewohnerschaft selbst herausgetragen wurden und welche Massnahmen von den verschiedenen staatlichen Verwaltungsebenen im Sinne einer aktivierenden Sozialpolitik initiiert wurden. Ein solches Ineinanderlaufen von Massnahmen ist jedoch nicht unbedingt etwas Schlechtes.
Von Nachteil kann es jedoch sein, falls sich lokale Doppelstrukturen – wie zum Beispiel nicht aufeinander abgestimmte Beratungsangebote – herausbilden würden, was die Situation hilfsbedürftiger älterer Menschen verkomplizieren könnte.