«Ich möchte beim Finale auf der Bühne stehen» - demenzjournal.com

Die letzte Reise

«Ich möchte beim Finale auf der Bühne stehen»

«Wenn man dem Menschen auch am Schluss die Autonomie lässt, die er sich wünscht, wird es leichter», sagt Jörg Fuhrmann. Mara Truog

Jörg Fuhrmann begleitete als Klosterbruder und Pfleger viele sterbende Menschen auf ihrem letzten Weg. Ende Juni vermittelt er sein Wissen in einem zweitägigen Kurs von Sonnweid Campus. alzheimer.ch sprach mit ihm über Ängste, Unsterblichkeit und Gräber.

Die Tagebücher von Max Frisch enthalten neben biografischen Episoden viele inspirierende Gedanken zu Politik, Philosophie und zum Menschsein im Allgemeinen.

Sie enthalten auch viele Fragen, dessen Beantwortung dem Leser einiges abverlangen. Zu Frischs letzten Aufzeichnungen gehört ein grösserer Fragebogen über den Tod und das Sterben. Wir haben diese Fragen dem Krankenpfleger und Theologen Jörg Fuhrmann gestellt. 

Herr Fuhrmann, haben Sie Angst vor dem Tod und seit welchem Lebensjahr?

Jörg Fuhrmann: Ich bin mit dem Tod gross geworden. Meine Mutter pflegte meine Grosseltern bei uns zu Hause, dadurch war das Sterben präsent. Meine Oma war mein erstes Vorbild von Sterbenden. Sie hat ihr Krebsleiden und ihre Schmerzen ertragen und war für uns Kinder da.

Die Liebe meiner Oma zu uns war grösser als ihr Sterbewunsch.

Im Laufe meiner Jugend sah ich Unfallopfer und ich fragte mich, ob das Sterben endgültig sei – ohne mich davor zu fürchten. Als ich mit 22 Jahren ins Kloster kam, machte ich mir Gedanken über den Tod, die ich aber immer wieder verdrängte.

In der Pflege ist das Thema wieder aktuell geworden. Die Angst vor dem Tod genommen hat mir eine Patientin im Salzburger Sterbehospiz. Sie sagte: «Pflegen Sie nicht meine Wunde, sondern mich als Menschen.» Mit ihr hatte ich viele Gespräche. Ich war sehr beeindruckt, wie natürlich sie mit dem Tod umgegangen ist. 

Was tun Sie gegen die Angst vor dem Tod?

Diese Patientin hat mich an der Hand genommen und mir gezeigt, dass der Tod nichts Schlimmes ist. In ihrer Haltung sah ich viel Hoffnung. Diese Hoffnung versuche ich in meiner Arbeit in der Pflege zu leben. Man muss das lernen. Ich hatte Gott sei Dank diese Lehrerin.

Jörg Fuhrmann.

Möchten Sie unsterblich sein?

Nein, weil ich interessiert bin an dem, was nach dem Tod kommt. Der Theologe Paul Zulehner sagte: «Jeder hat das Recht, einen eigenen Tod zu haben.»

Haben Sie schon einmal gemeint, dass Sie sterben? Was ist Ihnen dabei eingefallen?

Ich hatte nie einen Moment, in dem ich glaubte zu sterben. Ich bin jetzt 50 und war noch nie im Krankenhaus.

Haben Sie eine Ahnung, was Ihnen kurz vor dem Ende einfallen wird?

Mich beschäftigt ab und zu, ob ich dann Rechenschaft ablegen muss, weil in meinem Leben nicht alles gut und richtig war. Ein Patient sagte mir: «Am Ende gibt es keine Abrechnung. Es gibt nur die Frage: War das dein Leben? Wenn du ‹ja› sagen kannst, dann ist alles gut.» Von sterbenden Menschen bekomme ich immer wieder Impulse, die mir die Angst nehmen.

Krankenpfleger, Theologe und Sterbebegleiter

Jörg Fuhrmann wuchs im Westerwald bei Köln auf, er ist Krankenpfleger und Theologe. Von 1994 bis 2000 lebte er als Frater Franziskus in einem niederösterreichischen Kloster. Dort kümmerte er sich unter anderem um die älteren Klosterbrüder, zwei von ihnen begleitete er am Sterbebett. Als Pfleger, Stationsleiter und Heimleiter sammelte er viele Erfahrungen mit Sterben, Tod und Trauer. Fuhrman vermittelt sein Wissen in Seminaren, Vorträgen, Workshops, Begleitungen und Interventionen.

→ Hier geht’s zu Jörg Fuhrmanns Website

Wenn wieder ein Bekannter gestorben ist: Überrascht es Sie, wie selbstverständlich es Ihnen ist, dass die anderen sterben? Und wenn nicht: Haben Sie dann das Gefühl, dass er Ihnen etwas voraus hat, oder fühlen Sie sich überlegen?

Überlegen fühle ich mich nicht, sondern beschenkt. Ein Nachbar ist vorgestern nach einer Radtour an einem Herzversagen verstorben. Am Tag zuvor hatte er noch in unseren Kinderwagen geschaut und sich an unserer Tochter erfreut. Das machte mir einmal mehr klar, dass es ein Geschenk ist, wenn man Zeit hat. Wir alle sollten lernen, diese Zeit zu nutzen. Es ist ein grosses Geschenk, wenn man überlebt.

Möchten Sie wissen, wie sterben ist?

Ich möchte es nicht wissen. Ich werde oft gefragt: «Wie funktioniert sterben?». Wenn ich es wüsste, würde ich diesen besonderen Effekt verlieren. Bis jetzt hatte ich keine negativen Erlebnisse mit dem Sterben, und ich möchte dieses Gefühl einmal selber erleben können.

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Wem gönnen Sie manchmal Ihren eigenen Tod?

Niemandem.

Wenn Sie gerade keine Angst haben vor dem Sterben: Weil Ihnen dieses Leben gerade lästig ist oder weil Sie gerade den Augenblick geniessen?

Weil ich den Augenblick geniesse. Seit der Geburt meiner Tochter in diesem Frühjahr geniesse ich jetzt sehr viele Augenblicke noch bewusster. Diese Augenblicke werden nie mehr zurückkommen.

Was stört Sie an Begräbnissen?

Beschönigungen. Wenn zum Beispiel ein Leben, das nicht schön war, schön dargestellt wird. Ich finde, jeder hat das Recht, dass man ihn und sein Leben authentisch darstellt, ohne dass es gewertet wird. Am Grab sollte man nicht lügen.

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Haben Sie Freunde unter den Toten?

Viele! Viele Vorbilder, Patienten, die ich mochte – Familienangehörige, Freunde, Wegbegleiter … Ich besuche immer wieder ihre Gräber. Gestern war ich am Grab eines ehemaligen Vorgesetzten. Ich sagte spontan: «Du hast es gut jetzt!» Ich merke in solchen Momenten, dass ich viel Ballast habe. Ich muss Dinge besorgen, Sachen tun – und ich denke dann, der Verstorbene muss das alles nicht mehr. 

Haben Sie schon Tote geküsst?

Ja, ganz viele. Wenn ich beim Sterben dabei war, gebe ich dem Verstorbenen jeweils ein kleines Taukreuz von Franz Assisi mit. Das ist mir ein besonderes Anliegen, weil ich mit Franz von Assisi eng verbunden bin.

Ich versuche immer, die Hand oder die Stirn des Verstorbenen zu küssen und mich rituell zu verabschieden. Das mache ich als Zeichen der Verbundenheit und der Dankbarkeit.

Möchten Sie lieber bei Bewusstsein sterben oder überrascht werden von einem fallenden Ziegel oder einem Herzschlag, von einer Explosion usw.?

(Lacht). Ich möchte es gerne miterleben! Karl Valentin sagte: «Ich hab mich immer vor dem Tod gefürchtet, und jetzt das!». Ich habe schriftlich festgehalten, dass ich medizinisch nicht so stark behandelt werden will, dass ich es nicht erleben kann. Der Tod ist ja der Höhepunkt des irdischen Lebens. Ich möchte beim Finale auf den Bühne stehen!

Wissen Sie, wo Sie begraben sein möchten?

Eigentlich möchte ich bei meinen Eltern begraben werden. Aber ich habe beschlossen, dass ich es meiner Frau überlassen werde, weil ich im Grab einmal mit meiner Frau zusammenkommen möchte.

Ab und zu fragt mich meine Frau beim Frühstück: «Ich weiss gar nicht, wo ich dich einmal hinlegen soll.»

Ich sage dann: «Du wirst dann schon wissen, wo ein gutes Platzerl ist für mich.» Ich finde, der Platz wo man begraben wird, ist wichtig. Das lernte ich von Franz von Assisi. Der liegt auch nicht da, wo er gerne wollte. Er wollte in einer Wiese unterhalb der Portincula-Kapelle begraben werden.

Sie haben das so gemacht, aber später haben sie ihn wieder ausgegraben. Jetzt liegt er eingemauert in der Kirche San Francesco, es gibt da sogar Vorhängeschlösser. Wenn ich dort bin, wird mir bewusst, dass ich nicht eingemauert werden will. Ich möchte von dem Platz auch weggehen können. 

Wenn der Atem aussetzt und der Arzt es bestätigt: Sind Sie sicher, dass man in diesem Augenblick keine Träume mehr hat? 

Nein, ich glaube, Träume kann einem niemand nehmen, auch die Medizin nicht. Ich habe in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz gelernt, dass die Erlebnisfähigkeit der Menschen bleibt. Der grösste Schatz, den wir haben, sind Gedanken, Träume und Erinnerungen. Die kann einem niemand nehmen.

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Wenn Sie an ein Reich der Toten – «Hades» – glauben: Beruhigt Sie die Vorstellung, dass wir uns alle wiedersehen auf Ewigkeit, oder haben Sie deshalb Angst vor dem Tod?

Ein alter Mönch, den ich in den Tod begleiten durfte, sagte: «Wenn ich dann irgendwo hinkomme, möchte ich mich dreimal wundern. Einmal darüber, wer alles da ist, einmal, wer alles nicht da ist und einmal, dass ich selber da bin.»

Es ist eine grosse Herausforderung, so zu leben, dass ein Wiedersehen stimmig sein wird. Mein Glaube und meine Einstellung sagen mir, dass es gut sein wird. Aber ich habe keine Vorstellung von einem Ort, wo ich gewisse Leute wiedersehen werde.

«Es ist wichtig, wo man begraben wird», sagt Jörg Fuhrmann.Véronique Hoegger

Können Sie sich ein leichtes Sterben denken?

Absolut. Wenn man dem Menschen auch am Schluss die Autonomie lässt, die er sich wünscht, wird es leichter. Wenn man die Autonomie am Ende nimmt, egal ob es medizinisch, pflegerisch, therapeutisch oder durch die Angehörigen, dann wird das Sterben sehr schwer.

Wenn ich merke, dass der Mensch nicht mehr essen will, dann akzeptiere ich diesen Wunsch. Ich gebe ihm etwas, wenn er etwas möchte, ich gebe ihm nichts, wenn er nichts möchte, ich fahre ihn auf den Balkon, wenn er auf den Balkon möchte.

Der Mensch braucht ein Gegenüber, das für seine Autonomie sorgt, wenn er es selber nicht mehr schafft. Das macht ihn zufrieden.

Das ist mein persönlicher Eindruck in allen Erfahrungen, die ich gemacht habe. Konrad Adenauer wurde gegen seinen Willen unzählige Male reanimiert, obwohl der liebe Gott ihn gerufen hatte.

Wenn Sie jemanden lieben: Warum möchten Sie nicht der überlebende Teil sein, sondern das Leid den anderen überlassen?

Diese Frage habe ich mir so noch nicht gestellt. Es gibt in meinem Leben einige Menschen, die für mich den Status «Liebe» haben. Ich denke, die Liebe wird bleiben – egal welcher Teil den Tod erleben darf oder soll. 

Wieso weinen die Sterbenden nie?

Sie weinen wenig. Ich sehe schon glasige Augen, Trauer, Ohnmacht, Demut … Das Weinen bleibt meist aus, weil Sterbende eine Hemisphäre erreichen, in der die Tränen nicht mehr viel Bedeutung haben. Es ist eher ein Fallenlassen, das Gefühl, jetzt kann mir nichts mehr passieren.

Es weinen meist die, die am Sterbebett stehen.

Es gibt viele Geschichten dazu: Ein Jude liegt im Sterbebett und fängt an zu lachen. Einer sagt ihm: «Wir stehen hier am deinem Sterbebett, wir weinen und haben den Todesengel gesehen! Warum lachst du?» Der Sterbende antwortet: «Wenn der Todesengel euch so sieht, wird er euch mitnehmen.»

Dieses Gefühl habe ich sehr oft: Die Sterbenden sind meine Therapeuten und trösten mich. Sie nehmen meine Hand und sagen: Weine nicht, freue dich an der Zeit, die du noch hast.

Ein Patient fragte mich: «Was machen Sie denn da?». Ich sagte: «Ich versuche Sie so zu positionieren, dass Sie keine Schmerzen haben.» Er sagte: «Sie haben wirklich Probleme! Ich sterbe und Sie kümmern sich um meine Position!» Ich wusste nicht mehr, wo ich hinschauen sollte. Das alles ist ganz schwer zu vermitteln.

Für die Pflegenden ist es einfacher, den Sterbenden zu positionieren als ihm in die Augen zu schauen.

Genau darum mache ich diese Seminare: Weil ich den Pflegenden sagen will: «Es ist unglaublich bereichernd, wenn du dem Sterbenden in die Augen schaust


Kurs «Die letzte Reise» bei Sonnweid Campus, 27. und 28. Juni 2022, Sonnweid der Campus, Wetzikon, Schweiz. 

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